Friedrich
Muck-Lamberty
Im Kopf die Pläne für eine alternative Handwerkergemeinschaft, findet im Frühsommer 1921 Friedrich Muck-Lamberty nach Naumburg an der Saale. Vor einem Jahr zog er mit der Neuen Schar durchs Thüringer Land. Sie tanzten und spielten unter der Linde in Weidhausen, auf den Arkaden am Schlossplatz in Coburg, den Marktplätzen von Steinach und Jena, unter den Kastanien von Saalfeld, auf dem Anger von Rudolstadt, dem Schulplatz von Gorndorf, in Ranis, bei der Altenburg in Pössneck. Hunderte, manchmal sogar Tausende strömten herbei. Unvergessen das Volksfest mit den Bauern von Schweinitz oder in Gumperda, von Reinstädt und Drösnitz. Und wie glücklich waren sie in Neudietendorf und Wandersleben. So ernst hörten sie Muck predigen, in der Herderkirche von Weimar, Barfüßerkirche Erfurt und Augustiner Kirche zu Gotha. Ohne Hannas Liebe "wäre der Geist nicht über ihn gekommen, ohne sie", erklärt uns Lisa Tetzner, "hätte er nie so in den Kirchen predigen können."
Wo sie auch hinkamen, beobachtete der Erfurter Pfarrer Adam Ritzhaupt, breitete sich eine jauchzende Stimmung und unbeschreibliche Begeisterung aus, " erregten sie zunächst Lachen, Erstaunen, Entrüstung: die Männer mit langen Haaren, kurzen Hosen, Sandalen, bloßen Füßen; die Mädchen in leinenen Kitteln, ebenfalls barfüßig und barhäuptig." Die Kinder kamen zu ihnen gelaufen. Sie spielten und tanzten, bildeten einen Kreis, fassten sich an und sangen Lieder. "Oft haben wir tausende Kinder beisammen (so u.a. in Saalfeld und Rudolstadt)", erzählt Willi Wismann im August 1920 in Junge Menschen (Hamburg). Da "Gibt es da ein Singen und Springen auf dem Anger! Unsere alten Volkslieder und Reigentänze lernen sie von uns, so dass die alten Weisen später aus jedem Haus herausströmen. Dann erzählen wir den Kindern noch Märchen und Sagen, mit denen Sehnsucht wieder in ihr Herz einzieht. Bei den meisten Kindern wird dieses Erlebnis bis ins Alter hinein nachklingen und ihnen Richtung hin auf das Urwüchsige, Gesunde weisen. Von Coburg über Sonneberg her die Neue Schar, als sie am 22. Juni in S t e i n a c h anlandete. Ein "Sieg der Jugend" kommentierte der Thüringer Waldbote. Wenige Tage später begegnete Kunstkritiker Wilhelm Uhde (1847-1947) der Tanz & Spiel-Company auf dem L a u e n s t e i n. Rückblickend lobte er ihren immateriellen Geist und ihre Lebensfreude. Dann, es war der 24. Juli 1920, eroberte die Gruppe J e n a. Wieder begann ein unglaubliches Treiben, woran das Jenaer Volksblatt am 16. Februar 1921 noch mal erinnerte: "Fabriken, Kontore und Geschäfte, ja selbst die Schulen mussten vorzeitig schliessen." In W e i m a r war es nicht viel anders. Über den Einzug der Neuen Schar in die Klassikerstadt kabelte Gisella Selden-Goth an das Neue Wiener Journal: "Ärzte verließen ihre Praxis, Akademiker ihr Studium, Primaner legten den Horaz und die analytische Geometrie aus der Hand, um ihm [Muck-Lamberty] zu folgen, der sie notwendiger brauchte, als die Wissenschaft." Es schien, wie Lisa Tetzner später sagen wird, dass alle Menschen nur darauf gewartet hätten,
Reformpädagoge Wilhelm Flitner (1889-1990), Mitbegründer der Volkshochschule Jena, eine Paradiesschule nannte sie Georg Kötschau (Jena), und Leiter der ersten am 1. April 1919 in Jena eröffneten Abendvolkshochschule, erkennt bei Muck die Bemühungen um ".... Lebensbejahung, Nächstenliebe, Verträglichkeit, Freundschaft, Völkerversöhnung und Frieden auf Erden." (1986, 271) Theodor Plievier (1892-1955), Chronist der Matrosenrevolte von 1918 und Autor des viel gelesenen Romans Stalingrad (1945), besuchte die Neue Schar in E r f u r t. "Er lebte einige Tage mit ihr", erzählt 1965 (126) Harry Wilde, "und aus seinen Worten sprach eine große Sympathie für Muck-Lamberty - trotz aller Verschiedenheit der Wege und der Ausdrucksmittel." Und in Eisenach wollte die Begeisterung der Kinder für die Tanz & Spiel-Company keine Grenzen kennen. "Wo sie tanzen und singen," tat Gustav Schröer am 24. September 1920 in der Eisenacher Zeitung seine Beobachtungen kund, "wo sie sich hernach niedersetzen und ein liebes vertrautes Volkslied singen, wo sie unter sich ernsthafte Fragen behandeln, sich um ein Fähnlein sammeln, anfangen, sich sogar in den Kirchen zu stiller Andacht zusammen zu finden, da ist die `Neue Schar` durchgezogen. Volkstanz und Lied, Ernst und Freude, der Versuch, sich zu wahrhaftem Verstehen, Mensch zu Mensch aufzuschwingen, bezeichnen ihren Weg." Unvergesslich bleibt dem Theologen und Bischof Wilhelm Stählin (1883-1975) die Begegnung mit Friedrich Muck-Lamberty am 30. September 1920 in der Marktkirche von E i s e n a c h. Ihn beeindruckte die
"Es war", erinnert sich der Eisenacher Pfarrer und Theologieprofessor Emil Fuchs (1875-1971) in Mein Leben (1959, 54) an die Begegnung mit der Neuen Schar, "eine ehrliche und grosse Begeisterung." "So haben wir auch miterlebt, wie in Thüringen die Jugendbewegung geradezu eine Art leidenschaftliche Volksbewegung wurde. Ich bin froh, dass ich es erlebte." Eisenach [Bild]
war die letzte Station des Zugs durch Thüringen.
Ende Oktober beziehen sie ihr Winterquartier auf der Leuchtenburg bei Kahla. Begleitet von einem Skandal, müssen sie im Februar `21 ausziehen. Dann wird es stiller - um den Sturmtrupp des Sommers (Lisa Tetzner).
Adam Ritzhaupt skizziert 1921 in der Schrift Die Neue Schar in Thüringen was geschehen war:
Aber war es wirklich des Führers eigene Schuld, wie der Erfurter Pfarrer behauptet? Muck widerspricht ihm heftig und überwirft sich mit dem Verleger der Schrift, Eugen Diederichs in Jena. Seinen Kummer übermittelt er Kurt Kläber (1897-1959) am 24. Juli 1921:
Friedrich Muck-Lamberty ist ein ansehenswerter, junger, sportlicher Mann, 29 Jahre alt, 1,62 Meter gross, mit dunkelblonden Haaren und blauen Augen. Von "mittlerer Grösse", beschreibt ihn Gustav Schröer (1920), "mit einem starken, eigenwilligen Kinn und tiefen Augen." Lisa Tetzner (1923) begegnet ihn auf dem Weg durch Thüringen mit langem zurückgekämmten Haar, um die Schulter einen weiten braunen Mantel und barfuss in Sandalen. In der Gruppe mit lebhafter Gebärde, stechendem Blick und lauten Worten. "Er spricht einfach und wird dazwischen derb, ja witzig, er schleudert seine Worte, von einer inneren Glut gepeitscht, mit Ungestüm." Unliterarisch, aber eindringlich und sanft seine Worte. "Wer ihn einmal erlebt hat, kann ihn schwer vergessen." (Grüsser) "Wenn er spricht, dann reisst er sich die Worte vom Herzen", fiel Gustav Schröer (1920) auf. "Ruckweise spricht er und teilt scharfe Hiebe aus, vergreift sich und erschüttert doch die Menschen, wühlt und schleudert seine abgehackten Fragen und Anklagen wie Brandfackeln unter die Mauern, die ihn umdrängen." Geradezu legendären Ruf geniesst seine Predigt vom 30. September 1920 in der Marktkirche von Eisenach. Ein Teilnehmer, der ihn erlebt, fragt danach: "Was ist es nun, was Muck Lamberty diese Kraft verleiht?" und antwortet: "Es ist die Unbedingtheit, mit der er sich mitten in den Strom des Lebens stellt, der Mut, mit dem er bewusst gegen den Strom schwimmt." Im Umgang mit Höhergestellten produzierte Muck gerne seine Eigenheiten.
redete er unseren verehrten Professor an, "auch die Bürgermeister und Schuldirektoren duzte er; niemand konnte ihn ungut sein ....", erinnert sich Wilhelm Flitner (271) aus Jena. Manchmal gab er den Hitzkopf, fing an zu schwärmen, glitt in politische Poesie ab, haschte ungelenkig nach Begriffen, zog aber auch schnell "Schubladen" auf, um seiner Rede Auftrieb zu verleihen und genoss ihren Widerhall. "Muck, der mit starker Suggestionskraft die Menschen in seinen Bann zu ziehen wusste," imponierte Emil Fuchs (April 1921), "war ganz von grossem Fühlen getrieben." Einen Aufrüttler nannte ihn Professor Johannes Resch (1921). Und es war wohl so, wie am 1. Oktober 1920 die Eisenacher Zeitung schrieb: "Wo er hinkommt, kann Niemand an ihm vorbei, er muss irgendwie zu ihm Stellung nehmen, ob er ihn nun annimmt oder ablehnt." Voller Bewunderung äussert der Pfarrer eines Ortes, irgendwo zwischen Jena und Erfurt gelegen: "Sehen sie, das hat er gefunden, weil er den göttlichen Funken in sich hat, der zünden kann, weil er Sendung hat." (Tetzner 1923, 116) "Der Typ Muck," meint Emil Engelhardt (1921, 4), "ist weder Faust noch Don Juan, sondern eine Mischung der beiden." "Das Größte aber an Muck Lamberty", urteilt Fritz Zögner (1921, 253), "ist seine Bescheidenheit, seine unbegrenzte Liebe zum ganzen Volke und sein unerschütterlicher Glaube an das Gute im Menschen." "Er fühlt sich als Vorarbeiter einer neuen Zeit." (von Stechow)
Die Schar wurde von ihm geführt, wussten alle, "und es wollte scheinen, als sei sie gut geführt. Freilich, wer Muck kannte, wusste, dass sein Blut wallte, das er hitzig war - er hat Temperament sagen die Leute. - Er diente seiner Aufgabe, fing an, seine Fehler einzusehen. Und das machte ihn vielen wieder wert." (Grüsser) Durch Mucks Aufsätze, Aufrufe und Reden von 1919/20 fegen die emotionalen Stürme der Revolutions- und Nachkriesgszeit. Es sind interessante Zeitdokumente, die um Reformen ringen, sensibel die sozialen und kulturellen Fragen speziell der Jugendkultur artikulieren. Vorzugsweise bedient er sich einer deftigen, semantisch prallen Sprache, die bisweilen Gedanken an die Rebellen des Bauernkrieges wachruft. Dabei schöpft er aus seinen Erfahrungen, die er auf Wanderungen gesammelt. In der Jugendbewegung kam er mit vielen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Berührung. Früh lernte er über die politischen Konfrontationslinien hinweg zu balancieren. Er kannte die sozialen Experimente seiner Zeit und wusste um die existenziellen Sorgen des Werkmannes. All dies schärfte seinen sozialen Blick, verlieh den Texten oft eine provokative Note und den Reden enormen Auftrieb. Die Mitglieder der Neuen Schar, die reformfreudige Jugend und nicht wenige Thüringer brachten Muck Sympathie, Achtung und Zuneigung entgegen. Sogleich kam er dadurch immer wieder in Schwierigkeiten. "Tatsächlich steht es so," vermittelt uns 1926 die Sozialreformerin und Pädagogin Eugenie Schwarzwald (1872-1940), "dass es schon in normalen Zeiten unerhört schwer ist, jung zu sein, insbesondere, wenn man begabt und feinfühlig ist."
"Was ist die Neue Schar", forscht die Monatsschrift Freideutsche Jugend (Hamburg) im November 1920 nach und antwortet:
"Ihr Ziel ist Erneuerung unseres ganzen Volkslebens unter Ausschaltung der politischen Fragen" , kündigt die Thüringer Zeitung am 13. August 1920 an, um den deutschen Volk,
unter Ausschaltung der modernen Genüsse [Tabak, Alkohol] ." wieder nahe zu bringen. Im Erlass des sächsischen Innenministeriums vom 8. Dezember 1920 war über Friedrich Muck-Lamberty zu lesen: "Er ging von dem Grundsatz aus, dass die Menschen das Freuen, den Sinn für Einfachheit und Natürlichkeit verloren haben. Er tanzte und sang mit ihnen, um erst einmal die äußeren Gegensätze zu überbrücken." Die Neue Schar fragt: Wie und in welcher Form der Gemeinschaft wollen wir leben? Was sollen, was dürfen wir tun? Sie will ihr Leben in eigener Verantwortung führen und mit Schönheit füllen, erstrebt, was Ferdinand Avenarius 1913 im Kunstwart nach dem Treffen auf dem Hohen Meissner vordachte, " . die Fähigkeit und das Recht, nach der eigenen Überzeugung zu leben". Deshalb spüren sie einen Horror vor der Angepasstheit und Kompromiss. Karl Schäfer wirft Anfang 1921 in die Muck-Debatte ein, sie fühlen, dass ein Zugeständnis sie
Ein hoher Anspruch, der das Risiko des Scheiterns in sich birgt und im Alltag zur Überspanntheit führen kann. Hermann Hesse warnt 1921: "Die Welt ist nicht da, um verbessert zu werden. Auch ihr seid nicht da, um verbessert zu werden. Ihr seid aber da, um ihr selbst zu sein. Ihr seid da, damit die Welt um diesen Klang, um diesen Ton, um diesen Schatten reicher sei." Vor dem Ketzergericht auf der Leuchtenburg im Februar 1921 bemüht Muck diese Argumente vergeblich, weil die öffentliche Meinung gegen ihn stand. Den märchenhaften Erfolg für Muck deutete man später nach dem Vorbild der Sage des Rattenfängers von Hameln (vgl. Borinski/Milch 45). Zum ersten Mal tauchte diese Analogie am 6. Juli 1920 in der Rudolstädter Zeitung auf. Obschon hier positiv konnotiert, ist die damit vermittelte Anschauungsweise unpassend. Vor allem gab die Neue Schar kein Befreiungs-Versprechen. Zudem war Muck das Locken und die Manipulation stets abhold. Nicht ein "Rattenfänger" pfiff die Melodie, sondern die Gruppe musizierte, tanzte und spielte mit den Kindern und Erwachsenen. Muck und die Neue Schar strebten nach einem Leben in Wahrhaftigkeit, Würde und Anstand, wo Eigenes und Fremdes versöhnt. Über die Revolution der Seele suchten sie den Weg in die Neue Zeit. Mit Schwung und Elan nahmen sie den Kampf gegen die Alten und Philister auf. "Es wird ein frisches Ringen sein mit den Altnaturen," teilt sich Friedrich Muck-Lamberty 1918 An die Freideutschen! mit, "die ihre Interessen schützen und den Wert des Menschen erst in zweiter Linie stellen." Ihr Zug durch Franken und Thüringen verlieh den moralischen Universalien der Jugendkultur - Wahrheit, Aufbruch, Kreativität - neue Ausdruckskraft und Öffentlichkeit, wobei, was etwas kurios, sie das Wort "modern" wegen des kommerziellen Klangs, der Anmutung realer oder gefühlter Kolonialisierung, ungern in den Mund nahmen. Unbenommen dessen stossen sie zusammen mit anderen Bewegungen und progressiven Jugendgruppen die Tür zum modernen Leben auf. Ihre Kultur des Festes pflanzte sich in Thüringen über Generationen hinweg fort. Meist ohne jede Ahnung über ihre Herkunft, blieben zumindest Elemente bei Geburtstags- und Hochzeitsfeiern, Volksfesten, Brigadefeiern und Betriebsfesten auch nach dem Zweiten Weltkrieg gegenwärtig. Theodor Plieviere, Autor der Romane Der Kaiser ging .... und Stalingrad, kam 1920 in Erfurt intensiv mit Muck und der Neuen Schar in Berührung. Es ist zum Greifen nah, dass seine "Revolution des Geistes" und anarchistischer Aktivismus (Hans-Harald Müller) stark von ihnen inspiriert und beeinflusst. "Und was die neue Schar so wertvoll macht," anerkennt 1920 von Stechow in der Halbmonatsschrift Ethische Kultur, "dass sie ihre Gedanken selbst vorleben, durch ihr Beispiel und die ursprüngliche Frische ihres Wortes hinreißen. Es ist eine Wirkung von Mensch zu Mensch, doppelt erfreulich in einer Zeit, die im Nächsten nur den Nutzen sieht, den er bringt." Trotzdem erschien manchem die Spiel & Tanz-Company im schillernden Licht. Zum Beispiel Sebastian Haffner (2000, 64 f.), der ihre Rolle als Erlöser kritisch deutet:
Doch sie unterscheiden sich nicht nur im eigenen Stil, sondern atmen grundverschiedene moralische Werte. Eine Erlösung mit Hitler-Methoden war für die Neue Schar immer undenkbar. So deutet sich hier bereits an, dass die historische Aufarbeitung und publizistische Darstellung der Ereignisse um Friedrich Muck-Lamberty widersprüchliche Interpretationen und Sichtweisen zu Tage förderte. "Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt," könnte man mit Friedrich Schiller`s Wallenstein sagen, "schwankt sein Charakterbild in der Geschichte." Pfarrer Adam Ritzhaupt vergegenwärtigt, dass die Blumenstadt im August 1920 die Neue Schar gleich Helden und Befreier begrüsste. "Wie ein Jahrzehnt danach Hitler" - fügt man viele Jahre später in der Debatte hinzu. Gegen diese Sicht protestiert Harry Wilde (1899-1878), eigentlich Harry Paul Schulze, Teilnehmer der Wanderung: "Muck war beileibe kein Nationalsozialist, nicht einmal ein Vorläufer, als der er später hingestellt wurde." (1974, 17) Ganz anders DER SPIEGEL (Hamburg) im Heft 6/1984. Unter der Headline Barfuss zur Erlösung vom Chaos offeriert er eine Artverwandtschaft der Inflationsheiligen Max Schulze-Sölde, Christian Haeusser und Friedrich Muck-Lamberty mit dem Führer der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei. In vielen waren sie nur Mutanten des Typus Hitler, konnte man lesen. Den Konstruktionsplan entwarf Ulrich Linse in Barfüssige Propheten (1983). Selber ein Wanderprophet, argumentiert er (30-43), fand der Führer auf die sozialen Ängste der Massen ähnliche Antworten wie die Inflationsheiligen: Kult der heroischen Führerpersönlichkeit mit Messias-Image, magisches Agitieren durch manipulierte Wirklichkeitstransformation, Verdammung der Parteienwirtschaft, Verschmelzung von Politik und Religion und Propagierung lebensreformerischer Sehnsüchte. Garnisonspfarrer Wilhelm Siegmeyer, der Muck-Lamberty aus der Kriegszeit auf Helgoland kannte, trägt 1921 in Junge Menschen exemplarisch das Urteil seiner Gegner vor: Sie stört "die ganze unausgeglichene, ziellose Persönlichkeit, die Verquickung unklarer Ideen, religiöser Motive, eines maßlosen Selbstbewusstseins mit einer ungezügelten Sittlichkeit." Bisweilen weht im Schrifttum des Drechslers ein Hauch von Deutschtum, Volksgemeinschaft und kryptischer Religiosität. Und wenn schon! Ein Reaktionär oder gar ein Vorläufer oder Ideengeber der Nationalsozialisten war er deshalb noch lange nicht. Die Rudolstädter, Jenaer, Weimarer oder Erfurter hörten von Muck keine Sportpalastreden. Dafür sprudelte er vor jugendlichem Enthusiasmus und Idealismus. Nicht im Gleichschritt, sondern singend, musizierend und tanzend zog die Neue Schar durchs fränkische und thüringer Land. Mittlerweile füllen die Kommentare über Mucks Verhältnis zu den deutschnationalen Ideen, die Neigung zum Deutschtum und die Expedition zur Vaterlandspartei viele Leseseiten. Keine Beachtung fand hingegen seine Kritik an der Kommerzialisierung des Jugendlebens, die konstruktive Haltung zum Frieden in Europa, die Abneigung gegenüber dem Kasernentum, allen Soldatenspielereien und der Streit mit den Philistern.
Friedrich Muck-Lamberty war kein "völkisch-rassistischer Prediger", wie ihn Ulrich Linse (2014, 39) charakterisiert. Zu den Freideutschen zieht es ihn. Hier erfolgt die Probe aufs Exempel. Am 11. und 12. Oktober 1913 steht er mit denen, die, wie Hans Paasche rückblickend sagt, den Weg der Lebensreformen gehen wollten, 40 Kilometer östlich von Kassel auf dem Hohen Meissner. Im April 1919 nimmt er an der Führertagung der Freideutschen Jugend 1919 in Jena teil. Drei Monate zuvor ermunterte er in der Freideutsche(n) Jugend alle Reformfreudigen:
Ihre Ideen und Reformbegeisterung prägen den geistigen Habitus und die Wertorientierung der Spiel & Tanz-Company Neue Schar. Sie vertrauen auf die Kraft der Selbsthilfe (Paul Natorp). Ihr Lebensstil sucht das Einfache und Echte (Ferdinand Avenarius). Den kollektiven Zusammenhang der Gruppe stärken sie durch Selbsterziehung (Bruno Lemke, Ferdinand Avenarius). Zu keinem Zeitpunkt will die bunte Truppe ein Konkurrenzunternehmen für irgendjemanden darstellen. Mit allen möchten sie freundschaftlich verbunden sein. Ferdinand Avenarius (1913) nennt das die freideutsche Gesinnung! Muck war ein Aufrüttler, Lebensreformer, Aktionskünstler, Wanderer, Drechsler, Kaufmann, Weltverbesserer und Anführer der Neuen Schar, aber kein völkisch-rassistischer Prediger. Wohl ist nicht zu übersehen, dass während seiner aktiven Zeit 1912/22 im politischen Raum der Freideutschen Jugend völkische Ideen umherflirren und schliesslich nach 1918 den Zeitgeist bestimmen. Um dies zu verstehen, ist es vorteilhaft zwischen Widerspruch und Einbruch des völkischen Geistes zu unterscheiden. Im Geleitwort zum Protokoll der Gründungstagung des Jungdeutschen Bundes auf Burg Lauenstein vom 9. bis 12. August 1919, stellt Frank Glatzel die Aufgabe, das Wandervogeltum zu vollenden, "nämlich zur wahrhaft völkischen Gemeinschaft deutscher Menschen zu werden." Die Spaltung und der Gegensatz zwischen völkischen und menschlichen Ideen reifte in der Jugendbewegung bereits 1916 heran. Im Weiteren formuliert sie diesen Widerspruch oft als Gegensatz von Nationalem und Internationalem. Als der Bund der Landgemeinden und Wandervogel e.V. in das gemeinsame Arbeitsamt aller Bünde, Kreise und Gemeinschaften eintraten, bricht das Völkische im bisher nicht gekannten Ausmass in die Bewegung ein. Frank Glatzel (1892-1958) stellt 1918 im April / Mai Heft der Freideutschen Jugend, begleitet von Knud Ahlborns Aufforderung zur freien Aussprache, die Völkischen Leitsätze vor. Zum ersten Mal, begeistert sich Knud Ahlborn, rückt so im Frühjahr 1918 die Einigung der gesamten auf dem Hohen Meissner "freideutsch" genannten Jugend in greifbare Nähe. Bald stellt im April 1919 auf der Führertagung der Freideutschen zu Jena heraus, dass nicht ihre Einigung, sondern Aufspaltung vorankommt. Vom Standpunkt der sozialistischen und liberalen Richtung trieben die Jungdeutschen mit der Lauensteiner-Tagung im August 1919 das völkische Wirrwarr unter den Freideutschen auf die Spitze. Doch aus ihrer Perspektive betrachtet, stellten sie - Frank Glatzel, Hjalmar Kutzleb, Hans Gerber - lediglich klar, was die völkische Gesinnung ausmacht: Arier- und Führer-Kult, entgrenztes Deutschtum, übersteigerte politische Eigenliebe, Bekämpfung der Ausländerei und Neigung zum Rassismus. Aber das war nicht die Sache des Friedrich Muck-Lamberty! Am 19. Oktober 2010 sendet der Deutschlandfunk [DF] in Redaktion von Hermann Theißen Die Hochkonjunktur der Inflationsheiligen. "Muck-Lambertys Größenwahn ist subtiler als der von Haeusser und anderen Wanderpropheten dieser Zeit", erklärt der Sprecher. "Er macht aus seiner Egomanie keinen Kult, sondern versucht, die Sache der Gemeinschaft über alles zu stellen." Ein schnöder Kollektivist, wie es hier vielleicht angedeutet werden soll, war er jedenfalls nicht, was aber ohnehin noch klar werden wird. Aber, keine Frage, Muck glaubte daran, dass ein Neuer Markt - ein Qualitätsmarkt - für handwerkliche Produkte geschaffen werden kann. Endlich sollte alles der oft darbenden Familie des Handwerkers zugutekommen. Wem solche Visionen kamen, der konnte Anderen schon Grössenwahnsinnig erscheinen.
Werner Heisenberg würdigt 1924 im Gespräch mit Niels Bohr "die Bemühungen [der Jugendbewegung] um ein neues schlichteres Kunsthandwerk, dessen Erträge nicht nur den Reichen zukommen sollen". Eigentümlicherweise bleiben diese Ideen und Ambitionen des Drechslers oft unbeachtet. Damit gerät nicht nur die Wandlung der Neuen Schar von der Spiel- und zur Handwerkerschar gegen Ende des Jahres 1920 ausser Sichtweite. Auch die Reformideen zur Organisation des Handwerks und Hinwendung zum Kunsthandwerk werden ausgeklammert. Leben, Ausbildung und Familienleben des Handwerkers, damit verbunden die Siedlungsfrage, beschäftigten Muck bis an das Ende seiner Tage. Als die Neue Schar am 17. Februar 1921 von der Leuchtenburg verwiesen, schlägt Muck sofort heftige öffentliche Kritik und Häme entgegen. Bald sind die Satiriker zur Stelle. An das Kunst und Literatur bedürftige liberale Bürgertum adressiert, widmet ihm Ende des Jahres die Zeitschrift Jugend (München) mit dem Scherzgedicht Der Prophet diese Verse: Ach,
schon wieder geht uns flöten,
Das erhabne Musterbild Eines echten Heilpropheten, Der im Vaterland nichts gilt! .. Damals
als ein Wanderpred`cher
Nahm er mit zur Wunderreis` Deutsche Knaben, deutsche Mädch`r, - Letztre meistens vorzugsweis`. .
Muck brachte der Leuchtenburg-Skandal Ungemach, doch der Debatte um Liebe-Ehe-Partnerschaft neuen Schwung. In Mein Bekenntnis zu Muck-Lamberty (1921) verteidigt Gertrud Prellwitz (1869-1942) den Lüstling und Verführer. Die Wirkung ist ambivalent. Denn ihr übersteigerter Pathos und der schwärmerisch-pseudoreligiöse Charakter der Hauptfigur des im gleichen Jahr erschienenen Drude-Romans, passt nicht zur Aufbruchstimmung der Jugendbewegung. Jedenfalls ist sie in diesen Kreisen nicht besonders beliebt. Bald wisperte die kritische Jugend:
Ihre mystische und unklare Haltung zum Nationalsozialismus befeuert dies noch. Im 44. Rundbrief des Maienwerkes vom März 1933 begrüsst Gertrud Prellwitz die Hakenkreuzfahne, veröffentlicht weitere profaschistische Flugblätter und hegte Sympathien für die Führernatur Hitler. (Vgl. Janos Frecot 135) Das Image der Schriftstellerin beeinflusste die Wahrnehmung und Kommentare zur Neuen Schar in Teilen der Publizistik ungünstig. Recht unglücklich gestaltete sich die Beziehung zwischen Friedrich Muck-Lamberty und Walter Hammer (1888-1966). Ende 1919 rief Knud Ahlborn in Hamburg den Verlag "Junge Menschen" ins Leben. Bald darauf erschien im Format 18 mal 14 Zentimeter das erste Heft von "Junge Menschen", um dessen Herausgabe und redaktionelle Profilierung Walter Hammer besondere Verdienste erwarb. Der Vorwärts aus Berlin verlieh der Halbmonatszeitschrift für Deutschlands Jugend am 18. Dezember 1920 den Titel: "beste deutsche Jugendzeitschrift der bürgerlichen Jugendbewegung". Es gibt keinen Grund, an diesem Urteil zu rütteln. Allerdings schwang sich die Zeitschrift nach dem Abschied der Neuen Schar von der Leuchtenburg in moralische Rekordhöhen auf, um aus der Vogelperspektive ihr Verhalten zu beurteilen. Dabei übernahm sie aus der regionalen Presse und dem Umfeld der Gruppe unkritisch einige Nachrichten. Der "Angeklagte" verteidigte sich am 5. August 1921 im Zwiespruch mit einem offenen Brief an Walter Hammer. Obwohl ergreifend und famos formuliert, bewirkte er keinen Kipp-Effekt. Vielmehr zeichnete nun auch diese Rezeptionslinie in weiten Kreisen der Öffentlichkeit ein negatives Bild vom Führer der Neuen Schar. Warum nur stülpte Walter Hammer die Schwierigkeiten des Privatlebens von Muck, dergestalt über seinen Protest gegen die Spiesser, Kalten, Philister und Alten, dass vom Engagement nichts mehr erkennbar war? Bis heute schwebt über der Neuen Schar das Verdikt von der Haremswirtschaft. Auch Ulrich Linse (1983, 119) wiederholt diesen Vorwurf und stützt sich dabei auf Aussagen von Käthe Kühl. Harry Wilde (1965, 118) interveniert gegen diese weit verbreitete Vorstellung: "Innerhalb der Neuen Schar herrschten deshalb auch alles andere als Zustände, die man mit Freie Liebe hätte umschreiben müssen. Doch mit mönchischer Askese hatte diese Haltung nichts zu tun. Es war jene Selbstzucht, wie sie in der Jugendbewegung seit Jahren geübt wurde. Die natürliche Haltung der Mädchen unterband den aufwendigen Sex zugunsten eines gesunden Eros".
Elisabeth Busse-Wilson (1890-1974) spricht in Verbindung mit der Jugendbewegung vom "Tummelplatz der Geschlechtslosen". Die Kameradschaft als geschlechtslose Beziehung zwischen Jungen und Mädchen bedeutete den Verzicht auf Erotik und war der Preis für die errungene Freiheit. "Dieser zeitliche Vorrang der Jugendbewegung vor der älteren Frauenbewegung", darauf macht Elly Bommersheim (1982, 66) aufmerksam, "ist bis jetzt kaum betont worden." Im Lebensstil der Neuen Schar spiegelt sich ein Bild von der sportlichen, naturverbundenen und unkonventionellen, dem Mann völlig ebenbürtigen jungen Frau. In Naumburg an der Saale war es übrigens Wilhelm Flitner der 1912 zusammen mit Lotte Bach und Margret Arends die Mädelortsgruppe Wandervogel e. V. gründete. Im Juni 1913 zogen sie an der Spitze des Zuges zum Werkbundfest von Bad Kösen über die Rudels- und Saalecksburg zu den Stendorfer Wiesen, wo sie Clotide von Derp (1892-1974) auf grünen Rasen beim Ausdruckstanz bewunderten. Zu seinen Liebesgeschichten öffnet sich Muck in den Briefen vom Frühjahr 1921 an Adam Ritzhaupt (Erfurt) und Eugen Diederichs (Jena) sowie an Kurt Kläber am 24. Juli 1921. 1928 äussert er sich abermals im Zwiespruch (Rudolstadt) dazu. Die Fairness erfordert es, diese in der Rückschau einzubeziehen. Anmassende Urteile über intime Lebensbereiche und Philistertum sollten wir möglichst vermeiden. Mit derartigen Erscheinungen war Friedrich Muck-Lamberty in Naumburg seitens der NSDAP konfrontiert. "Ich halte es für unbedingt erforderlich," informiert am 12. Oktober 1937 NSDAP-Oberbürgermeister und NSDAP-Kreisleiter Friedrich Uebelhoer den Regierungspräsidenten von Merseburg, "die einschlägigen Akten der damaligen Gebietsregierung Altenburg und des damaligen Thür. Wirtschaftsministerium beizuziehen". Jetzt, wo ihn die Werkgemeinschaft junger Handwerker in Naumburg ein Dorn im Auge ist, schlachtet er alles aus, was der NSDAP irgendwie nutzen kann. So behauptet sie, Mucks Leben war von der freien Liebe und einem hemmungslosen geschlechtlichen Sichausleben bestimmt. Bisher bildete die Forschung ihr Urteil über Friedrich Muck-Lamberty, ohne Lisa Tetzner eingehend nach ihren Erfahrungen zu befragen. Und Eugen Diederichs Brief An eine junge Malerin vom 11. Februar 1921 und Karl Wilkers Erlebnisbericht Auf der Leuchtenburg (1921) nahm sie überhaupt nicht wahr. Die Begegnung der Neuen Schar mit Pfarrer Emil Fuchs in Eisenach und sein Urteil über die Jugendbewegung spielte nur eine marginale Rolle. Neue Zeitzeugen, wie Gisella Selden-Goth (Prag), Kunsthändler Wilhelm Uhde, Pfarrer Baudert (Pössneck), Albin Sauermilch (Eisenach), Reformpädagoge Karl Wilker, Wilhelm Flitner (Jena), Walter Kotschnig (Graz) oder Georg Kötschau (Jena) wurden gefunden und können befragt werden.
Zunächst nur ein Wort zu Lisa Tetzner (1894-1963). Im Sommer 1920 begleitete sie Muck ein Stück des Weges durch das Thüringer Land und erhielt so tiefen Einblick in die Lebensverhältnisse und Ambitionen der Neuen Schar. Indes blieben ihre eindeutig positiven Wertungen, Bezüge und Schilderungen oftmals unbeachtet. In Selbstlose Brüderlichkeit (1921) und Bei Muck Lamberty (1923/24) verdichtete sie ihre Erlebnisse. Das Kapitel Von Weltverbesserern und Propheten Im Land der Industrie zwischen Rhein und Ruhr (1923, 113ff.) trägt den Charakter einer Sozialreportage und besticht durch einfühlsame, tiefenpsychologisch geleitete Beschreibungen, interessante Details, unbefangene Urteile zur Beziehung der Geschlechter in der Neuen Schar sowie zur Sexualmoral ihres Anführers Friedrich Muck-Lamberty. "Es will mir scheinen," würdigt Otto Zirker (457) Im Land der Industrie, "als sei hier das Verständigste und das Feinste über eine sehr erschütternde Angelegenheit der Jugendbewegung [der Neuen Schar] gesagt." Deshalb, fragen wir sie doch: Wie
war es damals im legendären Thüringer Sommer 1920?
Weil die Biographen Tetzners Essays und Reportagen über Friedrich Muck-Lamberty nicht die gebührende Aufmerksamkeit schenkten, dominiert bis heute die Wilhelm-Siegmeyer-Erzählung von 1921 über seinen Drang mit einem blonden Mädel den deutschen Christus zu zeugen. Beispielsweise stellt Christian Eger seine Einführung zur Ausstellung "Muck Lamberty - eine Naumburger Legende aus der Zeit der Jugendbewegung" im Jahr 1997 in Naumburg (Saale) unter das Diktum:
Zuvor
berichtete bereits 1984 das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL (Hamburg),
dass er "plante mit einem blonden Mädel den deutschen
Kristus zu zeugen". Möglicherweise ist dies einfach
dem Anliegen geschuldet, dass Interesse der Öffentlichkeit
für ein Thema oder Ereignis zu wecken. Indes entstellt die
deutschnationale Sprachästhetik mit leichtem rassistischen
Akzent Mucks jugendpolitisches Engagement. Die Story vom "blonden
Mädel" setzte Wilhelm Siegmeyer 1921 in die Welt und diente
der Zeitschrift Junge Menschen dazu, die Kampagne gegen Muck
anzuheizen.
Am 16. Februar 1921 warnt das Jenaer Volksblatt auf der T i t e l s e i t e:
"Da
die Verführungen
der jungen Mädchen mit deren Willen geschehen," erklärt
die Zeitung weiter, "so wird für den Staatsanwalt ein
Grund zum Eingreifen erst dann Gegeben sein, wenn Krankheiten übertragen
werden." Unter der Überschrift Der Messias der Leuchtenburg
drängen
sich dann die Vorwürfe an den "langhaarigen Abenteurer":
Meuterer in Kiel, notorischer Bettler, Auslöser
einer wahren Tanzseuche in Mitteldeutschland, Prediger
des Evangeliums der freien Liebe, deutschnationaler Parteigänger
und kommunistischer Agitator. Es
ist eine Art Leitartikel für die nun einsetzende Anti-Muck-Kampagne,
aus denen die Provinz-Blätter ihre Vorhaltungen kopieren können.
Mucks Gegner leisteten sich unglaubliche Tollereien. Ihre Kritik
verliert oft Mass und Mitte. Lüstling, Wüstling,
Verführer, Schwindler, Tempelschänder, Lügner,
Vagabund und falscher Prophet rufen sie ihm hinterher.
Ihre Maxime:
Keiner
ist unnütz, er kann immer noch als schlechtes Beispiel dienen.
Eigentlich gehören Die Naturfreunde vom Gau Thüringen zu Mucks politischen Widersachern. Aber diese Unsachlichkeit und Feindseligkeit im Umgang mit dem Wanderpropheten, das wollen sie nicht.
fauchen sie Mucks Gegner aus Jena zu. Als die Neue Schar in der Klassikerstadt eintrifft, beklagt die Weimarische Landeszeitung:
Viele Hoffnungen ruhten auf Muck. Dennoch war es weder Führerkult noch eine besondere Form von Messianismus, die die Neue Schar so beliebt machte. Vielmehr bewunderten ihre Anhänger - bewusst oder unbewusst - ihre
wie die Gruppe mit originellen Formen des Zusammenlebens und der Kommunikation experimentierte, sukzessive von den manierierten wilhelminischen Moralkodizes Abstand nahm. "Zu Tausenden (in Rudolstadt waren es zweitausend)", darauf verweist am 15. Januar 1921 der Vorwärts (SPD) aus Berlin, "folgen die Menschen der Schar, bringen ihr Geschenke dar, spielen mit ihnen und singen und tanzen mit diesen jungen Menschen." Muck bekümmerte die sich ausbreitende kulturelle Niveaulosigkeit der Volksfeste:
Mit Sinn für Volkstum, Heimat und Gesang, einem neuen Lebensstil, den sie mit Fröhlichkeit, aber bei Verzicht auf moderne Genüsse (Rauchen) und künstliche Betäubungsmittel (Alkohol) transportiert, möchte die Neue Schar ein Beispiel geben. Von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, trägt die bunte Truppe ihre nonkonformistische Lebensart. Gusto Gräser schmiedete ihnen den Vers:
Zweimal lud Eugen Diederichs (1919) im Jahr 1917 Intellektuelle, Politiker und Künstler, darunter Ernst Toller, Berta Lask, Theodor Heuss, Werner Sombart, zum Gespräch auf die Burg Lauenstein ein. Ungern erinnert er sich an den geistigen Habitus der älteren Generation, ihren Doktrinismus, Mangel an Demut und fehlenden "Gefühl, den Menschen Bruder zu sein". Diese verbreitete Haltung löste bei der vorwärtsstrebenden Jugend viel Kummer aus. Muck verfiel darüber nicht in Verzweiflung, sondern antwortete darauf 1918 "An die Freideutschen! Verjüngung des politischen Lebens" mit den Worten:
Im Sommer 1920
bündelte die Neue Schar den verbreiteten Unmut zum
Als im Februar 1921 zum Ketzerprozess (Diederichs) auf der Leuchtenburg erneut Doktrinismus und Philistertum einfielen, schleuderten Jenaer Studenten wie der Vulkan die Steine in den Raum:
"Alles
in allem ist nur zu wünschen", gibt die Zeitschrift Ethische
Kultur durch ihren Autor von Stechow (1920) der Hoffnung
Ausdruck, "dass Mucks Gedanken Allgemeingut werden, dass überall
die Besten ohne Eigennutz, um der Sache der Menschheit willen helfend
zur Seite treten. Ein Kampf für das Licht und das Gute."
Für Muck öffneten sich die Tore der Kirchen. "Ich war es", worauf Harry Schulze-Wilde am 1. Oktober 1971 gegenüber Werner Kindt pocht, der ihn "in die Kirchen brachte, das heisst, dass er ab Weimar in den Kirchen ´predigen´ konnte: Weimar, Erfurt, Gotha, Eisenach etc. Ich war es auch, der durchsetzte, dass [in einer lutherischen Kirche] neben dem Luther-Lied Eine feste Burg .... auch Marienlieder gesungen wurden." So erreichten sie Bürger, welche die Kirche bereits für sich verloren glaubte. "Das möge hier festgehalten werden", beurkundet 1921 Pfarrer Adam Ritzhaupt aus Erfurt:
Lisa Tetzner macht sich im August 1920 auf dem Weg zur neuen Schar vom blauen Fähnlein. "Ich komme hinter zwei ältere Herren," erzählt sie 1923. "Sie tragen beide Brillen und haben die Gesichter von Studierten. Ich halte den einen für den Pfarrer des Ortes. Er wird viel gegrüsst im Vorübergehen. `Und ich sage Ihnen`, sagt der eine und hebt seine Hand mit Nachdruck, `ein ehrlicher Clown bringt dieselbe Wirkung hervor.` `Nei, nein`, der andere, der Pfarrer, schüttelt abwehrend sein Haupt, `hier liegt mehr. Bei den Kindern ohne weiteres, aber die Erwachsenen, erlauben Sie. Es kommt immer auf die Wirkung, auf die Auflösung an. Und er packt das Volk mit seinen Busspredigten.
Im
Rückblick wird der Mut der Neuen Schar, ihr Streit mit
den Alten, Philistern und Kalten, und
damit ihr Beitrag zur Jugendkultur, oft nicht gewürdigt.
Bereits 1921 beklagt Karl Wilker (1885-1980), Pionier
der Fürsorgeerziehung und Leiter der bekannten Zwangserziehungsanstalt
Berlin Lindenhof, in der Zeitschrift Junge Menschen:
Über Friedrich Muck-Lamberty und die Neue Schar existieren divergierende Erzählungen und konkurrierende Urteile. Aber sind sie denn rückführbar auf Ereignisse, also korrekt? Fragen wir die Zeitzeugen und beraten uns mit den Arbeiten zur Jugendbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg von Werner Helwig (1960/1980), Walter Laqueur (1962), Fritz Borinski / Werner Milch (1967), Werner Kindt (1968, 1974), Karl O. Paetel (1961), Heinz R. Rosenbusch (1973), Kurt Haufschild (1975), Ulrich Linse (1983: Barfüßige Propheten) und Robert Schurz (2010). Nicht zu vergessen, die erste umfassende Biografie über Muck-Lamberty mit 109 Seiten von Norbert Bechthold, vorgelegt 1985 an der Universität Frankfurt / Main. Vielleicht kann uns Rüdiger Safransky`s (2007, 334ff.) helfen, den romantischen Blick der Neuen Schar zu verstehen. Kindheit und Jugend nach oben Friedrich Lamberty erblickt am 14. Juli 1891 in Strassburg (Elsass) als achtes von zwölf Kindern das Licht der Welt. Die frühen Jahre seines Lebens liegen für uns im Dunkeln. Wir wissen nur, dass er in einer kinderreichen Familie aufwächst, die im Elsass und dann 10 Kilometer nordwestlich von Aachen liegenden Simpelveld (Niederlande) lebte. "Muck als Katholik liebte die Marienverehrung und das alte Wallfahrtslied Meerstern, ich dich grüße " (Wilde 1965, 124). Als Ministrant überraschte er den Pfarrer bei sexuellen Handlungen mit der Hauswirtschafterin, die sein Schweigen mit Schokolade erkaufen (Bechthold 47).
Mutter Franziska Lamberty, geboren am 27. Oktober 1860, eine Hessin aus Meisingen, Tochter des dortigen Bahnhofsvorstehers, lebte bis 1939. Der Vater Friedrich August Lamberty, geboren am 12. Juni 1859 in Neheim an der Ruhr, war von Beruf Kaufmann. Er führte ein autoritäres und rechthaberisches Familienregime. Max Horkheimer`s geistvoller Spruch, "Die Jugendbewegung entsprang nicht zuletzt daraus, dass man im väterlichen Geschäft keine Chance mehr sah", erfasst die Lage des fast noch kindlichen Jungen gut, als er mit dreizehn, vierzehn Jahren das Elternhaus verlässt. Als Achtzigjähriger äussert sich der Nestflüchter im Gespräch mit Rudolf Wiemer freundlich über seinen Vater. Er war ein origineller Kopf. Verfügte über Patente in Holland, Belgien und Frankreich. Friedrich August Lamberty stirbt 1913. Seit den Kindertagen hiess man ihn Muck, seine Freunde und Bekannten, die Freideutschen und natürlich die Presse. Viele Aufsätze oder Schriftstücke von ihm sind mit diesem Namenszug unterzeichnet. Wenn wir es nun auch tun, dann verstösst dies nicht gegen die üblichen methodischen Konventionen der biografischen Arbeit, es ist weder respektlos noch Ausdruck mangelnder Objektvität. Der Rufname "Muck" legt die Vermutung nahe, dass es Parallelen zur Geschichte von dem kleinen Muck. Wilhelm Hauff (1802-1827) beschreibt ihn als klein von Wuchs, worüber die Leute spotteten. Sein fröhliches Naturell liess ihm das ertragen. Er spielt und liesst gern. Der Tod des Vaters, er ist gerade 16 Jahre alt, droht ihn aus der Bahn zu werfen. Diese Lebenskrise bebildert Regisseur Wolfgang Staudte (1906-1984) im gleichnamigen DEFA-Märchenfilm von 1953 in einer Strassenszene. Der Wächter fragt den von den Ereignissen gezeichneten Muck, was er nun zu tun gedenkt, worauf der antwortet:
Auch Friedrich trägt diese Hoffnung aus dem Elternhaus. Nun zieht er hinaus, schreibt Joseph von Eichendorff im Taugenichts (1826), um sein Glück zu machen. Nicht Aurelie bittet ihn zurückzukommen, weil die Hindernisse ihrer Liebe beseitigt. Nein, Muck muss erst selbst die Hindernisse schaffen, um die Liebe zu finden.
1906 wanderte er von Holland nach Bregenz am Bodensee und beginnt dort eine Lehre bei den Gebrüder Hiller (Hannover), die seit 1901 Reformwaren vertreibt. Die Firma besteht bis heute als Natura-Werk Gebr. Hiller GmbH & Co. KG fort. Auf der etwa 35 Kilometer südlich von Stuttgart gelegenen Burg Hohenneuffen trifft Muck 1909 erstmals mit der Wanderbewegung zusammen. Zu dieser Zeit arbeitete er als Vertriebsleiter für ein Reformhaus in Stuttgart. Sein Gehalt soll respektabel gewesen sein. Er ist Vegetarier und leidenschaftlicher Alkoholgegner. Letzteres machte in öfter, speziell in der studentischen Jugend unbeliebt. Dabei war es doch ganz im Sinne der Nation. "Erziehen Sie die Leute zum Verzicht auf den Alkohol!", riet Kaiser Wilhelm II. am 21. November 1910 bei Einweihung der neuen Marineschule in Mürwik den Marinefähnrichen. Denn "diejenige Nation, die das geringste Quantum Alkohol zu sich nimmt, die gewinnt." Bald übernimmt Muck eine Filiale des Unternehmens in Brünn (Brno). "Ich hatte mit 18 Jahren in Österreich", erfahren wir 1919 über seine Tätigkeit in Graz, "ein Reformhaus für gesunde Kost ins Leben gerufen, um praktisch für eine Gesundung durch vernünftige Ernährung zu wirken." Mit 19 übergab er es einem Freund, um weiter zu wandern, und avanciert per Akklamation in den Vorstand der Bewegung gegen die bürgerliche Berufstour. Bereits vor dem Krieg reiste er durchs Land, um eine Freundesschar, Siedlergruppe oder Mitglieder für eine Genossenschaft um sich zu sammeln. Jetzt führt der Weg nach Esslingen am Neckar. Karl Bittel (*1892) war hier von 1913 bis 1916 Sekretär beim Konsumverein. Beide kannten sich von der Italien-Wanderung. Nun gehört er um den siebenbürgischen Dichter und Wanderer Gusto Gräser und zusammen mit Ernst Emanuel Krauss, der sich später Georg Stammler nennt, Willo Rall, Luise Rieger, Theodor Heuss und Hugo Borst zum Kreis der Esslinger Sieben (Müller).
Pfingsten 1913 zieht es Muck zum Wandervogel-Bundestag auf die Henneburg bei Meiningen, wo er Kaufmann Hans Eklöh kennenlernt. Im September verlässt er Esslingen und arbeitet ab Oktober im Haus Eklöh, deutsche Wertarbeit Lüdenschscheid / Westfalen. Hier, so kam es im Juni 1914 gelegentlich des I. Deutschen Vortrupp-Tages in Leipzig öffentlich und im Detail zur Sprache, desavouierte er den Wandervogel. Auf grossen Aktenbögen, wie dort berichtet wurde, stand geschrieben:
Der Umtriebige "hetzte die Schüler gegen die Lehrer und die Söhne gegen das Elternhaus auf. Unreifen Tertianern rückte er mit Nietzsche und Kant zu Leibe und richtete mit seinen eigenen Briefen, welche er an Nestabenden vorlas, heillose Verwirrung an." Der Wandervogel verbot ihn, dass Landheim zu betreten. "Als Antwort stand zwei Tage später im Gästebuch:
Machte der Wandervogel eine Veranstaltung, konnte es passieren, dass er aus einem Gebüsch auftauchte.
Aber so ungünstig war das gesellschaftliche Umfeld für die Unternehmungslustigen auch wieder nicht. Immer stärker brandet die Lebensreformbewegung auf. Heftig kollidieren im sozialen Raum die veralteten Erziehungsmethoden der Schule und des Elternhauses mit den Bestrebungen der Jugend. "Sturm-Überflaggt" kündigt Ernst Wilhelm Lotz (1890-1914) den Aufbruch der Jugend an. In der freideutschen Jugendbewegung wächst und organisiert sich das Bedürfnis nach unbefangener Urteilsbildung, Wahrhaftigkeit und Authentizität.
verkündet 1913 die von Georges Barbizon (Berlin) und Siegfried Bernfeld (Wien) herausgegebene kritisch-aufrührerische Jugendzeitschrift Der Anfang. Muck-Lamberty mischt sich in den Kampf um die Jugend (Gustav Wyneken 1913)ein. Über schwere Rückschläge hinweg, findet er immer wieder zu einer aktiven Lebensposition. Und lebte dabei, wie es seine Verteidigerin Gertrud Prellwitz 1921 feststellte, manch kleine Unvollkommenheit. Seine Lebensmaxime könnte man mit Giovanni Pico della Mirandola (1486) fomulieren: "Ich bin geboren worden unter der Bedingung, dass ich das sein soll, was ich sein will." Ein anspruchsvolles und schwieriges Unterfangen, wenn man in einer Zeit tiefer gesellschaftlicher Krisen früh dem Elternhaus entflieht und das existenzsichernde Handwerk erst mit 28 Jahren zur Lebensgrundlage gedeiht.
Von grossen Idealen getragen nach oben "Wir könnten schon warten, doch wir wollen nicht warten, wir wollen weiter, weiter vom großen Ideale getragen", teilt Muck Freunden und Führern 1913 aus Esslingen mit. Bloss welche Ideale meint er? Welche Werte leiteten ihn?
Der Kampf der Jungnaturen gegen die Alten. Der geistige Boden für den Kampf gegen die Alten war längst bestellt. Schon länger drängte die reformfreudige Jugend zum Kräfte messen. In der von Gustav Wyneken eingeführten Schülerzeitschrift Der Anfang kam dies 1913/14, was hitzige Proteste auslöste, ziemlich provokativ immer wieder zur Sprache. Die Neue Schar setzt dies 1920 mit der Tour durch Franken und Thüringen fort und stellt sie unter ihr Credo:
Der Kampf von Jung gegen Alt ist für Muck die wichtigste Triebkraft der politischen Bewegung. Sein Vertrauen in die Kraft und den Elan der Jugend ist nahezu grenzenlos. "Die Jugend", heisst es in Neuland in Sicht (1913) ,"ist es immer gewesen, die die Dinge änderte." "Unsere Welt muss untergehen," warnt An alle Lebendigen, "wenn die Jungen und Junggebliebenen nicht aufstehen, an sich arbeiten und sich verständigen." "Mag das Leben der Altnaturen sich krümmen und totschwätzen", heisst am 8. August 1921 im offenen Brief von Walter Hammer. "Es kommt auf den jungen könnenden Menschen an, der kann und tut und nicht vorher viel sagt." "Als endlich die Parteien ihren Tag glaubten," textet Muck sich im Februar 1919 in der Freideutschen Jugend den Kummer von der Seele,
Als Losung über den Zug der Neuen Schar durch Franken und Thüringen könnte auch der Schriftzug stehen:
Dessen Ergebnis, davon ist Muck überzeugt, entscheidet über die Zukunft der Nation. So heisst es auf einem Flugblatt, das sie in Eisenach verteilten:
Den Glauben an die Jugend schöpft Muck aus mehreren Quellen. Georg Stammler nimmt dabei einen besonderen Platz ein. Öfter ist eine Ähnlichkeit in Inhalt und Ausdrucksweise deutlich erkennbar, zum Beispiel wenn jener einst die Erlösung an die Jugend kettete: "Meine stille Hoffnung richtet sich auf die Jugend. Vielleicht, daß sich einmal aus ihrer Mitte heraus die
bilden wird, die mit der Leidenschaft der Liebe um die Geburt des neuen Menschenbildes ringt; die Schar, die uns erlöst, weil sie sich aus der Not des eigenen Herzens zur Keimzelle des neuen Lebens schafft." (Lynkeus 21.8.1920) In der Augustinerkirche zu Gotha unterscheidet Muck zwischen Ich- und Gottmenschen. Erstere heisst er auch geistige Proleten oder alte Menschen. Die für ihre Idee leben, sind die Jungen oder Gottmenschen.
Kritische Haltung zu Parteien
"Er spricht von den kalt Geistigen, von den Absteigenden, den Kasten- und Parteimenschen", fiel 1921 (10) bereits Adam Ritzhaupt auf. Walter Kotschnig (1920) bemerkte, dass Muck gern über die Klassen- und Parteigegensätze referiert, "die nur den
Mittel sind, ihre Herrschaft über den guten, den lebendigen Menschen zu erhalten." Bei der Ausprägung dieser Haltung spielen vielleicht die misslichen Erfahrungen mit der Deutschen Vaterlandspartei eine gewisse Rolle. Ebenso haderte er mit den hohen Funktionären der Arbeiterparteien und Gewerkschaften, gewinnt zu ihnen nie viel Zutrauen. Im Brief an den Schwiegersohn von Gusto Gräser und Fabrikarbeiter Henry Joseph warnt er 1929:
"Muck fühlte sich im höheren Sinn berufen, er lehnt jede Regierung," glaubt von Stechow (1920), "jede Partei, jedes Bekenntnis ab." Ihre Vertreter und Repräsentanten waren für ihn kein Vorbild, weil sie ihre Worte oft an taktischen Erfordernissen der Wahl ausrichten, täuschen, lügen und dazu neigen, die Bürger zu bevormunden. Wohl deshalb erklärt Muck am 9. September 1920 in der Augustiner Kirche zu Gotha, dass sie "nicht im Namen einer Partei kämen und jeden Standesunterschied ablehnten". Muck will (nur) nicht, dass der Parteienschlamassel in die Jugendbewegung eindringt. Damit nahm er eine Stimmung auf, die damals sehr verbreitet war. Ende Mai 1920 schrieb der Fränkische Wald:
Nicht ganz unwichtig ist, dass seine Kritik weniger auf die Parteiendemokratie als auf die Parteienmisswirtschaft abzielt. Zudem trägt sie volkstümlichen Charakter und ist nicht staats- oder verfassungsrechtlich begründet. Ganz ähnlich wie Muck tadelten viele demokratisch gesinnte Intellektuelle die Entfremdung der Parteien vom Bürger, ihre Phrasendreschereien, den Widerspruch zwischen Wort und Tat, von Parteiprogramm und Regierungspolitik oder den Einsatz hochaggregierter Symbole, um Mängel zu kaschieren. So monierte 1921 Lisa Tetzner:
Nahe der Verzweiflung über die undemokratische, arrogante und intransparente Arbeitsweise der Parteien notiert 1928 Carl von Ossietzky:
Wer die Misswirtschaft und Arbeitsweise der Parteien begründet kritisiert, der ist nicht sogleich ein Feind der Demokratie. Natürlich war die immer wieder erhobene Forderung der "Überwindung der Parteien durch die Jugend" (Harald Schultz-Hencke) und nach Erneuerung der Parteien etwas naiv. Überall wo dies versucht wurde, stiess es auf ihren Widerstand. Verständlich, betonen Arnold Bergsträsser und Hermann Platz (1927, 18), denn hier treffen zwei verschiedene Zwecke aufeinander. Der eine will die Bildung des Charakters und Entwicklung des Urteilsvermögens, der andere ist lediglich auf die Disziplinierung der Mitglieder und die Erhaltung der Macht gerichtet. Die Parteien, worauf Ulrich Linse (1983, 99) hinweist, ignorieren Muck oder sehen in ihm einen Politclown. - Warum denn aber? Nur weil er ihre Formen der Artikulation und Inszenierungen nicht beherrschte? Wohl kaum. In .... Noch ein Wort zu Muck-Lamberty bemerkte Lisa Tetzner 1921 (773), dass die Linksstehenden in seinem Kraftfeld
Gisella Selden-Goth (*1884) erlebte im August 1920 die Neue Schar in Weimar. Unter diesem Eindruck stehend, prophezeit sie zwei Monate später im Neue(n) Wiener Journal: Jetzt müssen die deutschvölkischen wie sozialistischen Jugendgruppen auf der Hut sein, wenn sie keine Mitglieder verlieren wollen. "Die Knaben und Mädchen, deren Herzen" Muck "von allen Seiten zufliegen,
Die Macht der Maschine Muck fürchtet die Diktatur der Maschine über den Arbeiter. Ihm bereitet die fortschreitende Mechanisierung und Automatisierung der Arbeit grosse Sorgen. Wilhelm Flitner (1968, 271), der ihn aus der Jenaer Zeit kannte, fiel auf:
Es ist alles anders geworden. "Meisterschaft ist heute etwas anderes. Man ist
im Boxen, Linksschwimmen, Stemmen, Biertrinken usw." "Ich stand manchmal lange an einem Kellerfenster einer Lüdenscheidscher Knopffabrik", enthüllt er uns 1929 (11), "und hatte eine Freundschaft mit einem Knopfmacher. 25 Jahre machte der Mann immer ein und denselben Knopf und seine ganze Familie und seine Kinder sahen bald so aus. Welche Energie braucht der Mensch, um dabei nicht ganz zu verblöden." Ganz ähnlich fragt Alexis Torqueville 1835 (259) in Über die Demokratie in Amerika: "Was kann man von einem Menschen erwarten, der zwanzig Jahre seines Lebens damit verbrachte, Stecknadelköpfe herzustellen?" Fließbandarbeit und Automatisierung zerstückeln und taylorisieren den Produzenten, degradieren ihn zum Anhängsel der Maschine, zwingen ihn den technologischen Rhythmus auf. Massen- und Billigproduktion bedrohen die wirtschaftliche Existenz vieler Handwerker. Oft bleibt ihnen nur, sich als Hilfsarbeiter zu verdingen. Ein trauriges Bild zeichnet er 1929 in Jugendbewegung, Handwerk und Volksfest (10): " und dann sehe ich die Massenfabriken, wie der Mensch zur Maschine wird, sehe wie sie darin leiden, die zu früh hineingesteckt wurden."
klagt er in Die Handwerkerschar von der Leuchtenburg 1921, "es ist nicht mehr die väterliche Freude bei Arbeit mit Gehilfen und Lehrburschen."
Aufhebung der Entfremdung der Arbeit im Handwerk Nach Überzeugung von Muck bietet dem jungen Menschen allein das Handwerk ein Korpus der Rechtschaffenheit und selbstbestimmtes Arbeiten, betont aber, "Für den Massen- und Haufenmenschen ist das Handwerk nicht da." (Jugendbewegung 12)
Schon etwas ungläubig fragt Lisa Tetzner (*1894) in Selbstlose Brüderlichkeit (1921) nach:
Trotzdem will Muck die Entfremdung der Arbeit in der industriellen Massenproduktion durch Hinwendung zum Handwerk überwinden.
Die Idee vom neuen Markt Wenn man in die "Werkstätten der heutigen Heimarbeiter schaut", "dann kann man das Gruseln bekommen, was nicht alles an Schund und Tand hergestellt worden ist und noch wird". "So könnte der Jahrmarkt eine Belebung sein, heute ist er meist aus Bluff und Betrug aufgebaut", kritisiert ML in Jugendbewegung, Handwerk und Volksfest (1929).
Eine Alternative sieht er in der Schaffung des
Er ".... müsste das Beste bieten, was Handwerker der Umgebung zu leisten vermögen. Es muss sprichwörtlich heißen:
"Wir haben erkannt, welch großen Einfluss der gesamte Kaufmannsstand auf die Entwicklung der Menschheit ausübt", fasst er 1914 gemeinsam mit Georg Peters in Was können wir tun? seine betriebswirtschaftlichen Erfahrungen zusammen. Um die Lage des Handwerks zu bessern, muss nach ihrer Ansicht der Widerspruch zwischen Ökonomie (Kaufmann) und Produktion (Handwerker) überwunden werden. "Viele sehen in den Kaufmann bei unseren Bestrebungen ein notwendiges Übel. Man erwartet das Gute vom Handwerk selbst. Wir haben aber eingesehen, dass der schaffende Künstler, der Handwerker und Kaufmann Hand in Hand gehen müssen, damit der bestehende Einfluss des Kaufmanns auf die Herstellung der Roherzeugnisse den Erneuerungsbestrebungen zu Gute kommt. Also: Sie wollen gemeinsam schaffen ."
Untergang des Handwerks "In diesen Zeiten des schnelleren Verfalls und des stilleren Neubeginns bei den Jungen spürt der Feinsinnige auch
Wie mancher Junger Mensch, Sohn eines rücksichtslosen Kaufmanns (Schieber) will nicht den Betrieb seines Vaters übernehmen. Er will
sein. Wie mancher will nicht den toten Weg des Beamten gehen und es kommt ein Kampf in der Familie. Die Tradition, die dumme Anschauung, dass der schlichte, einfache schöpferische Handwerker minderwertig sei, will den jungen, lebendigen, strebsamen, Menschen zwingen, einen "höheren" Beruf zu ergreifen. Vielen jungen Menschen bin ich begegnet," blickt Muck Ende 1921, "die so Heim und Anhang verliessen und draussen in der Welt Land und Meister suchten." Aber warnt 1929 Jugendbewegung, Handwerk und Volksfest:
Anerkennung der
Arbeit und Immer setzt er sich für die gebührende moralische und wirtschaftliche Wertschätzung der Arbeit des Handwerkers ein. "Ich denke an den Feilenhauer Trebitsch in Naumburg, der kaum bekannt ist, den aber die Fachleute zu schätzen wissen. Ich war mit Dichtern und Denkern bei ihm und sie bewunderten sein Können. Was ist daneben manchmal ein Professor für irgendeine überflüssige Wissenschaft mit Staatspension?" (Jugendbewegung 10f.)
"Handwerker müssen sie sein," fordert Muck, "die den Meistergedanken wieder zu Ehren bringen, - ich selbst wurde dann auch Handwerker. Aus Echtheit müssen sie leben. Gar nicht viele brauchen, keine üppige Ernährung und nicht tausend Dinge." (Nach Prellwitz 5) Über das ganze Leben hinweg beschäftigen ihn die wirtschaftliche Lage der Handwerksbetriebe und ihr Einfluss auf die Familien. Er überlegte, ob die Abwanderung in die Landwirtschaft ein Ausweg wäre, oder ob die Bedrängten ihr Geschäft - zumindest in bestimmten Regionen - durch gastronomische und touristische Angebote erweitern könnten. Ein Teil der Produkte der Werksgemeinschaft junger Handwerker Naumburg Saale erfolgt in Direktvermarktung. Muck ist ein talentierter Kaufmann. Und das, lehrt die Erfahrung, rief zu allen Zeiten die Neider auf den Plan. Sein Betrieb gehörte hinsichtlich Umsatz und Anzahl der Beschäftigten, die freilich saisonal schwankten, zu den erfolgreichsten Unternehmen der Stadt. Das war nicht das Ergebnis von zufällig wirkenden Naturkräften, Geschenken oder Zuwendungen. Vielmehr musste er sein kleines Unternehmen unter schwierigen äusseren Verhältnissen gründen, stabilisieren und entwickeln.
Mucks politisches und soziales Denken ist von der Idee der Volksgemeinschaft und des Deutschtums geprägt. Heute lösen diese Begriffe beim Bürger aufgrund ihrer Bedeutung in der nationalsozialistischen Ideologie und Politik oft Aversionen aus. Daraus können Vorab-Urteile entstehen, die in die Irre führen. Es hilft nichts, beide Begriffe müssen genau erhoben, in der Zeit verstanden und interpretiert werden. Allgemein ist festzustellen, dass sie ihren Inhalt in Abhängigkeit vom Kontext verändern und zur Amplifikation neigen. "Ähnlich wie unter den Sammelnamen Jugendbewegung", wusste schon Knud Ahlborn (1918), "bergen sich auch unter dem Begriff Deutschvölkische Bewegung unterschiedliche, ja zum Teil entgegengesetzte Richtungen." Walther Victor (1885-1971) repetiert von der Arbeiterjugend-Führertagung Ostern 1921 in Dresden den Gedanken, dass der Sozialismus die wahre Volksgemeinschaft verwirklicht. Zusammen mit Theodora Schulze und Hermann Thümmel veröffentlicht Muck-Lamberty 1919 die
Damit erhalten die Hoffnungen zur Vitalisierung und Umgestaltung Deutschlands einen für diese Zeit erstaunlich klaren Ausdruck. Beseelt vom "Glauben an das deutsche Volk", soll nach der Katastrophe des Weltkrieges und den in der Revolution aufbrechenden Gegensätzen eine neue Gemeinschaft, die Volksgemeinschaft entstehen. In 13 Thesen gestalten die Autoren das Projekt wie folgt aus:
Die 13 Thesen zur Volksgemeinschaft sind wahrlich keine singuläre Erscheinung. Ähnlich wie Max Schulze-Sölde (1887-1967), Ludwig Christian Haeusser (1881-1927) oder Alfred Kurella (1918), greift Muck-Lamberty hiermit die Sorgen, Wünsche und Ängste weiter Bevölkerungskreise auf und antwortet darauf mit der Revolution der Seele, einer fulminanten Utopie, die im Gewand von Tanz, Spiel und Gesang daherkommt. Muck "sah von Fidel Castros Kuba bis nach China solche Volksgemeinschaften im Werden" und begrüßte 1969 "ausdrücklich die Studentenrevolte", instruiert Ulrich Linse 1984 das Politikmagazin Der Spiegel (Hamburg). Mithin trachtet das ideologische Konstrukt der Volksgemeinschaft zum Klassenfrieden, nicht aber zum Klassenkampf, weshalb die rebellischen Attitüden der 68er da wirklich schlecht ran passen. Die Pflege des Deutschtums, das oft als Einfallstor für die Revisionspolitik dient, bildete ein wichtiges Anliegen der 13 Thesen zur Deutschen Volksgemeinschaft. Doch gibt es keinen Grund anzunehmen, dass ihre Schöpfer dies irgendwie im Schilde führten. Vielmehr begreifen sie die Existenz- und Lebensweise der Völker als gleichberechtigt. "Je besser ein jedes Volk seine Eigenart hegt und pflegt," betonen sie, "umso höher wird es geachtet." Also nicht ein oder nur das deutsche Volk, sondern "ein jedes [!] Volk" soll seine Eigenschaften, die Sprache, Kultur, Bräuche und Traditionen entfalten. Ausserdem fehlen dem "Deutschtum" der 13 Thesen die Ambitionen der Volksdeutschen Arbeit, praktiziert vom Volksbund für das Deutschtum im Ausland, Ortsgruppe Naumburg. Fritz Borinski (1903-1988) und Werner Milch (1903-1950) erheben 1967 in der Geschichte der deutschen Jugendbewegung 1918 -1933 (46) gegenüber Friedrich Muck-Lamberty den schwerwiegenden Vorwurf: "Zu seiner Lehre gehörte der Glaube an die Züchtung einer neuen Rasse durch freie `kommunistische` Liebe". Unvermittelt fügen sie in Klammern an: "Viele Gedanken der Nationalsozialisten und Kommunisten erscheinen in seinen Ansprachen". Allerdings geben die Autoren keine Quelle an. Ebenso konnte auf Grundlage der hier ausgewerteten Literatur und Dokumente nicht ermittelt werden, wo und wann er diese Lehre verkündet haben soll. Vielleicht beziehen sich die Vorwürfe auf seinen Aufsatz:
Hier flattern Sentenzen oder Wörter wie "Blutsdeutsche", "völkisches Leben" und "Deutschen Heilbringenden" umher. "Das Deutschtum braucht Edelinge. Es muss zur Scheidung der Geister kommen," philosophiert Muck. "Schafft nicht der Adel den edlen Menschen, so schafft sich das Deutschtum einen neuen Adel. Nicht den des Sozialismus - den der Gerechtigkeit - der Heimatkraft." So klingen hier Momente des deutschnationalen Kultur- und Heimatbegriffs sowie völkischen Denkens an. Trotzdem stützt dies nicht, das krasse Urteil vom Rassenideologen, zumal die realen Aktivitäten der Neuen Schar von Nächstenliebe, Verträglichkeit, Freundschaft und Völkerversöhnung bestimmt waren. Ihre Tänze, Spiele und Lieder schürten nicht die Angst vor dem Fremden, sondern förderten das gegenseitige Verstehen und Vertrauen. Vor allem schafften sie eine emotionale Gestimmtheit, die der Kooperation zwischen den Menschen unbedingt zuträglich war. Da gab es keinen Adel, keine Geführten, Verführten und Auserwählten, keine Einheimischen und Zugezogenen. Der soziale Status und die Schichtzugehörigkeit der Person war ihnen völlig gleichgültig. Beim Lesen An die Lebendigen im Adel scheint es einen Augenblick so, als könnte Muck die Brücke zum völkisch-nationalen Denken betreten. Er tut es nicht, beschreitet, wie die Thesen zur
bezeugen, einen anderen Weg. Das war 1918/19. In einer Replik zur
von 1931 stellt sich dies anders dar. Vom Bürgertum fordert er jetzt die Bereitschaft "mit den Freiwilligen bereits die neue Ordnung zu schaffen, die unbedingt notwendig ist, will man einen Staat überleiten in eine völkische Ordnung". Was versteht Friedrich Muck-Lamberty hier unter "völkischer Ordnung"? Gemeinhin gründet sie damals auf der Idee rassischer Homogenität, die der Staat der Volksgemeinschaft schaffen und sichern muss, worauf die Rassenpolitik des Nationalsozialismus und des Dritten Reiches abzielt. Nähert sich Muck 1 9 3 1 diesen Auffassungen? Eine solche Analyse erfordert für den Zeitraum von 1925 bis 1945 biographische Quellen, die (mir) nicht zugänglich oder vielleicht überhaupt nicht existieren. Einzig seine Teilnahme an der Religiösen Woche in Hildburghausen vom 19. bis 26. April 1930 und am III. Reichskongress der Kampfgemeinschaft revolutionärer Nationalsozialisten (KGRNS) vom 8. bis 9. Oktober 1932 auf der Leuchtenburg bei Kahla geben einigen, aber keineswegs umfassenden Aufschluss (siehe Kapitel: Religiöse Woche in Hildburghausen. Kampfgemeinschaft Strasser. Schwarze Front und Leuchtenburgkreis).
Zu neuen Horizonten Die Jugendbewegung der frühen Zeit ist nicht anders zu erklären, als aus der Aufgeschlossenheit weiter Kreise der jungen Generation für gute, schlichte und warme Gemeinschaft in der Bewährung auf der Fahrt (Jantzen 1957). Lange vor dem Zug der Neuen Schar durch Franken und Thüringen wanderte und reiste Muck durchs Land. Dabei müssen wir immer deutscher werden, gab Hans Breuer, gefallen am 20. April 1918 bei Verdun, 1915 im Vorwort zur Neuauflage des Zupfgeigenhansel vor. Im Unterschied hierzu betont Alfred Döblin (1878-1957) die kulturell-geistige Aufgaben. Reisen erweitert den Horizont, ermahnt er 1926 die Mobilitätsfanatiker und Kilometerfresser, aber wo keiner ist, vergrössert sich lediglich das Mundwerk. Der Wanderer findet zur Natur, entdeckt die Heimat, schliesst Freundschaften und vervollkommnet seine beruflichen Fertigkeiten. Die wandernde Jugend kannte die Bürstenmacher in Sachsen, die Drechsler in Thüringen und im Erzgebirge, die Töpfer von Bürgel, Bunzlau, Velten, Vordamm, St. Ullrich, von Bayern und der Rhön. Von ihnen, schreibt Muck 1929 in Jugendbewegung, Handwerk und Volksfest (8-10) weiter, wissen die Sonntagswanderer nichts, da sie nur selten den Schaffenden antreffen. "Die deutsche Jugend hat sich das Handwerksleben gründlich angesehen, und hat durch Wanderungen (Wandlungen) durch die Heimat und ins Volksleben hinein einen ganz anderen Sinn für Volk und Staat entwickelt. Erwandert? auf der Wanderschaft, sich umzusehen." Hans Breuer war hingegen allein von der Vorstellung beherrscht:
Obwohl Muck dem Deutschtum in eigener Weise zugeneigt, versteht er das Wandern mehr im Sinne von Alfred Döblin als von Hans Breuer. Es dient also der Lebensertüchtigung, schult die realistische Weltbetrachtung, übt das autodidaktische Lernen und schärft die empathischen Fähigkeiten. Zu neuen Horizonten, drängt es ihn.
Wanderung
mit Karl Bittel Im Archiv der deutschen Jugendbewegung Burg Ludwigstein befindet sich ein Foto mit der Jahresangabe 1911. Darauf ist Friedrich Muck-Lamberty zusammen mit Karl Bittel (1892-1969) bei einer Rast unterhalb von Schloss Werenwag im oberen Donautal zu erkennen. Es könnte vielleicht ihrer Italienwanderung entstammen. Als Bittel 1919 zu den Kommunisten einschwenkt, trennen sich ihre Wege. Ursache dafür waren wahrscheinlich nicht politische Differenzen, sondern einfach nur die Lebensumstände.
Acht Jahre nach der Wanderung referiert Muck darüber auf einer Versammlung der Deutschen Volksgemeinschaft in Hannoversch-Münden: Während dieser Zeit lebte und arbeitete ich zusammen mit zwei Burschen auf einem Hof in Meran (Tirol). "Am Abend waren wir ermüdet und konnten nicht viel für die Gemeinschaft des Volkes tun". Ihm kommt der Gedanke: "Für uns muss es einfach andere Möglichkeiten geben, wie wir die Schaffensfreudigkeit und die seelisch starken Werte unserer deutschen Jugend für die Gesundung unseres Volkes verwenden können. Lenken wir die junge Schaffenslust und den freien Willen zum einfachen, herben Leben auf die Handwerksarbeit; dort kann jeder sich mannigfaltig auswirken und durch seinen guten, lebendigen Geist auch für das ganze Volk wirken." Mucks Wanderfreund machte später sein Abitur in Freiburg (Breisgau), absolvierte an der Universität ein Teil des Studiums und engagierte sich beim Wandervogel. Ab 5. Oktober 1918 verfasst er Politische Rundbriefe, die sich ab Januar 1919 als Organ der freideutschen Sozialisten verstehen. "Kommt nun weiter herbei und schart euch alle um unser Gaublatt", ruft Karl Bittel 1911 im Blatt für Jugendwandern in Baden und Schwaben den Wandervögeln zu. "Wir, die Jugend, die sich aufbäumt gegen Ungesundes, die wir stark werden wollen draußen in der Natur, wir kennen alle eine solche Begeisterung: die Begeisterung für eine große Sache - für unseren deutschen Wandervogel! - Heil ihm!" Der Wandervogel adaptierte die Idee von der halbländlichen Siedlung Jungau vom Dichter Emil Gött (1864-1908). Ebenso teilen Muck und sein Wanderfreund das Interesse an der Siedlungsfrage. Wenn es nach Karl Bittel geht, soll die Genossenschaft an die Stelle der Lohnarbeit und Klassenherrschaft treten. Dieser Geist soll in die Schulen einziehen. Man schlägt Schülerräte und Schülergenossenschaften vor. (Vgl. Frobenius 183) Um 1913 war Bittel im Konsumverein Esslingen tätig. Aus der Stadt am Neckar sendet Muck im September desselben Jahres in Neuland in Sicht! an Freunde und Führer der Jugend die Botschaft:
Aufmerksam verfolgt er die sozialen Experimente zur Siedlungsfrage. "Weiss jemand über kommunistische Gründungen mehr zu sagen?", fragt Muck. Und sechs Jahre später in Siedlungsmöglichkeiten die Bilanz:
Muck eröffnete in den Flugblättern für Jungdeutsche Siedlung (1919), dass er Anfang Juni 1914 mit Georg Peters zusammen die Eekkamp-Gesellschaft ins Leben rufen und zusammen mit Heinrich von Smissen die Siedlungspläne einer Handwerkergemeinschaft mit Umwertungsstelle durchführen will. Es kommt der Krieg. Smissen und Peters fallen in Russland. Als Muck vom Militärdienst wieder heimgekehrt, greift er die Idee wieder auf. Sie muss, erläutert er den Teilnehmern einer Versammlung der deutschen Volksgemeinschaft 1919 in Hannoversch-Münden, besonders der Jugend zur Entfaltung ihres Talents dienen. Deshalb "Lenken wir die junge Schaffenslust und den freien Willen zum einfachen, herben Leben auf die Handwerksarbeit; dort kann jeder sich mannigfaltig auswirken und durch seinen guten, lebendigen Geist auch vorbildlich für das ganze Volk wirken." (Siedlungsmöglichkeiten) Sein Plan ist folgender:
Es soll ein neuer Markt entstehen, der das Talent und die Mühen vom Gesellen und Meister im Preis anerkennt. Muck will, dass die "Masse ihre Mittel" zu ihnen trägt und sie nicht wie bisher "von rücksichtslosen Kaufleuten ausgenutzt" werden. Der neue Markt erlöst die Handwerker aus dem "Zustand der Geldprobleme", hofft er. Das Projekt einer Handwerkergemeinschaft lässt Muck nie wieder los. "Noch heute ist es möglich um den Ludwigstein Handwerker und Kunsthandwerker sesshaft zu machen", teilt er 1957 an die Jugendburg Ludwigstein mit.
Bei Eklöh in Lüdenschscheid / Westfalen nach oben Pfingsten 1913 kam Muck zum Wandervogel-Bundestag auf der Henneburg nahe Meiningen mit dem Sera-Kreis in Berührung. Den Einzug des singenden Heereszugzuges der Jugend mit Karl Brügmann an der Spitze, erlebte Wilhelm Flitner (Jena) als ein beeindruckendes Schauspiel, für das sich jeder interessierte, dem Volkslied und Volkstanz etwas tiefer geworden. Hier begegneten sich zum ersten Mal der Kaufmann Hans Eklöh aus Lüdenscheid (Westfalen) und Friedrich Muck-Lamberty. Sofort fanden sie sich sympathisch. Der Chef von Haus Eklöh, deutsche Wertarbeit Lüdenschscheid / Westfalen, lernte Muck, wie er später erklärt, als einen "Idealmenschen" kennen. Im Oktober stellt er ihn in seiner Firma an. Zuvor spendierte der Sportartikel-Händler Muck noch einige hundert Mark für Reisen. Als er dann in Lüdenscheid eintrifft, mietet der Unternehmer in der Nachbarschaft für ihn ein Zimmer an, sorgt für Taschengeld und etwas Kleidung. Der Neue arbeitet nur den halben Tag. In der verbleibenden Zeit widmet er sich oft seinen Studien. Zum Essen sitzt der Mitarbeiter beim Hausherr mit am Tisch. Idealismus und Arbeitskraft, bemerkt nach wenigen Wochen der Arbeitgeber, liefen aber darauf hinaus, ihn selbst überall Bekannt zu machen. "Macht wollt er erringen!", empört sich der Kaufmann am 14. Juni 1914 im Brief an Hans Paasche. Er hatte die Idee, das Haus Eklöh, wenn es weiter aufwärtsgeht, einmal gemeinnützig zu betreiben. Muck, der jede Sache mit Nachdruck in die Welt zu setzen wusste, stellte dies, klagt Eklöh, wann immer als seine Idee heraus. Im Januar 1914 kommt Georg Peters nach Lüdenscheid. Auch ihn ernährt und kleidet das Haus Eklöh. Dann und wann arbeitet er etwas dafür. Auf Dienstreise, um einen Auftrag in einer benachbarten Stadt einzuholen, verursachte er in zwei Tagen 30 Mark Geschäftsspesen. Dem Freund, jammert Hans Eklöh vor, `er hat für 7 Mark Törtchen gefressen`. Etwa ab Januar 1914 arbeiten Georg Peters und Friedrich Muck-Lamberty an der Werbeschrift
Sie erscheint noch selben Jahr im Verlag Eklöh in Lüdenscheid. Zur Herkunft der Zeichnungen gibt es unterschiedliche Aussagen. Im Brief an Hans Paasche stellt Herausgeber Eklöh fest, dass die Kleiderentwürfe von Friebus, Ungewitter und anderen stammen. In der Einleitung zur Werbeschrift ordnet er sie "mit einigen Ausnahmen" dem Historienmaler Ludwig Max Roth in Düsseldorf zu, die er "nach Kleiderentwürfen von Friedrich Muck-Lamberty" anfertigte. Unter der Überschrift Was können wir tun? formulieren Muck und Georg Peters Einige Worte an die Freunde deutscher Erneuerung über Umgestaltung bestehender Einrichtungen. Es ist eine Art Vorwort zum Katalog. Ihr Konzept erläutern sie so: "Wir wollen Arbeit schaffen, die Zweckmäßigkeit und Schönheit in sich vereinigt, und die so mit der Natur organisch verbunden ist. - Wir wollen den Sinn für die Wertarbeit heben und ganz für die gute Sache einsetzen." Sie leitet nicht "die dumpfe Gewohnheit des nur umsetzenden Kaufmanns". Sondern sie "schaffen was jetzt die Jugend will": Die ".... will sich frei machen von undeutschen Einflüssen, will die Organe und Gliedmassen sich im freien Spiel der Kräfte ungestört entwickeln lassen in den einzig schönen und wahren Formen, die die Natur geschaffen hat."
Die Werbeschrift war das wichtigste Arbeitsergebnis von Lamberty und Peters in Lüdenscheid. Überdies machten beide dem Eklöh, der ohnehin in keiner guten gesundheitlichen Verfassung war, viel Ärger. Eine Kur tut not. Während dieser Zeit, so die Überlieferung, steigerten sich die Machtgelüste von Muck. "Der Eklöh", so wurde geredet, " ist ein kranker Mann, wir machen das Geschäft." Als er aus der Kur heimkehrte, will er das Duo loswerden. Muck wurde grob, ging aber nicht. Wenn ihn aber jemand an den Wagen fahren wollte, so lernte ihn Hans Eklöh kennen, konnte er saugrob werden. Nach einigen Tagen kam es wieder zu Auseinandersetzungen. Erneut wies ihm der Hausherr die Tür. Nun wählt er provokativ zu den Mahlzeiten seinen Platz am Familientisch. Zum 1. Mai 1914 kündigte Eklöh ihm das Zimmer. Nach einigen hin und her verlässt Muck das Haus. Muck und Peters erhalten vom Chef noch 250 Mark Reiseunterstützung. Ihre Nachforderungen will er dann nicht mehr erfüllen.
Eine
Demonstration gegen den verlogenen
Hunderte Jugendliche und Junggebliebene wanderten am Wochenende des 11. und 12. Oktober 1913 zum Fest der Jugend auf dem östlich von Hessisch Lichtenau (Nordhessen) gelegenen Hohen Meißner. Fern allen Trubels der offiziellen Veranstaltungen zur Einweihung des 91 Meter hohen Denkmals zu Wiederkehr des 100. Jahrestages der Völkerschlacht bei Leipzig, gelobt die Freideutsche Jugend im Kreis Gleichgesinnter, den Patrioten des Befreiungskrieges von 1813 nachzustreben. Auf dem Berg, darüber sollte Klarheit bestehen, trifft sich die bürgerliche Jugend, "die erblichen Herrscher unserer Gesellschaft", wie Siegfried Bernfeld sagt (1925, 99). Die Arbeiterjugend kommt nicht. Elly Bommersheim (*1893) ist auf dem Weg zum Bergplateau, als sie der in einem langen Kittel aus rauem Leinen gekleidete Tolstoi-aner Gusto Gräser (1879-1958) überholt. Kurze Hosen geben die braunen Beine frei. Eine Stirnkette aus Hagebutten hält die langen Haare zusammen. Sie ist beeindruckt von seinem mächtigen Bart. Kommt Gusto Gräser, darf Muck nicht fehlen. Erst kürzlich in Lüdenscheid fasste er mit seinem Freund Georg Peters den Vorsatz: "Wir müssen uns nicht absondern und dürfen nicht weltfremd werden; wir dürfen nicht egoistisch nur in kleinen Kreisen das Leben, was wir einmal für das Wohl der Gesamtheit erkannt haben." Und er fühlt sich hier beim Jugendtreffen ganz in seinem Element. Es ergreift ihn tief. Warum sonst, will er es nach dem Krieg wiederbeleben?
Als Deutschland 1913 zur Jahrhundertfeier der Völkerschlacht rüstete, erhält der Einigungsgedanke in den verschiedenen Jugendorganisationen neuen Auftrieb. Es war der Plan des Deutschen Bundes Abstinenter Studenten gegen den zu erwartenden Alkohol-Exzess bei der Einweihung des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig zu demonstrieren, den die Deutsche Akademische Freischar aufgriff. Beim Vortrupp Leipzig tauchte ein ähnlicher Gedanke auf. Der Plan, sagt Eugen Diederichs, ging von der Münchner Freischar aus. Zu Pfingsten will man über die Vorbereitung in Jena beraten. Sera als Gastgeber dirigierte die 30 Delegierte in das angesehene Hotel Weimarische Hof. Einige sagen elf, andere sagen dreizehn Verbände folgten der Einladung der Deutschen Akademischen Freischar (DAF). Bis auf den Wandervogel e.V. war der Teilnehmerkreis identisch mit den Unterzeichnern des ersten Aufrufs zum Fest. Starken Widerhall fand die Protest-Idee, befeuert von der Begeisterung für die Lebensreformbewegung. Schwieriger war schon, sich darüber klar zu werden, wo man sich treffen wollte. Einige konnten sich zunächst eine Angliederung an die Leipziger Feierlichkeiten vorstellen. Die DAF war dafür, dass Fest in Weimar oder Jena durchzuführen. Der Göttinger Philologie Student Christian Schneehagen (1891-5.4.1918) schlug, was allgemeine Zustimmung fand, den Hohen Meissner als Ort des Festes vor. Zudem bildete sich die Einsicht, den Willen in die Zukunft zu richten und die Erinnerung an 1 8 1 3 zur Selbstbestimmung weiterzuführen (Mittelstrass). Bei der Organisation taten sich dann vor allem die Mitglieder der Deutschen Akademischen Freischar, speziell Christian Schneehagen, die Freunde von der Akademischen Vereinigung und besonders Franziskus Hähnel, Geschäftsführer des Vortrupps Leipzig, hervor. Auf der Tagung wurden ebenso Möglichkeiten des Zusammenschlusses erörtert. "Es hatte wirklich nur der Berührung bedurft", kommentiert 1963 Knud Ahlborn (108) die Zusammenkunft, "und der innere Zusammenhang zwischen den Jugendgruppen war hergestellt." Aus dem Gemeinschaftsgeist heraus schlug Friedrich Wilhelm Fulda, was allseits Zustimmung fand, den Namen Freideutsche Jugend vor. Ihre Wurzeln reichen zurück bis zum Steglitzer Wandervogel (1896) und Hamburger Wanderverein (1905). Dann entstanden die Akademischen Freischaren. Die erste gründete Knud Ahlborn 1906 in Göttingen zusammen mit Hans Harbeck. Sie bewährten sich im freideutschen Gemeinschaftsleben als eine Grundform des Zusammenschlusses von nicht auf Übereinstimmung beruhender persönlicher Anschauungen. Zugleich bildete sich das Bestreben nach Einigung, wie das Ideal von der Erziehungsgemeinschaft weiter Form annahm. Ihr zentraler moralischer Wert war die Selbstbestimmung. Gemäss dieser Vorstellung sollen der Jugend die Ideale nicht von außen eingepflanzt werden, sondern sie soll selber über ihr eigenes Leben nachdenken und entscheiden.
Wie nicht anders zu erwarten, trafen bei der Nominierung der Redner in Jena unterschiedliche Meinungen aufeinander. Mit acht Stimmen, einer Gegenstimme und zwei Enthaltungen beschlossen sie, dass Gottfried Traub (1869-1956) sprechen soll (vgl. Henrichs 37). 1913 genoss der vom Dienst suspendierte protestantische Pfarrer wegen der Kritik an einen altpreußischen Oberkirchenrat einen Sympathie-Bonus. Als Redner war zunächst auch Hans Breuer vom Steglitzer Wandervogel e.V. und Herausgeber des Zupfgeigenhansel nominiert, der dann am Fest, wie der gesamte Wandervogel e.V., nicht teilnahm. Bisweilen wird über die Gründe gerätselt, obwohl die ziemlich klar: Die inhaltlichen Differenzen, waren einfach zu gross.
Mit erstaunlich klarer Zielstellung, einen, wie Susanne Rappe-Weber (2012/2013) formuliert, "stabilen Kern von Formen und Themen", unterzeichnet von Knud Ahlborn (Deutsche Akademische Freischar), erschien im Sommer in der Wandervogel-Führerzeitung (Heft 7, 1913), der
Hier bekennen die Freideutschen:
In Vorbereitung auf 11. / 12. Oktober erklärt die Jugendzeitschrift Der Anfang (Heft 5):
Auch in Tageszeitungen, zum Beispiel im Jenaer Volksblatt vom 22. Juli 1913, kündigen die Organisatoren das Treffen auf dem Hohen Meissner bei Bebra an. Dort wollen wir uns, teilen die Deutsche Akademische Freischar und andere mit, zu gemeinsamer Arbeit verbrüdern. Publikumswirksam wenden sie sich gegen den unfruchtbaren Patriotismus, was ab nicht bedeuten muss, dass ein jeder Patriotismus schlecht und abzulehnen ist. Clara Zetkin unterschied 1907 zwischen dem konservativen "Patriotismus der herrschenden Klasse" und revolutionären "Patriotismus des Proletariats". Zwischen den Freideutschen und der Arbeiterjugend war also ein konstruktiver politischer Dialog durchaus denkbar. Von Beginn an hatte das Meissner-Treffen einen "oppositionellen Anspruch" (Volker Weiß 2013). Den nationalistischen Tendenzen der wilhelminischen Erziehung, dem falschen Patriotismus, der allgemeinen Kriegstreiberei und dem verbreiteten Alkoholmissbrauch standen nahezu alle kritisch gegenüber. Die berühmte Meissner-Formel stärkte die moralischen Kräfte der Jugend und ihre Fähigkeit zur Selbsterziehung, was die Nation hoffen lassen durfte. Der z w e i t e Aufruf im Gaublatt Nordmark des Wandervogels e. V. verkündet: "Die deutsche Jugend steht an einem geschichtlichen Wendpunkt." Sie muss sich selbst finden. Auf dem Meissner will sie der Öffentlichkeit ihren Weg darstellen. Es unterzeichneten (nach FdJ 94):
Die "Korrespondenz des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie" warnt in seiner Ausgabe vom 1. Oktober 1913 vor dem Jugend-Meeting. Das Propaganda-Organ der Deutschnationalen, Deutschvölkischen und militanten Kreise befürchtet, dass die patriotische Kernaufgabe, der Wille des deutschen Volkes zur äußeren Machterweiterung durch das Jugendtreffen in Frage gestellt wird. Einige Zeitungen kolportierten dies umgehend als "Warnung vor dem Freideutschen Jugendtag". Die Halbmonatsschrift "Der Vortrupp" (Leipzig) fegte es beim "Großreinemachen" in der Nummer 22 vom 16. November 1913 in den ideologischen Müll. Vorher hatte sie diesen öffentlichen Vorwurf als Fälschung identifiziert und zurückgewiesen. Denn es ist völlig klar, die Meissner lehnten lediglich, wie es in dem im Juni verabschiedeten Aufruf hieß, "den unfruchtbaren Patriotismus, der nur in Worten und Gefühlen schwelgt", ab.
Am V o r a b e n d des Meissner-Treffens halten im Rittersaal der Burg Hanstein 600 Vertreter der verschiedenen Bünde und Vereine Rundsprache. Aus der älteren Generation waren nur wenige Vertreter anwesend. Linsensuppe und Nudeln kamen auf die gedeckten Tische. Aber wie bei den Freideutschen üblich, kein Bier, Wein, Schnaps oder Tabak. Der Saal war dicht gefüllt und auf einmal hiess es: Bewegt euch so wenig wie möglich, die Decke bricht sonst! Alle begaben sich in den romantischen Burghof. Sogleich erfolgten aus dem Fenster einige Ansprachen, bis die meisten dann wieder in den Saal zurückkehrten. Einige tanzten, sie schienen darauf nur gewartet zu haben, wie toll weiter im Hof. Ihre Musik tönte hin wieder in den Saal, wo unter ein paar Kerzen des Kronleuchters im malerischen Halbdunkel (Avenarius) Volkserzieher und Lebensreformer, Vortrupp, Siedlerbund und deutschnational gesinnter Handlungsgehilfenverband, Vertreter der Verbände und Bünde der Lebensreform-, Alkoholabstinenz- und Bildungsbewegung zusammensitzen. "Zuerst redeten die Älteren, sie wollten die Jugend an den Wagen ihrer Bestrebungen spannen," notierte Eugen Diederichs in seinen persönlichen Aufzeichnungen, "aber die Jugend wehrte sich, sie wollte bei keiner Partei sein.
Den einleitenden Vortrag übernahm
von der Deutschen Akademischen Freischar. Der Marburger Student lehnt alle autoritären und suggestiven Strömungen ab und erhebt die Forderung nach Wahrhaftigkeit, Selbstverantwortlichkeit sowie "völlige Freiheit von jeder Beeinflussung von aussen". "Die Selbsterziehung soll unsere Losung sein ....", wiederholt er am 7. / 8. März 1914 auf dem ersten Vertretertag der Freideutschen Jugend in Marburg. Eindrucksvoll zeichnet er die Reformfeindlichkeit des Staates nach:
Lemkes Hanstein-Rede, so damals die allgemeine Auffassung, erzielte sichtbar gute Wirkung bei der Mittelschul- und studentischen Jugend. Zu Wort kamen weiter der Autor von Helmut Harringa Doktor Hermann Popert, Kapitänleutnant a.D. Hans Paasche für den Vortrupp, der Herausgeber des Kunstwart Ferdinand Avenarius, Doktor Hermann Ullmann für den Dührerbund, Gustav Wyneken von der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, Willie Jahn für den Jungwandervogel und Professor Ernst Keil als Vertreter des österreichischen Wandervogels. Alle versuchten, die Jugend für sich zu gewinnen. Ausser Karl Bittel (vgl. 1963). Er durfte, "als roter Freideutscher gebrandmarkt", "an der exklusiven Rundsprache auf der Burg Hanstein nicht teilnehmen", was er nie verwunden. Die eigentlichen Bedürfnisse der Jugend kamen im Eifer des Gefechts, wirft zu fortgeschrittener Stunde Gustav Wyneken auf den H a n s t e i n in die Diskussion, nicht zur Sprache. Frank Fischer (Wandervogel) verewigt den Moment mit der Notiz: "Verlangte Gedankenhöhe, klare Luft. Geistesleben übernational, Auffassungen Fichtes und Gneisenaus. Frei von Parteizwecken." Im Saal herrschte ein zwiespältiges Gefühl, weil man nicht wusste, was nun werden sollte. Wie auch? Lemke propagierte die Selbsterziehung, Popert die Rassenhygiene und Wyneken die Jugendkultur. "Interessant waren", teilt 1919 (10) Gustav Mittelstrass mit, "die Ausführungen eines Reformburschenschafters, der erzählte, wie sie von der "anderen Seite" zur Freideutschen Jugend gekommen seien." Ein Teilnehmer, der sogleich zu Ruhe ermahnt, rief dazwischen, ob die Erörterung der Judenfrage verboten sei. Ein anderer forderte unter dem Jubel der Vortruppleute zum Ende hin, dass man das deutsche Volk aus der moralischen Gefährdung erlösen müsse. Schliesslich musste die Tagungsleitung die Redeschlacht beenden. Zuvor fasste man den Beschluss, zur Selbstentwicklung der Jugend einen Verband der Freideutschen Jugend zu bilden. Mit der Organisation wurde die Deutsche Akademische Freischar beauftragt. Einigen stand nach dem langen Abend noch ein Marsch von bis zu zwei Stunden durch die regnerische Nacht zum Quartier bevor. Andere übernachteten in Zeltlagern. Letztlich glückte es auf dem Hanstein nicht, dass vereinende auszudrücken. Die äusseren Umstände waren dafür nicht gerade günstig. Niemals rechneten die Organisatoren mit so vielen Teilnehmern. Die Aussprache war viel, viel kleiner geplant. Und zu gross waren die Meinungsverschiedenheiten. Immerhin stimmten sie, was fast unbemerkt blieb, in der methodischen Ausrichtung der Jugendarbeit überein: Wahrhaftigkeit, Natürlichkeit, Geradheit und Echtheit. So gesehen war es dann nicht zufällig, dass es am nächsten Morgen Gustav Francke, Erwin von Hattingberg und Knud Ahlborn (1964, 43) beim Aufstieg zum Meissner gelang, den Entwurf für eine gemeinsame Erklärung zu formulieren, die im Verlauf des Tages zur Abstimmung gelangte.
Als wir am M o r g e n des 11. Oktober aus dem Heu krochen, erinnert sich Gustav Mittelstrass (1919, 12), sah es trübe aus. Kühles Wetter. Oben in 754 Meter Höhe klart es leidlich auf. Zögerlich schaut die Sonne heraus. Allmählich entsteht ein buntes und lebendiges Bild. Unter freiem Himmel, im jugendlichen Stil, oft mit einem schlichten Kittel gekleidet, lagern sie. Einfach- und natürlich. Frank Fischer erkennt "Die Wickersdorfer `Läuferinnen` in Dunkelblau. Gusto Gräser mit Stirnriemen und Fruchthängematte. Der fanatisch national-hetzende und wieder seltsam gemütliche Professor Keil aus Österreich. Schweitzer Wandervögel und Freischärler. `Anfang`, Siegfried Bernfeld aus Wien." Viele werden diesen Tag zeit ihres Lebens nicht vergessen. "Es sind nicht sehr viele. Aber sie sind die, auf die es ankommt", womit Siegfried Bernfeld (1925, 98f.) auf die herausragende Rolle der bürgerlichen Jugend in der Gesellschaft anspielt.
Auf der Waldwiese, unterhalb der Bergkuppe tummeln sich mittlerweile 2 000 Jugendliche mit ihren Gästen. Gegen 1 Uhr mittags beginnt das Abkochen. Ihr Festmahl wird eine Linsensuppe. Andere kochen ein paar Nudeln. Ab 3 Uhr n a c h m i t t a g s bot das Programm volkstümliche Tänze, Spiele und Wettkämpfe. Alles ohne Alkohol und Nikotin. Männer und Frauen aus den unterschiedlichsten Bünden bilden grössere Gruppen und diskutieren über nationale Erziehung, Pazifismus, Frauenstimmrecht, Tierschutz, vegetarische Ernährung, alternative Wohnprojekte und Rassenhygiene. Karl Brügmann führte den Sera-Kreis an und leitete Gesang, Tanz und Spielmusik. "Sera war durch ein Dutzend Jungen in Schaube und Barett und Mädels im Kupfergewand vertreten, verstärkt durch die akademische Vereinigung in Marburg in gleicher Gewandung, so dass wir", erinnert sich Eugen Diederichs (1936, 223), "eine höchst ansehnliche farbige Schar von einheitlicher Haltung waren ...." Alfred Kurella, Hans Paasche, Walter Hammer und Muck umringen Gusto Gräser. Von einigen belächelt, von anderen bewundert. Sie sprechen über seine Sorgen und Nöte. Gusto verweigert später - wie Paasche - den Kriegsdienst. Beide fordern den Umsturz, beide kommen ins Irrenhaus, entgehen mit knapper Not ihrer Hinrichtung. "Während der Siebenbürger in der Revolution mit Verhaftung und Ausweisung davonkommt, erleidet Paasche ein fürchterliches Ende." (Hermann Müller) Freikorpsmitglieder erschiessen den Mitherausgeber des Vortrupps (1912) und aktiven Lebensreformer, der 1918/19 Mitglied des Arbeiter- und Soldaten-Vollzugsrates war, am 21. Mai 1920 vor den Augen seiner Kinder auf dem eigenen Grundstück beim Fischen. Kurt Tucholsky hält an seinem Grab eine bewegende Rede. Karl Bittel (1892-1969) trifft mit Muck-Lamberty und Ernst Joel, der im Sommer 1913 den Deutschen Siedlerbund gegründet hatte, zusammen. Inspiriert von den Freiburger Wandervögeln erörterte man die Idee der halbländlichen Siedlung Jungau (Messer 1924, 21). "Wir waren Studenten aus Tübingen und hatten ein Flugblatt mitgebracht," schreibt Karl Bittel 1963, "das sich mit gesellschaftlichen Problemen beschäftigte und zur Gründung von Studentengenossenschaften aufrief, die sich der Arbeiter-Konsumgenossenschaft anschließen sollten. Die Verteilung des "roten Flugblattes" wurde von der Leitung sofort verboten, so dass es illegal geschehen musste." Noch fünfzig Jahre später, ist ihm im Historischen Rückblick auf den Freideutschen Jugendtag die Enttäuschung darüber anzumerken. Anders bei Muck-Lamberty. Seine Erinnerungen an den Jugendtag sind ungebrochen. Am 14. November 1918 ruft er aus Bramwalde an der Weser (nahe Hannoversch Münden) den Freideutschen zu:
"Nur in Deutschland herrschen Klassen- und harter Parteienkampf. Wir wollen uns zur Volksgemeinschaft wandeln, wirbt er. "Noch einmal müssen wir uns treffen," bittet er im Januar 1919 in
"anders als 1913 auf dem Meissner; klarer, fester und sicherer." Wir müssen uns als Tatmenschen zeigen, als eine junge deutsche Gemeinschaft, die Lebenskraft in sich hat, die aus sich schafft, die Opfer bringen kann. "Lasst uns bald treffen, nicht auf kleinen Tagungen,
und gründen wir den Bund der Freideutschen oder wie wir es nennen wollen." Das Vorhaben zerschlägt sich. Er nimmt einen neuen Anlauf, worüber noch in Verbindung mit der Tagung der Freideutschen Jugendtagung im April 1919 in Jena zu sprechen sein wird.
Nachmittags begannen die Vorträge. Die Hauptredner Knud Ahlborn, Gottfried Traub, Gustav Wyneken und Ferdinand Avenarius bildeten ein wunderliches Quartett (Franz Walter 2013). Martin Luserke (1880-1968), Mitarbeiter und Nachfolger von Wyneken in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, der ihm später "die ganze Schuld an dem Zerwürfnis" zuweist, pochte auf die Autonomie der Jugend und schaffte damit nach oft geäusserter Meinung einen guten Auftakt. Der im Juli 1913 zum Vorsitzenden des österreichischen Wandervogels gewählte Mittelschul-Professor Ernst Keil sprach nach der Preisverleihung für die Sieger kleiner sportlicher Wettkämpfe, über die bedrohte Lage der Deutschen im verbündeten Donaureich und die segensreiche Tätigkeit ihrer Schutzvereine. "Er wandte sich . unter grossen Beifall gegen die unmännlichen Friedensbestrebungen unter den Deutschen, die von Feinden umringt seien, und gab der Hoffnung Ausdruck, dass bei der zu erwartenden blutigen Auseinandersetzung des Deutschtums mit seinen Gegnern Deutsche und Österreicher Schulter an Schulter kämpfen." Damit wurde, stellt das Deutsche Mährerblatt drei Tage später fest, "eine Note angeschlagen, die zwar nicht im Sinne der Festveranstalter lag, bei einer Erinnerungsfeier an die Zeit der Befreiungskriege, aber nicht fehlen durfte." (Grazer Tagblatt, 20. Oktober 1913) "Nachdem noch einige Redner gesprochen hatten", erläutert Gustav Mittelstrass (1919,12,13) den weiteren Ablauf, "tauchte plötzlich die Einigungsformel auf, deren einstimmige und freudige Annahme die Verhandlungen beendete." Sie lautet:
Damit legten sie sich, wie Friedrich Avenrius kurz darauf im Kunstwart (München) kommentiert, auf keine Bewegung fest, sie erkannte nur eins an: "die unbedingte Wahrhaftigkeit als die Form jeden Strebens". Knud Ahlborn, Gründer der Deutschen Akademischen Freischar Göttingen und in den zwanziger Jahren Ko-Herausgeber der Zeitschrift Junge Menschen, betrachtet es als Vorteil, dass die Meissner-Formel sich auf kein Parteiprogramm festlegte. Trotzdem erachtete sie Fritz Borinski (1977, 15) die Jugend wichtiger als das Leipziger Parteiprogramm der Deutschen Demokratischen Partei von 1919. Der Kampf um die Wahrhaftigkeit, Echtheit, die Veredlung der Geselligkeit, wie sie bereits als Forderung im zweiten Aufruf zum Treffen erhoben, und den aufflammenden Jugendgeist gegen den Doktrinismus der Alten zu wenden, das war die Sache der Meissner. Sie trägt die Neue Schar im Sommer 1920 durch Franken und Thüringen. Mal als Vaterlandsliebe verkleidet, dann im Bekenntnis zum Deutschtum verpackt oder im Ruf nach der einigenden Staatsidee, kreisen die Gedanken der Festredner um die nationale Frage. "Was 1813 gross gemacht hat, das ist der sittliche Wille. Es war das Schwert," erklärte zum Sonnenuntergang Gottfried Traub (1869-1955), "das Kant und Schiller dem deutschen Volk reichten " War das wirklich so? Oder war es Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre (1798) von Johann Gottlieb Fichte, der dem Staat den Dienst am Menschen zu seiner freien Entwicklung auferlegte. Bei Traub wandelt sich das von Fichte begründete unveräusserliche Recht auf Staatsumwälzung in eine Staatsapotheose. Er konstruiert eine prästabilierte Harmonie zwischen der politischen Identität des heranwachsenden Jugendlichen und dem als Einigendes über der Vaterlandsliebe stehenden Staates. Diese ".... zum persönlichen Eigentum zu gestalten, wofür unsere besten Kräfte verwertet müssen, dünkt" dem Politiker "die schönste Lösung". Selbst "wenn uns das Vaterland nicht gefällt", gehört ihm dennoch unsere Zuneigung. Lasst uns die "romantische Vaterlandsliebe" vertiefen, fordert Traub. Man "muss sich opfern können, und die Felder von 1813 rufen es uns zu,
gerade das Leben wegzuwerfen um des Ganzen willen steht höher." Durch Opfer zur Freiheit wird nach dem Weltkrieg zu einer beliebten selbstreflexiven Abstraktion der vaterländischen Verbände. Nur dazu bestieg die Jugend 1913 nicht den Basaltberg bei Kassel. Sie wollten doch ihr Leben in eigener Verantwortung gestalten. Bürgerliche und proletarische Jugend unterscheiden sich in der Haltung zum Kassenkampf, der historischen Mission der Arbeiterklasse und besonders in der Frage des Vaterlandes. Auf dem Ersten Schweizer Jugendtag Pfingsten 1915 trugen, was viel Beachtung fand, die Demonstranten die Losung vornan: "Wir Arbeiter haben kein Vaterland zu verteidigen!" (Münzenberg 1930, 179) Was Gottfried Traub an Vaterlandskitsch und Systemrührigkeit auf dem Hohen Meissner bot, war kaum besser als die hohlen Worte und leeren Phrasen, die der Vorwärts (SPD) am 18. Oktober 1913 bei der Einweihung des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig hörte. Trotz des uvre eines Anti-Meissners und seinr republikfeindlichen Haltung während des Kapp-Putsches, die Karl Brammer bereits 1922 (43) in Verfassungsgrundlagen und Hochverrat erhellte, scheute man mit dem Festredner von 1913 lange Zeit das politische Gespräch. Franz Walter gehört zu den wenigen Meissner-Disputanten, die Gottfried Traub kritisch betrachten. 2013 skizziert er im Aufsatz Jugendbewegung auf dem Berg (44), dessen politische Ambitionen bis hin zum Übertritt in das "scharf deutschnationale Lager" von Alfred Hugenberg. Und das ist noch immer nicht die ganze Fuhre. Auf dem Parteitag der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) am 19. und 20. September 1931 in Stettin, kämpft er "gegen die Vermanschung unsers Volkes". "Volkstum und Rasse" führen den DNVP-Frontmann den Katarakt des militanten Nationalismus. Die sich ausbreitende Rechenhaftigkeit, "möglichst ein gutes Konto zu erringen", welche dem "Geist spätjüdischer Religion" entspringt, setzt er den "Kampf um das sittliche Recht des Krieges" entgegen. Jedenfalls ist über die Amplituden 1913 - 1920 - 1931 die ideologiebildende Funktion seines nationaldeutsch-romantischen Vaterlandsbegriffs, völkischen Nationalismus und Willensidealismus darstellbar. (Siehe auch Henrichs 2011)
Und doch gelang es Gottfried Traub die Versammlung mitzureissen, als er mit Helmut Harringa ausrief:
Hermann Poperts gleichnamigen Roman (1917, 95) war bei der Jugend ungemein beliebt, schien ihr doch die Zukunft wieder sicher, wenn sich nur bewahrheitet, was hier zu lesen war:
Um das ideologische Skelett von Helmut Harringa baut sich die Vortrupp-Bewegung (Leipzig). Die sich hier zusammenfanden, glaubten daran, was Hermann Popert am 3. Juni 1914 in Leipzig zur Eröffnung der Vortrupp-Tagung erklärte, nämlich, das
Hier keimt der politisch verhängnisvolle Willensidealismus, der sich - wenn es sein muss - gegen Tatsachen richtet und später in der NSDAP, Hitlerjugend und Napola Einzug hält. A b e n d s wurden Fackeln ausgegeben. Dann zogen sie mit Gesang zum etwa zwei Kilometer entfernten Holzstoss. Knud Ahlborn (1919, 31) übernahm die Feuerrede. Er ruft die "ungeheure Gefahren, die uns im Inneren drohen" ins Bewusstsein. "Es brennt in diesem Hause", zitiert er die Rede von Hans Paasche vom Vortag und vollendet: "Wahrlich, er hat recht. Tausende und Hunderttausende Mitmenschen und nicht nur sie, auch viele Hunderttausende Ungeborener fallen täglich dem Feuer zum Opfer. Entseelte Arbeit macht die meisten unserer Brüder und Schwestern zu Werkzeugen und hetzt sie bis zur Austilgung der letzten Selbstbestimmung. Entseelter und entseelender Genuss kommt hinzu ...." Weit leuchtete das Feuer ins Land hinein und verkündete "aus innerer Glut wachse der Mut". Hell erschien ihnen die Zukunft, schildert 1982 (64) Elly Bommersheim die Stimmung, um dann anzufügen: "Wie viele dieser begeisterten Jünglinge fielen schon im nächsten Jahr vor Langemarck!" Über den vom Nebel eingehüllten Bergwipfel zog ein eisig kalter Oktoberwipfel. Ein leichter Regen machte das Lagern unmöglich. Und doch kamen am S o n n t a g mehr Menschen als Tags zuvor. Ein Journalist sah, teilt sein Blatt am Tag darauf mit, "über fünftausend Personen". Zum Abschluss brachte der Sera-Kreis in einem Grosszelt Goethes das Schauspiel Iphigenie auf Tauris zur Aufführung. Was recht gut ausgewählt, denn wie die älteste Tochter Agamemnons stand die freideutsche Jugend zwischen den vom Staat auferlegten Pflichten und dem Streben nach Autonomie. Bei Gesprächen, Gesang und Tanz klang das Fest aus. Vorher sprachen noch Gustav Wyneken und Ferdinand Avenarius. In den Augen vieler Freideutschen war Gustav Wyneken (1875-1964), erhob Heinz S. Rosenbusch (1973, 41), durch seinen Reformwillen, die Propagierung der Jugendkultur und Jugendzeitschrift Der Anfang zur Belastung geworden. Eine Belastung, weil er die fortschrittliche Kraft war? Wie auch immer, jedenfalls bewahrheitete sich seine Einschätzung zur Rassenideologie und aufkommenden Kriegsgefahr. Seine Kritik am repetitiven Lernen und der Verbetrieblichung der Schule floss ein in die Schulreformen nach 1918. Als einer der wenigen erkannte der Reformpädagoge die gefährliche und für Deutschland so unheilvolle Rolle des Nationalismus. Trotzdem war er für viele, was 1917 Alfred Kurella (49) auseinandersetzt, "der unleidliche Krakeeler, das abgestempelte Gespenst, ein Zerrbild aus Unkenntnis und Missverstehen. Und das darf nicht bleiben, wenn die Jugendbewegung nicht masslose Schuld auf sich laden will." Viele misstrauten ihm politisch und ermittelten wegen Vaterlandsverrat, wie die Fahndungsergebnisse des Vorarlberger Volksblatts aus Bregenz, veröffentlicht am 3. April 1914, dokumentieren:
Wegen Revolutionsverdacht verbot die Wiener Polizeidirektion den Auftritt des Reformpädagogen vor dem hiesigen Monistenbund. Mit Doktor Popert und Kapitänleutnant Paasche stand er ebenfalls auf Kriegsfuss, was nicht verwundert, wenn man nur liesst, was der Der Anfang 1913 (194) in der Nachbetrachtung zum Meissner-Treffen beurkundet, nämlich, dass gerade sie am schärfsten und am "agitatorischsten von ihrer Idee der Rassenhygiene" sprachen. So betrachtet sind die gut 400 Sympathisanten und Neugierigen, die seine Rede hören wollen, schon ziemlich viele. Er fragt:
Als ganz und gar nicht glücklich, kritisiert am 20. Oktober 1913 das Grazer Tagblatt, Organ der Deutschen Volkspartei, die Rede Wynekens, denn er "konnte es sich nicht versagen, in seinem Schlussworte gegen die Ausführungen Prof. Keils zu polemisieren und seinem Abscheu vor dem Kriege Ausdruck zu geben". Die Zeitung begrüsste, wie übrigens die Mehrzahl der Teilnehmer, dass nicht Gustav Wyneken als Festleiter, sondern
Leiter des Dürerbundes und Herausgeber der im Bildungsbürgertum viel gelesenen Zeitschrift Kunstwart, die Abschlussrede hielt. Der liebenswürdige und von schalkhaften Humor durchwehte, wie ihn Zeitgenossen beschrieben, warf die Frage auf: Könnten unsere "bombenfeste Überzeugungen" nicht wacklig werden? Der "unerschrockene Vorkämpfer für Wahrhaftigkeit", wie ihn Gustav Wyneken nennt, bedauert, dass die sozialistische Arbeiterjugend, Pfadfinder und Deutschlandbünde nicht teilnehmen wollten.
Ihr habt die Alten nicht besiegt zurück Reichlich zwei Monate nach dem Treffen äussert sich Gustav Wyneken höchst unzufrieden Zum Freideutschen Jugendtag (109): "Noch fehlt es der Jugend sehr an Kritik, an Festigkeit, an psychischen Reserven, noch ist ihre Begeisterung viel zu sehr eine aufgerührte Oberfläche, noch folgt die Jugend viel zu leicht einem jeden, der ihr in der Uniform einer geltenden Phrase oder eines approbierten Ideals sein Kommando zuschmettert.
Auch der linksliberale Professor für Philosophie und Pädagogik Paul Natorp aus Marburg übte Kritik. Bisher liess sich nach seiner Auffassung der Wandervogel kaum vom Klassen-, Parteien- oder Konfessionshass anstecken. Mit Sorge sah er nun, dass auf dem Meissner der verworrene Begriff der Rassenhygiene in die Jugendorganisationen drängte. Das trifft sich mit dem, was Der Anfang (1913, 194) beobachtetet: Doktor Popert und Kapitänleutnant Paasche, traten am schärfsten hervor und sprachen am "agitatorischsten von ihrer Idee der Rassenhygiene." Der Autor von Helmut Harringa erwartete, was sie glücklicherweise nicht tat, "dass sich die Freideutsche Jugend in dem Willen zur Rassenhygiene einigen werde".
Einige Meissner klopften nationalistische Phrasen, was in der Verschmelzung der Persönlichkeit mit dem Staat endete und dem Vorsatz zuwiderlief, dass Leben nach eigener Bestimmung, in eigener Verantwortung zu führen. Wyneken (1913/1919, 108/109) erkannte die ungeheuren Gefahren, die hiervon für die Kultur des politischen Denkens ausgingen und warnt:
Natürlich hemmte der Nationalismus die politische Emanzipation der Jugend, zumal jener nicht viel mehr zu bieten vermochte, als die "Weltstellung des Deutschtums" (Fritz Bley), den Kampf um das Deutschtum und die Anbetung eines über den sozialen Klassen stehenden Patriotismus im Dienste des Krieges.
Dass die Freideutschen mit der Arbeiterjugend quer lagen, war nun angesichts ihres Fernbleibens vom Meissner-Treffen offensichtlich. Die einen erkannten nicht, wie es 1963 Harald Schultz-Hencke kommentierte, klar die Tragweite ihrer materiellen Gebundenheit, während die anderen an bestimmten Theorien der Erlösung aus ihrer Abhängigkeit als Lohnarbeiter festhielten. Allein die Sechs-Tage-Arbeitswoche und der Zehn-Stunden-Tag setzten den Aktivitäten der jungen Lohn-, Gelegenheits- und Wanderarbeiter enge Grenzen. Da blieb in der arbeitsfreien Zeit verdammt wenig sozialer Raum für politische und soziale Engagement. Arbeiterkinder gingen zur Volksschule, unterrichtet von Volksschulehrern. Nur etwa acht Prozent von ihnen besuchten das Gymnasium, nur zwei Prozent studierten. Sie heirateten wesentlich jünger als es in der bürgerlichen Jugend üblich war und lebten allgemein in deutlich schlechteren, nicht selten in erbärmlichen wirtschaftlichen Verhältnissen. Interessierte die Freideutschen überhaupt, was Franz Walter (2013, 36) effektvoll mit stottern der Sozialisationsmotoren umschrieb, also die gesellschaftlichen Ursachen für Armut, Depression, wirtschaftliche Krisen und Arbeitslosigkeit? Knud Ahlborn skandalisierte in seiner Rede die Folgen der entseelten Produktionsarbeit. Aber, sagt er: "Noch arbeiten sie an sich selbst und müssen sich zurückhalten, um erst die volle Kraft zu erreichen, damit sie handeln können, ohne zu verpfuschen." Mit anderen Worten: Der Tag der Solidarität ist erstmal verschoben. Bis dahin sitzt die bürgerliche Stadtjugend, um eine Sentenz aus der Rede von Helmut Gollwitzer vom Meissner-Tag 1963 (55) aufzugreifen, des Nachts weiter ohne die Arbeiterjugend am Lagerfeuer. Auch nicht schlimm? Oder war es vielleicht doch eine Ursache für die begrenzte politische Reichweite der bürgerlichen Jugendbewegung?
Ihre unterschiedlichen Wirtschafts- und Einkommensverhältnisse formten ihre Mentalität, die Gemütsart und den Lebensstil. War den Bürgerlichen überhaupt klar, dass ihre Anti-Alkohol-Bewegung einen schweren Anschlag auf die Lebenskultur der Arbeiterjugend bedeutete? Egal ob Kneipe, Ausschank oder Bierkeller, für viele Handwerksgesellen, Manufaktur-, Schwerst- oder Schichtarbeiter war sie erstmal für die Geselligkeit, den Austausch von Erfahrungen, der kulturellen und physischen Selbstreproduktion unverzichtbar. Und es war öfter ein Betäubungsmittel, um die sozialen oder familiären Verhältnisse zu ertragen. Zugleich gab es zumindest in Teilen Arbeiterjugend bereits eine selbstkritische Haltung und Bewegung gegen den kulturlosen Genuss von Alkohol. 1914 erschien das Flugblatt Die Jugend und das Trinken mit etwa 73 000 Abnehmern (AJ, 1.8.1914).
Ausgerechnet der sympathische und eigenwillige Bruno Lemke (1919, 16), Schüler von Paul Natorp, wies die Vertreter der Jugendorganisationen auf dem Hanstein ein:
Und das, dass war eben viel zu wenig. Überraschend kam es nicht. Denn die Freideutschen verstanden sich lange Zeit, was in der Debatte zum Meissner-Fest nicht verlorengehen sollte, überwiegend unpolitisch. 1917 wies Arthur Rothe in der Zeitschrift Freideutsche Jugend darauf hin, dass es unter den Älteren Bestrebungen gab vom Jugendgemeindeleben zur Politik überzugehen. Als dann der völkische Wirrwarr (Bittel 1963) nach 1918 vollends über die Freideutschen kam, standen die Unpolitischen dem ziemlich hilflos gegenüber. Es scheint dies ein wichtiger methodischer Zugang, um die Kippkräfte der Freideutschen in Richtung Hitler-Bewegung, die alle, von Knud Ahlborn (1963) über Helmut Gollwitzer (1963) bis Karl Bittel (1963) und Volker Weiss (2013) so schmerzlich erinnern, noch genauer zu verorten. Ganz schuldlos, wenn man das einmal so ausdrücken darf, war die Meissner-Formel nicht. Sie war blind gegenüber der Determination und Formung der Persönlichkeit durch den Staat, sie konnte dies nicht abbilden. Arnold Bergsträsser (1896-1964) erkannte den Mangel, "ihre Unklarheit über jede Ordnung inneren und äusseren Lebens", und setzte dem ein pädagogisches Verständnis entgegen, dass nicht zufällig an Wilhelm von Humboldts "Idee zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen" erinnerte (Behrmann 2003, 119f.). Definitiv blieb die Formel im historischen Vergleich weit hinter dem zurück, was in das theoretische Fundament der Arbeiterbewegung als Lehre vom bürgerlichen Staat bereits eingegossen und |