Arthur
Graf von Posadowsky-Wehner (1845-1932)
Ein modernes Land braucht den Parlamentarismus + Absentismus und Verflachung des Parlamentarismus + Innere Reichspolitik (1910) + Gastfreundliches Deutschland + Mittellage und Einkreisungs-Doktrin + Kolonialpolitik + Kolonialkongress + Aufstand der Maji-Maji + Weltpolitik im großen Stil + Kolonialidylle wider den Skandalen + Auflösung des Reichstags 1906 + Reichstagswahlkampf mit Bild von Posadowsky + Reichstagswahlen 1907 in Zahlen + Fehleranalyse + Bebels Nörgelpolitik + Die Probleme stapeln sich + Liebenberg + Vorgeschichte: Karikatur Kellerfest des Hottentottenblocks, (1.) Differenzen zwischen Bülow und Posadowsky - Karikatur Bülow-Schlächterei, (2.) Intrige?, (3.) Opfer Bülows Blockpolitik, (4.) Sozialpolitik und Abnutzungsstimmung + Der Sturz
Vierter Teil etwa 1907 bis 1932
Ein modernes Land kann ohne ein Neben der Sorge um den Besitz, bewegt die Konservativen die Angst um ihr geliebtes preußisches Dreiklassenwahlrecht. (Frank 1911, 24) An der Kraft des allgemeinen und gleichen Wahlrechts hegen sie tiefen Zweifel. Wobei ihnen andererseits klar, dass keine Regierung in einem halbkonstitutionellen Staat fortgesetzt gegen die Majorität regieren kann. Im Allgemeinen untermauern die Konservativen ihre Ablehnung des gleichen und allgemeinen Wahlrechts mit der Verletzung des Leistungsprinzips so:
Meine Herren", argumentiert Arthur Graf von Posadowsky vor dem Reichstag, "wir haben in Deutschland das radikalste Wahlrecht der Welt ...." "Und ich stelle ferner fest," fährt er fort, "daß in keinen Volke der Welt eine solch lebhafte Neigung zur aufsteigenden Klassenbewegung vorhanden ist, eine solche starke Neigung, seine äußere Lage zu verbessern, in höhere soziale Schichten emporzusteigen, wie in Deutschland." - Im radikalen Wahlrecht und der aufsteigenden Klassenbewegung erkennt er "wichtige Elemente des wirtschaftlichen und geistigen Fortschritts". (Posa RT 22.02.1905, 4699) Er ist Anhänger des preußischen Dreiklassenwahlrechts, was verständlich, bringt es doch für die bürgerlichen Parteien ganz passable Ergebnisse hervor. Zum Beispiel erhielt die SPD bei den Wahlen am 3. Juni 1913 zum preußischen Abgeordnetenhaus mit annähernd soviel Stimmen wie die Konservativen - nur 10 Sitze, während jene 149 Sitze einnimmt.
Das Dreiklassenwahlrecht galt in Preußen von 1849 bis 1918 für die Wahl der Mitglieder des Abgeordnetenhauses und der Stadtverordneten. Vor der Wahl werden die Urwähler entsprechend der von ihnen gezahlten direkten Steuern in drei Wahlklassen eingeteilt, die jeweils zu gleichen Teilen Steuern aufbringen. Dann wählt jede dieser Wahlklassen die gleiche Anzahl von Wahlmännern. In einem weiteren Wahlgang bestimmen sie die Abgeordneten. Folglich entscheidet eine reiche, oder doch zumindest wohlhabende Minderheit, vertreten in der ersten bzw. zweiten Wahlklasse, mit zwei Drittel der Wahlmänner über die zu wählenden Abgeordneten. Damit gewährt das Dreiklassenwahlrecht ein allgemeines, aber kein gleiches Wahlrecht. Schlicht ausgedrückt, es ist undemokratisch. In Reaktion darauf formiert sich eine Wahlrechtsbewegung. Beispielsweise streiken in Hamburg am 17. Januar 1906 die Arbeiter für ein demokratisches Bürgerschaftswahlrecht.
Posadowsky ist Anhänger des preußischen Dreiklassenwahlrechts, das die Grundlage der "gegenwärtigen Machtstellung der Konservativen als Partei des Agrariertums in Staat und Reich" bildet (Bernstein 1907, 823). Man wird es ungerecht nennen müssen. Trotzdem stellt er es zur Kaiserzeit nicht in Frage, wie andererseits 1918/19 der Übergang zu einem neuen Wahlrecht für ihn kein Problem darstellt und es unterstützt. Die bürgerlichen Parteien und die Sozialdemokratie sind sich in dieser Frage grundsätzlich nicht einig. Zwischen ihn steht das preußische Dreiklassenwahlrecht. Und so darf gespannt wie sich die Debatte am 7. Februar 1906 Reichstag getaltet. Auf der Tagesordnung steht die erste Beratung des von den Abgeordneten Albrecht und Genossen eingebrachten
Im Überblick geurteilt, macht jede Partei dem Prinzip des gleichen Wahlrechts seine Komplimente und jede entzieht sich dann auf spezielle Weise dem sozialdemokratischen Antrag. "Passive Resistenz", nennt das die "Volksstimme" aus Magdeburg. Typisch hierfür das Verhalten vom Zentrum, was es für angebracht hielt, die Begründung seiner ablehnenden Stellungnahme mit dem Bekenntnis zum gleichen Wahlrechts zu verbinden. "Die Parole der Nationalliberalen lautet nicht, Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts, sondern Befestigung des Dreiklassenwahlrechts." Für die Freisinnige Volkspartei redet Justizrat Albert Träger (*1830-1912). Den Antrag der Sozialdemokraten, beide Geschlechter ab zwanzig Jahre die Wahlberechtigung einzuräumen, wollte er nicht mittragen, obwohl er sich als Freund das allgemeinen, gleichen Wahlrechts gerierte. Erwartungsvoll sehen die Mitglieder des Reichstages der Präsentation von Posadowsky entgegen. "Die Bedenken, die ich gegen das allgemeine Wahlrecht habe," spricht er seine Bedenken aus, "sind psychologischer Natur; es ist die Einwirkung, die sich dadurch auf die bürgerlichen Parteien fühlbar macht. Bei dem allgemeinen Wahlrecht, wo man von den Massen gewählt wird, muss man mit großen Effekten arbeiten, man muss, ähnlich wie in der Malerei, impressionistisch malen, um auf weit entfernte Massen durch grobe Effekte zu wirken." "Es gehört ein hohes Maß von Selbständigkeit des Charakters dazu," bringt Graf von Posadowsky seine Erfahrungen ein, "sich nicht den Wünschen der Massen zu fügen, sondern die Massen zu leiten." (Posa RT 7.2.1906, 1088)
Damit umschreibt er im Prinzip, was wir gegenwärtig als Populismus bezeichnen oder Alexander Schifrin (1901-1951) als "Sprengstoff in der deutschen Politik" (1932) entschlüsselt. Es ist das allgemeine und gleiche Wahlrecht, das die Bewegung der Massen hervorbringt, und zugleich "die Grundlage" der politischen Macht des deutschen Faschismus, eben "die gelungene Mobilmachung der Wähler" bildet (Schifrin). Vom Standpunkt der politischen Theorie über die Parteien im modernen bürgerlichen Staat kann angesichts dessen nicht umhin, die vom allgemeinen und gleichen Wahlrecht induzierte Bewegung der Massen in der Richtungsgebung potentiell als ambivalent zu charakterisieren. Posadowsky erkannte deutlich die hierin liegenden Gefahren für das gesamte politische System, sprich für den Staat. Doch für dies weitere Analyse und Vorbereitung von Schlussfolgerungen ist heute keine Zeit, danach steht niemand der Sinn. Und auch die Presse schaut ganz anders auf seinen Auftritt im Reichstag. "Nie ist wohl noch eine Rede", urteilt die Volksstimme aus Magdeburg zwei Tage später, "mit großer Spannung erwartet worden"; nie hat aber auch einer seiner Reden so sehr enttäuscht. "In einer Situation, die ein klares, offenes und entschiedenes Bekenntnis der Regierung erfordert, hat sich ihr Vertreter als ein Hans der Träumer vorgestellt, der mit Ideen jongliert, Luftschlösser baut und Seifenblasen nachjagt. Seufzend steht er dann am Scheideweg: das Dreiklassenwahlrecht hat seine schweren Mängel, aber das Reichstagswahlrecht hat sie auch. Denn das Reichstagswahlrecht berücksichtigt nicht die Intelligenz. Das Ideal des Grafen Posadowsky - desselben Grafen Posadowsky der am Tage zuvor über den "Zukunftsstaat" der Sozialdemokratie zu spotten versucht hatte - ist offenbar der unmöglichste oder doch der feinste der aller Zukunftsstaaten, die platonische Republik nämlich, in der Philosophen mit weiser Einsicht und unendlicher Güte das Volk regieren." (VS 9.2.1906) Erstaunlicherweise nehmen große Teile der Öffentlichkeit, sein Bekenntnis zum Dreiklassewahlrecht nachgiebig auf. Vielleicht stimmte sie der folgende Satz versöhnlich:
"Posadowsky ist einsichtig genug," kommt ihn am 7. Februar 1906 die Leipziger Volkszeitung ein Stück entgegen, "um zu erkennen, dass das bestehende Wahlsystem zum preußischen Geldsackparlament nicht zu halten ist ...." Sowohl die "National-Zeitung" wie der "Vorwärts" bewerten seine Rede vom 7. Februar negativ. Gewiss, hegte die SPD zum allgemeinen und gleichen Wahlrecht Erwartungen, die er nicht erfüllte. Und die Nationalen vermuteten nach seinem Auftritt gleich einen Generalangriff auf ihre existentiellen Interessen. Beide vernachlässigen, dass er für den Parlamentarismus streitet und ehrlich für eine politisch emanzipierte Arbeiterschaft eintritt. Den Scharfmachern, der Sammlungsbewegung (um Miquel) und der reaktionären Masse, stellt er im Dezember 1905 seine geronnene politischen Erfahrungen entgegen:
Absentismus und Absentismus, Verflachung der Debatten und fehlende Legitimation einzelner Beschlüsse des Reichstages werfen kein gutes Licht auf den Parlamentarismus und das demokratische Selbstverständnis vieler Abgeordneter. Oftmals sind in den Verhandlungen des Reichstags, moniert Graf von Posadowsky, viele Abgeordneten nicht anwesend, wörtlich:
Nathlos fügt sich daran die Beobachtung von August Bebel (1911 / 1986, 293): "Die große Mehrzahl der Gesetze wurde von beschlußunfähigen Häusern angenommen. So blieb es bekanntlich bis zur Einführung der Diäten im Frühjahr 1906." In jenem Jahr berät der Reichstag am 26. April über die Gewährung einer Entschädigung für die Teilnahme an den Sitzungen. Nicht wenige sehen die Ursache für diese Missstände in den fehlenden Tagegeldern. Das hat nach Einschätzung von Posadowsky keinen Einfluss auf ihre Anwesenheit, weil sie für die meisten von ihnen keine wirtschaftliche Bedeutung haben. Deshalb verhalten sich die konservativen Abgeordneten in der Debatte zurückhaltend und verweisen auf Otto von Bismarck. Als er "die Bestimmung der Diätlosigkeit in die Verfassung des Deutschen Reiches einsetzte", erklärt Graf Posadowsky, daß die Vertreter des Deutschen Volkes ohne welche Entschädigung dauernd, und so wie es das Reichsinteresse erfordert, das Mandat eines Abgeordneten wahrnehmen können. Oh nein, so war es nicht!, sagt August Bebel (ebd. 293). Für die SPD-Abgeordneten war "die Teilnahme an den Reichstags- und Zollparlamentsverhandlungen" ein "großes Opfer". Eine Parteiuntertstützung, "die mager genug ausfiel", gab es erst ab 1874. Reisen nach und von Berlin mussten wir aus eigener Tasche bezahlen. "So fehlten wir oft in Sitzungen, manchmal sogar, wenn unser Parteinteresse gebot, anwesend zu sein."
Übereinstimmen tun beide in der Beurteilung der Auswirkung des Absentismus, und zwar in der Weise wie Posadowsky feststellt, das er "eine sehr bedenkliche Wirkung auf den inneren Gehalt und Wert unserer Gesetzgebung" hat. Er ist nicht vertretbar, schädigt das Ansehen und unterminiert das Vertrauen in das Hohe Haus. Was kann man angesichts der Missachtung des Pflichten-Codex durch die Abgeordneten überhaupt von ihnen erwarten? Der Absentismus bewirkt, einen viel zu häufigen Personenwechsel in den Kommissionen. Wie wollen diese Abgeordneten, die den Anfang der Beratungen überhaupt nicht beiwohnten, damit vielleicht von ganz anderen Voraussetzungen bei der Beurteilung der Regierungsvorlage ausgehen, an der Gesetzgebung konstruktiv mitwirken? Viele Abgeordnete sind zeitlich durch das öffentliche Leben überbeansprucht und können deshalb nicht an der Sitzungen teilnehmen. Wiederholungen rauben ihnen enorme Zeit. Außerdem besteht ein "Übermaß von Beredsamkeit im Parlament". Bei der enormen Häufung von Sitzungen in den Fraktionen und Kommissionen, der Überlastung der Abgeordneten mit Ehrenämtern, weiss Posadowsky aus eigener Erfahrung, sei es unvermeidlich, dass der Parlamentarismus verflache. " .... und ich bin der Ansicht, daß viele Klagen, die über unsere Gesetzgebung auch in der Bevölkerung erhoben werden, aus diesem häufig fehlenden Zusammenhang der Verhandlungen hervorgehen." (Posa 26.4.1906, 2708) Der SPD-Abgeordnete Paul Singer (1844-1911) lehnt die Vorlage aus mehreren Gründen, weil sie mit ihrer Geringschätzung des Parlaments im Ganzen ein Schlag in das Gesicht des Reichstags ist. Sie widerspiegelt die Furcht vor der Bürokratie, entspricht aber nicht den Vorstellungen der Parlamentarier. Mit Annahme der Vorlage, würde sich der Reichstag außerhalb der Reihe der Kulturstaaten stellen. Die Versagung der freien Fahrt für ganz Deutschland ist kleinlich, schikanös und schulmeisterlich. Man gewinnt den Eindruck, dass es sich bei der Entschädigung nicht um den Aufwand handelt, den der Abgeordnete während seines Aufenthaltes in Berlin hat, sondern dass die Diäten eine Art Belohnung für den Aufenthalt in Berlin darstellen. Die Bestimmung, dass die Zahl der anwesenden Mitglieder zur Herstellung der Beschlussfähigkeit nötig ist, herabgesetzt werden soll, "kann nur aus der Absicht geboren sein, die Opposition wehrlos zu machen." (Erste Lesung 27.4.1906)
Innere Reichspolitik (1910) zurück Im Aufsatz über die "Innere Reichspolitik" von 1910 argumentiert Posadowsky für die Stabilität und Brauchbarkeit des Wahlsystems. Seine Bewährungsprobe bestand es im Winter 1906 mit Auflösung des Reichstags. Deshalb scheint es ihm nicht gerechtfertigt, wenn man diese Wahlrecht als ein für Deutschland verfehltes und schädliche Einrichtung darstellt. Die Reformer, wendet er ein, sind wahrscheinlich kaum in der Lage "ihre Gegnerschaft in gesetzgeberische Beschlüsse zu übertragen". Bei den Verhandlungen zum Wahlrecht sind Stimmungen spürbar, die dem föderativen Geist nicht zuträglich. Gegensätze und widerstreitende Interessen, berichtet er, sind im Reich reichlich vorhanden. Ein zu starkes partikuläres Selbstinteresse, wie etwa bei den Verhandlungen über die Schifffahrtsabgaben, ergeht die Warnung, könnte die bereits vorhandenen Reibungsflächen vergrößern. Noch bedenklicher ist die Stimmung zur Änderung des preußischen Wahlrechts. Immerhin haben die auf Grundlage dieses Wahlrechts gewählten Körperschaften, "noch stets die Mittel gewährt", "welche zur Verteidigung unseres Vaterlandes zu Land und zu Wasser notwendig waren", weshalb seine Gegner endlich anerkennen sollen, - fordert er, dass unter der Herrschaft des bisherigen Wahlrechts "in Deutschland auf gesetzlichem und wirtschaftlichem Gebiete eine ungeheure Kulturarbeit geleistet wurde". Nicht unerwartet, und doch in seiner Einseitigkeit etwas enttäuschend, wie unkritisch er über das vom Reichstag organisierte System zur Finanzierung der Flottenrüstung und Kopplung von Militär- und Haushaltspolitik hinweggeht, den Dienst am Krieg zum Massstab der Finanzpolitik erhebt. (1913 Wehrbeitrag, 1916 Kriegssteuer und 1918 außerordentliche Kriegsabgabe) "Zu all diesen
symptomatischen Äußerungen und verschleierten Stimmungen,"
illustriert der Aufsatz "Innere Reichspolitik" von 1910, "kommt
noch die bekannte Erklärung des Reichstages, dass der König
von Preußen
." Es war nicht die "Erklärung"
des Reichstages, sondern die Äußerung des Reichstagsabgeordneten
"Wer den gesamten Inhalt der Verhandlung und insbesondere jener Rede vorurteilfrei von der Hitze des politischen Kampfes unbeeinflusst liest," kommentiert Posadowsky, "muss zugestehen, daß die Äußerung nur ein Beispiel für den unbedingten Gehorsam des Soldaten gegenüber der Allerhöchsten Kommandogewalt geben sollte, und daß es eine arge Übertreibung ist, in jener Äußerung eine Aufforderung zum Verfassungsbruch zu erblicken. Trotzdem ist ein solch drastisches Beispiel schon deshalb höchst gefährlich, weil es, wenn auch nur theoretisch, die Möglichkeit zulässt, dass der höchste Vertreter von Recht und Gesetz einen Befehl erteilen könnte, der gegen die Grundverfassung des deutschen Reiches verstieße." (Posa 01.03.1910, 72 bis 76)
Gastfreundliches Deutschland Wiener Sonn- und Montags-Zeitung 1906 zurück Wer nach der Russischen Revolution vom Januar 1905 im Meldeformular der Berliner Polizei "Aus Russland" einträgt, erhält das Etiket "lästiger Ausländer" verpasst, und wird, "mag er auch noch so harmlos und unpoltisch sein", berichtet am 7. Mai 1906 die Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, "des Landes verwiesen". Gestützt auf die Ideenassoziation "Rußland gleich Revolution", lautet das Motto: Sicher ist sicher. Die Ausweisung erwischt Kaufleute, Fabrikanten, Gutsbesitzer, Gelehrte, Studenten, Handwerker, Händler, Arbeiter und Dienstbote. Erst Opfer der russischen Reaktion, "jetzt Opfer der deutschen Grausamkeit und Polizeiwillkür". "Besonders sind", stellt am 3. Mai August Bebel im Reichstag fest, "von den Ausweisungen die russischen Juden betroffen." "Das Land der Dichter und Denker könnte wohl darauf bedacht sein," regt die eingangs zitierte Zeitung aus der Haupstadt des befreundeten Landes an, "nicht vom Ausland zum "Land der Richter und Henker" umgereimt zu werden."
Am 3. Mai 1906 befasst sich der Reichstag mit der Russophobie deutscher Ämter, wobei zu beachten ist, dass zwar die Fremdenpolizei der Aufsicht des Reiches unterliegt, aber ihre materiellen Regelung und Handhabung den Einzelstaaten überlassen wird. Ohnehin wäre es den Reichsbehörden nicht möglich, die Ausweisungen in den verschiedenen Bundesländern zu prüfen. Ein besonderer deutsch-russischer Niederlassungsvertrag besteht nicht. Deshalb, antwortet Graf von Posadowsky, lehnt der Reichskanzler die Verantwortung ab. (Posa RT, LVZ 4.5.1906) August Bebel zweifelt, ob diese verwaltungsrechtlich orientierte Antwort politisch klug war. Wohl hat sich das Deutsche Reich in Handels- und Freundschaftsverträgen, das Recht vorbehalten "lästige Ausländer" auszuweisen. Doch in einer Reihe von Vereinbarungen ist die Gleichstellung mit den deutschen Landesangehörigen festgelegt, womit praktisch eine Ausweisung nahezu undenkbar. Russische Staatsangehörige haben gemäß dem deutsch-russischen Handels- und Schifffahrtvertrag das Recht Handel und Gewerbe im Deutschen Reich auszuüben. Doch "Die Polizeibehörde weist nach Gutdünken aus, und wenn der Betreffende verlangt, wenigstens die Gründe für seine Ausweisung zu erfahren, damit er imstande ist festzustellen, ob ein Recht dazu vorliegt, ob nicht die Polizei selbst falsch über ihn unterrichtet ist, so wird ihm in allen Fällen erklärt: du hast keinen Anspruch darauf, das zu erfahren, wir haben keine Verpflichtung, es dir zu sagen und damit basta." (Bebel RT, LVZ 4.5.1906)
Mittellage und Einkreisungs-Doktrin zurück Am 24. August 1924 weihen die Domschschüler, ihre Lehrer und Gäste an der Nordwand des Kreuzgangs vom Naumburger Dom eine steinerne Gedenktafel. Sie ist den im Krieg gefallenen Domschülern gewidmet. Der Dechant des Naumburger Domkapitels Arthur Graf von Posadowsky-Wehner ist erschienen und würdigt mit einfühlsamen Worten ihr Leben und Opfer für das Vaterland. Als er in das Jahr 1914 zurückblickt, da schimmert wieder die Einkreisungs-Doktrin durch. Es war die Zeit "der trüben Flut politischen Hasses und heimlicher Begehrlichkeit unserer F e i n d e r i n g s u m ". Allerdings entkoppelt er im Januar 1919 in der Reichskronen-Rede die Umzingelung und Weltpolitik. Das verlieh dem Ganzen eine neue Anmutung und Ausrichtung, ähnlich wie er es in der Reichstagsrede 1918 ausspricht:
Von der geopolitischen Ratio einer Mittellage ist es nur ein kleiner Schritt zur Einkreisungs-Doktrin. Reichskanzler Bernhard von Bülow popularisiert sie am 14. November 1906 in seiner Rede vor dem Reichstag. Ob es eine orginäreLeistung von Bülow war, ist unklar. Vermutlich eher ein exkulpiertes Desiderat der öffentlichen Meinung in Reaktion auf die englisch-japanische Allianz vom Januar 1902 mit einer realen Komponente gegen Rußland. Während der Entfesselungskünstler Harry Houdini am 8. Dezember 1915 dem staunenden Publikum vorführt, wie man sich aus der Zwangsjacke frei in der Luft an einem Seil hängend befreien konnte, gelingt es den meisten Deutschen nicht, sie je wieder abzulegen. Selbst Kaiser Wilhelm II., außerstande die komplizierte Risikostrategie des Generalstabes zu durchschauen, wähnte sich als unschuldiges Opfer einer angeblich von langer Hand vorbereiteten Einkreisungspolitik der Entente (Mommsen 2005, 221). Die Einkreisungs-Doktrin nimmt in der deutschen Politik einen zentralen Platz ein und war von nachhaltiger Wirkung. Sie leistet unschätzbare Dienste bei der Verfeindung von Staaten. Der Deutsche Reichstag behandelt am 30. Juni 1913 in dritter Lesung die Wehrvorlage und beschließt die Erhöhung der Friedensstärke des Heeres um 117 267 auf 661 478 Mann. Darin sieht eine Majorität des Hohen Hauses keinen Akt der potentiellen Bedrohung der Nachbarn. Deutschland ist nicht aggressiv. Alles dient lediglich der Wehrfähigkeit, des von Frankreich, Großbritannien und Russland umstellten Deutschlands. Verdankt die Wehrvorlage wirklich der Einkreisungs-Doktrin oder dem Verlust jeder bürgerlichen Opposition durch die "Entfesselung der chauvinistischen Instinkte" (Emil 1906/07, 133) ihr Leben?
Kolonialpolitik zurück Bereits unter der Kanzlerschaft von Leo von Caprivi (1890-1894) äußert Posadowsky, dass die deutsche Kolonialpolitik, obwohl sie doch den Kern der Weltpolitik darstellt, nicht zur Stärkung der wirtschaftlichen und politischen Macht Deutschlands beiträgt. In dieser Frage bestehen zwischen ihm und Bernhard von Bülow deutliche Meinungsunterschiede. Denn der Reichskanzler (RT 1906, 3958) besteht darauf:
Er misstraut den typischen Propaganda-Statements. Weder ist die Kolonialpolitik nach seiner wissenschaftlich begründeten Überzeugung ein Mittel gegen die Arbeitslosigkeit noch gegen die angebliche Überbevölkerung, die überhaupt nicht existiert. 1911 argumentiert er in der Bielefelder-Rede: "Alle kolonialen Erwerbungen hat man bisher damit begründet, dass wir bei unserer schnell wachsenden Volkszahl Gebiete für deren Auswanderung erwerben müssen. Es ist aber falsch, zurzeit von einer Überbevölkerung Deutschlands zu sprechen." Am 18. Januar 1912 hörte von ihm das Publikum im Volkshaus zu Jena:
Es besteht also kein völliger Gleichklang zwischen den Ausführungen der Bielefelder- und Jenenser-Rede. Ein logischer Widerspruch liegt nicht vor. Man könnte eher sagen, er analysiert und bewertet die deutsche Kolonialpolitik, in dessen Ergebnis Dissonanzen zur Kolonial-Propaganda entstehen. Er kritisiert die Kolonialpolitik, lehnt sie aber nicht ab. Ein zweiter Kritikpunkt der Bielefelder-Rede lautet: "Wir haben ein ungeheures Kolonialgebiet zu erschließen, wozu gewaltige finanzielle Mittel im Laufe der Zeit notwendig sein werden. Große, wilde Flächen ohne reiche Mittel zu ihrer Erschließung sind aber rein imaginäre Werte. Ein Land wo die Europäer nicht arbeiten können, und die Eingeborenen nicht arbeiten wollen, bedeutet keine Verstärkung unserer wirtschaftlichen und politischen Macht."
[Kolonialkongress zurück] Am 5. Oktober 1905 eröffnet Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg in Berlin den Deutschen Kolonialkongress. Arthur Graf von Posadowsky-Wehner folgt in der Eigenschaft als Stellvertreter des Reichskanzlers der Einladung. Die koloniale Stimmung in der Bevölkerung verschlechterte sich in jüngster Vergangenheit auf Grund der Ereignisse in Afrika deutlich. "Die Schwierigkeiten sind in den kolonialpolitischen Kreisen unterschätzt worden." (Das Vaterland 6.10.1905) Seine Ansprache widerspiegelt den Ernst der Lage in den Kolonien. Von Bravorufen und lebendigem Beifall begleitet, stellt er den Einsatz und die Haltung der Kolonialtruppe lobend heraus: "Einen Lichtpunkt in diesen trüben Ereignissen bietet die Haltung unserer Truppen (Bravo!), die unter der schwere des tropischen Klimas, in dem unabsehbaren, wegelosen Gelände mit bewundernswerter Ausdauer ihre Pflicht bis zum Tode erfüllen (Bravo!) und so den alten Ruhm deutscher Soldatenehre von neuem bewährt haben; sie haben sicher
für diesen Dienst am Vaterlande ebenso erworben, als ob sie zur Verteidigung unserer heimischen Grenzen ausgezogen wären. (Bravo)!" Sozusagen in "Dankbarkeit des deutschen Volkes" erhält Dr. Carl Peters (1856-1918) im gleichen Jahr den Titel Reichskommissars a.D. und ab 1914 eine Pension zuerkannt. Doch der Kolonialkrieger war nicht damit einverstanden, dass der gesetzliche Presseverantwortliche der "Münchner Post" Martin Gruber (1866-1936) ihn als "abgeurteilt" schmähte und zerrte ihn deshalb vor das Schöffengericht in München. Sein Verteidiger Doktor Bernheim weicht der Wahrheit nicht aus und vollendet vor dem Richter:
[Aufstand der Maji-Maji zurück] Im Morgengrauen des 20. Juli 1905 r eißen in Nandete im Matumbiland (Deutsch-Ostafrika) eine Frau und zwei Männer Baumwollpflanzen aus dem Boden. Eine Aktion die zum Signal für den Aufstand der Maji-Maji wurde. Es folgen Massaker und Strafexpeditionen bis Chief Chabruma´s Kämpfer durch die deutsche Schutztruppe am 25. Juni 1906 in Ungoni eingeschlossen und vernichtet. Der Aufstand der Maji-Maji gegen die repressive Kolonialherrschaft endet am 18. Juli 1908 mit der Erschießung von Rebellenführer Mpangiro. 1904 traten in Deutsch-Südwestafrika die Herero und Nama (von den Deutschen abschätzig als "Hottentotten" bezeichnet) in den Aufstand. Nach der verlorenen Schlacht am Waterberg, wollten sie durch Omaheke ins Betschuanaland (Botswana) ziehen. Deutsche Truppen verhinderten ihre Wasseraufnahme und ließen sie verdursten. Wer dem Massensterben entkam, vegetierte dahin oder starb oft im Konzentrationslager.
[Weltpolitik im großen Stil zurück] August Bebel prangert am 3. März 1906 im Reichstag die deutsche Ausrottungsstrategie in den Kolonien an und würdigt den Einsatz des Zentrum-Manns Matthias Erzberger (1875-1921). Allein für Ostafrika, bei Gesamteinnahmen von 4.657.881 und Ausgaben von 11.717.208 Mark, muss das Reich laut Budgetkommission des Reichstages 7.059.827 Mark an Zuschuß leisten. Im August 1906 legt Kanzler Bernhard von Bülow dem Reichstag einen Nachtragshaushalt vor, der zusätzlich 29 Millionen Mark für die Kolonialtruppen und den Bau einer angeblich kriegswichtigen Eisenbahn vorsieht. "Man will Weltpolitik großen Stils treiben,
man will endlich die langersehnte Kolonialarmee schaffen", konkretisiert am 14. Dezember 1906 der Vorwärts aus Berlin das Vorhaben der Regierung. Mindestens 5000 Mann, gegebenenfalls auch mehr, sollen in Südwestafrika bleiben. Es mussten die Truppen in Deutsch-Südwest Afrika verstärkt werden, um die Aufstände der Hottentotten und Hereros gegen die Deutschen niederzuschlagen. Das kostete Geld.
[Kolonialidylle wider den Skandalen zurück] Matthias Erzberger vom Zentrum wendet sich gegen Grausamkeiten der Kolonialkriege, dem Morden und Terrorismus. Er fordert die Reduzierung der Truppen und der beantragten Regierungsgelder. Durch die Veröffentlichung der skandalösen Tätigkeit der Firma Tippelskirch & Co. GmbH forciert der Kandidat für den Reichstagswahlkreis Biberach, Leutkirch, Waldsee, Wangen, die politische Krise, die im Januar 1907 in Neuwahlen einmündet. Das schlechte öffentliche Bild der Kolonialpolitik bereitete ihren Befürwortern zunehmend Sorgen. Bernhard Dernburg (1865-1937) wird im September 1906 zum Leiter der Kolonialpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes bestellt. Er schönt die Krise der Kolonialpolitik und Ökonomie der Kolonialwirtschaft. Der "Feuerwerker der Kolonialpolitik" (SPD), zeichnet in der Öffentlichkeit eine "Kolonialidylle" in den "rosigsten Farben" mit "Sumpf-" und "Schwindelblüten" und "berauschender Zukunftsmusik". Das sehen die Kolonialschwärmer des besitzenden Bürgertums gerne. "Endlich besteigt er die Rednertribüne, von tausendstimmigen Jubel, Händeklatschen, Getrampel minutenlang begrüßt.", berichtet Pester LLoyd von seinem Vortrag am 8. Januar 1907 in Berlin.
Auflösung des Reichstags Ende 1906 zurück SPD, das Zentrum, die Fraktion der Polen und Welfen lehnen am 13. Dezember 1906 in zweiter Lesung den Nachtragshaushalt zur Finanzierung des Kolonialkrieges in Südafrika in Höhe von 29 Millionen Mark ab. Über die Kolonialgegner ist Reichskanzler Bülow verärgert, sinkt aber, obwohl die Aufklärung einfordernd, über das öffentlichtwerden der Gaunereien des Gutsbesitzers aus der Priegnitz Victor Adolf Theophil von Podbielski, zugleich preußischer Landwirtschaftsminister, tiefer in den Skandal mit der Firma Tippelskirch ein. Auf Anordnung von Kaiser Wilhelm II. löst Bülow das Parlament auf. Als Termin für die Neuwahl wird der
festgesetzt. Um Reichskanzler von Bülow zu stützen, bilden Deutschkonservative, Nationalliberale und Linksliberale ein Wahlbündnis. "Unter der nationalen Parole", ermittelte die Leipziger Volkszeitung, "wurde zum Sturm geblasen gegen die Sozialdemokratie, Zentrum, Polen und Welfen."
Reichstagswahlkampf zurück Arthur Graf von Posadowsky-Wehner ist auf einem Foto aus der Zeit des Reichstagswahlkampfes 1907 in der Bildmitte gut zu erkennen. Es ist eine Aktion der Freisinnigen Volkspartei. An der linke Seite des Bildes ist ein Plakat, mit dem Schriftzug "Meininger Kandidat aller freisinnigen Wähler" zu sehen. Schwerlich zu glauben, daß die Aktion gegen die Kolonialpolitik und Militärvorlagen gerichtet, wechselte sie doch längst in das Lager der Flottenrüstung und Weltpolitiker.
Am unteren linken Bildrand prangt am Plakat der Name des Juristen "Kaempf", dem Stadtrat von Berlin, Reichstagspräsident von 1912 bis 1918 und Fraktionsvorsitzender der Freisinnigen Volkspartei, entgegen. Er kandidiert am 25. Januar 1907 zum 12. Deutschen Reichstag im Wahlkreis Alt-Berlin, Cölln, Friedrichswerder, Dorothenstadt und Friedrichstadt-Nord für die Freisinnige Volkspartei und erhält in der Stichwahl 6076 Stimmen. Für seinen SPD-Gegner, den Physiker Martin Leo Arons (1860-1919), zählt man 5040 Stimmen aus. [Reichstagwahlen 1907 in Zahlen zurück] Am 25. Januar 1907 ist Wahltag. 28,9 Prozent der Wähler entscheiden sich für die SPD und damit 2,8 Prozent der Stimmen einbüßt und 38 Sitze verliert. Das Zentrum erreicht im Vergleich zu den letzten Wahlen fast unverändert 19,4 Prozent und erhält 5 Sitze mehr, die Nationalliberale Partei 14,5 Prozent und die Deutschkonservativen 9,4 Prozent. Der Bülow-Block stützt auf die Deutschkonservativen (60 / = + 6), Nationalliberale Partei (55 / = + 4), Deutsche Volkspartei (7 / = + 1), Deutsche Reichspartei (24 / = + 3), Freisinnige Volkspartei (28 / = + 7) und Freisinnige Vereinigung (14 / = + 5).
Wer am 25. Januar 1907 in Berlin war, blickt August Bebel (LVZ 16.9.1911) auf dem Jenaer Parteitag der SPD im September 1911 zurück, konnte Zeuge des masslosen Jubels werden, der alle bürgerlichen Kreise erfasste. In ungeheuren Scharen zogen sie, obgleich keine Versammlung unter freien Himmel anberaumt, zum Fürsten Bülow. Und von da ging es zum Kaiser, der eine Ansprache hielt, in der aus dem "Prinzen von Homburg" zitierte:
[Fehleranalyse zurück] Die Sozialdemokraten im Wahlkreis Naumburg-Zeitz sind tief enttäuscht vom Wahlergebnis. Das Mandat von Adolf Thiele (*26.9.1853) ging verloren. Die Mängel- und Fehleranalyse der SPD zur Reichstagswahl 1907 fällt hart aus. "Die "Gemäßigten" und "Taktierer" machten, die "Radikalen", also Genossen wie Rosa [Luxemburg] für die Niederlage verantwortlich." (Max Gallo 1988, 226) Das "Einströmen neuer Wählermassen," meint die Volksstimme aus Magdeburg, "die bisher unterhalb des politischen Bewußtseins lebten, hat den bürgerlichen Parteien für den Augenblick ein starkes Übergewicht verschafft". "Das Kennzeichen der Wahlen ist das Aufhören der bürgerlichen Opposition", urteilt die Leipziger Volkszeitung vom 28. Januar 1907. "Was übriggeblieben, ist ein trostloser Brei." Es ist ein Rechtsruck. Das Volk muss die Kosten der Flotten- und Kolonialpolitik zahlen. Die Konservativen fordern eine Änderung des Reichstagswahlrechts und greifen das Koalitionsrecht der Arbeiter an.
Bei Franz Mehring (1907) fällt die Vermessung der Wahlniederlage drastischer aus. Für ihn ist sie Folge der Hohlheit und Nichtigkeit des Geredes, als seien die Wahlverluste eine Erfrischung oder Erneuerung des nationalen oder liberalen Gedankens. Jetzt soll die liberale Bourgeoisie die willige Dirne der ostdeutschen Junker spielen. Mit einem "Platzregen notorischer Reden", heißen die konservativen "Verbündeten" sie willkommen. Irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass den Genossen und Genossinnen trotz manch realistischer Sentenz, das eigentliche Unglück nicht klar ins politische Bewußtsein dringt, dass die libertäre Kultur, die für Sozialdemokratie den weltanschaulichen Unterbau bildet, schweren Schaden nimmt. "Die Einbindung auch der linksliberalen Parteien in einen rechtskonservativen "Block" durch Reichskanzler von Bülow 1908/07", beleuchtet 1993 Robert Hofmann (41) die politische Rochade, "signalisiert eine weitere Abkehr von den Prinzipien linksliberaler Politik." Die Folgen wirken nachhaltig und tiefgreifend auf die kommenden Epochen der staatlichen Macht in Deutschland. [Bebels Nörgelpolitik zurück] Reichskanzler Bernhard von Bülow triumphiert
in
seiner Rede über die Sozialdemokraten. Ihre Niederlage bei den
"Hottentotten-Wahlen", wirft er ihnen vor, sei das Ergebnis
von Bebels "Verneinungs- und Nörgelpolitik". Verbunden
damit ist eine "unpatriotische Haltung", weshalb das Wahlergebnis
gerechtfertigt ist und die Strafe "für einen engherzigen,
dogmatischen, kleinlichen, philaströsen Geist, der blind gegen
alle Andersdenkenden wütete" war. "Soll ich Sie an das
Ketzergericht in Dresden erinnern?", fragt Bülow. "Soll
ich Sie daran erinnern an die Art und Weise, wie sie die sechs armen
Redakteure des "Vorwärts" an die Luft befördert
wurden?" "Die Niederlage der Sozialdemokratie war aber auch
wohlverdient, weil sie die Strafe war für eine politische Kampfesweise
und für eine publizistische Methode, wie sie so brutal die gebildete
Welt doch noch kaum gesehen hat. (Sehr richtig!)" "Unglaubliches
ist [von den Sozialdemokraten] geleistet worden, nicht nur im herunterziehen
nationaler Empfindungen und Gefühle, sondern auch in der Beschimpfung
der Gegner" und dem "Sauherdentum", der sozialdemokratischen
Presse. "Ich erwarte", kündigt der Reichskanzler an,
"daß die Behörden ihre Schuldigkeit tun und daß
sie die öffentliche Ordnung und Freiheit der Bürger gegenüber
sozialdemokratischem Terrorismus mit Energie schützen werden".
Die Sozialdemokratie ist nach Einschätzung des Reichskanzlers immer fanatischer, immer terroristischer und immer kulturwidriger geworden. Ein Perspektive und Bewertung der Ereignisse, die Posadowsky nicht teilt. Sie enthält versteckte, gefährliche politische Implikationen, die nicht seinen Vorstellungen und Zielen im Ringen um wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt mit der Sozialdemokratie genügen.
Die Probleme stapeln sich zurück Manchmal schlossen Posadowskys Reichstagsreden jetzt ohne fröhlichen Rabbat ab, zum Beispiel am 11. Dezember 1905 über die Diäten und Afrika-Bahn (Lüderitzer-Bahn im Südwesten von Namibia), wo das Geld nicht bewilligt wurde. "Keine Bahn für Afrika vor Weihnachten, keine Diäten nach Neujahr!" So der kurze Sinn seiner langen Rede, schreibt am nächsten Tag die National-Zeitung (Berlin). Das machte keine gute Stimmung für ihn. Egal ob aus der Sicht der parlamentarischen Kräfteverhältnisse, Fortführung Sozialgesetzgebung oder Führungskrise der Reichsleitung, in Deutschland stapeln sich die ungelösten Probleme: Finanzierung der Flottenrüstung, Konfrontation mit England, unfruchtbare Kolonialpolitik, gefährliche Konkurrenz beim Kapitalexport, zyklische ökonomische Krisen mit Massenarbeitslosigkeit, Entstehung monopolistischer Märkte, zunehmende Klassenkonfrontation (Generalstreikdebatte) und krasse Wohnungsnot der Unterklasse.Dennoch war die parteipolitische Konstellation im Reichstag für die Sozialpolitik z u n ä c h s t nicht ungünstig. "Die Sozialpolitik der letzten Friedensjahre des Kaiserreichs .... Das Jahr 1906", will sagen: "Das für Sozialpolitik zuständige Mitglied der Reichsleitung, der Staatssekretär im Reichsamt des Innern,
konnte für entsprechende Vorlagen noch bis zum Jahresende 1906 auf Rückhalt in der Fraktion des Zentrums rechnen. Deren Politik wurde von ihrem linken Flügel bestimmt, der in der Fraktion die Mehrheit besaß und sowohl für eine Demokratisierung der Verfassung als auch für eine emanzipatorische Sozialpolitik eintrat. Gerade zur letzteren hatte er seine diesbezüglichen Forderungen in der Aussprache über die Sozialpolitik während der zweiten Lesung des Reichsetats vom 1. bis 6. Februar 1906 nachdrücklich vertreten: eine Vorlage über die Rechtsfähigkeit der Berufsvereine, eine Heimarbeiterversicherung, die Ausdehnung der Krankenversicherung auf alle Arbeiter in der Landwirtschaft, eine Beschleunigung der Vorarbeiten zur Witwen- und Waisenversicherung sowie ein Ausbau des Arbeiterschutzes wurden angemahnt." (Über Posadowsky im Jahr 1906: 1987, 1-10) Anders formuliert: "Ohne die reformfreundlichen Kräfte im Reichstag, insbesondere des Zentrums, hätten Posadowskys Pläne wohl kaum verwirklicht werden können." (Schmidt 2007) Das Zentrum, so hieß es eben, war seine Hauptstütze. Doch es griff an und wurde angegriffen.
Zentrumspolitiker Karl Bachem (1858-1945) erlebte diese Zeit als Aufflammen der Hetze gegen seine Partei. Der Vertreter des Reformflügels warnt daraufhin vor der Überspannung des Konfessionalismus. Denn es darf nicht der Eindruck entstehen, als ob die Partei eine katholische Fraktion sei. Vor allen Dingen möchte die Partei sich jetzt um Abgeordnete bemühen, heißt es weiter im Aufsatz
der im 1. März 1906 in München erschienen, "welche gute Fühlung mit dem Zentrum zu nehmen und zu unterhalten willens und geeignet sind". (Bachem 1913, 23 + 24) Ende des Jahres 1906 schnüren sich die Konflikte zum Paket: Fleischnot, Podbielski- und Kanzlerkrise, Polen- und Kohlenstreik und Tschirschky-Politik [Behandlung der Marokko-Krise durch den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes]. Das ist noch nicht alles. Unter "Matthäi am - vorletzten", unterrichtet am 8. Januar 1906 die Morgenausgabe des Berliner Tageblatt: Ultramontane fordern den Rückzug in der Polenfrage. Scharfmacher wollen der Arbeiterbewegung die Zähne zeigen. Die Agrarier wünschen wegen den Teuerungen, eine chinesische Mauer um das Deutsche Reich zu bauen. Und die Nationalliberalen möchten alle Übel heilen, indem sie nach fünfunddreißig Jahren, den leitenden Männern endlich die Wahrheit geigen. So bricht die alte Frage aus dem Auerbach-Keller auf: "Das lieb heil`ge Römische Reich, wie hält´s nur noch zusammen?"
Vielleicht auf Liebenberg? [zurück] "Der Streitpunkt der im Winter 1906 zur Auflösung des Reichstages führte," eröffnet uns Posadowsky am 1. März 1919 im Aufsatz "Innere Reichspolitik" (74),
Zumindest hier verheimlicht er die weiteren Umstände. Worauf spielt er möglicherweise an? Es wird sich bald alles entscheiden, teilt im optimistischen Unterton am 8. November 1906 die Abendausgabe des "Berliner Tageblatt" mit. Der Kaiser wird bald von seiner Fahrt aus Liebenberg, wo er im Kreise Eulenburg weilt und wohin der Chef des Generalstabes der Armee Generalleutnant von Moltke begleitet hat, zurückkehren. (BT 8.11.1906, AA) Was bespricht in L i e b e n b e r g Wilhelm II. mit Philipp von Eulenburg vom 7. bis 10. November 1906? Maximillian Harden (1861-1927) wirft Philipp zu Eulenburg (1847-1921) und den "Liebenberger" am 27. November 1906 in der Zeitschrift "Die Zukunft" vor, seit langer Zeit, gestützt auf ihre persönlichen Verbindungen zum Monarchen, eine Nebenregierung zu bilden. Dabei soll die Reichsleitung, und das spricht Bände über die Ereignisse, zweimal vor den Westmächten zurückgewichen sein. Bülows Position gilt fortan als angeschlagen. (Mommsen 2005, 129/130). Harden polemisierte schon länger gegen das persönliche Regiment Wilhelm II.. Nach der "Daily-Telegraph Affäre" 1908 forderte er dessen Rücktritt. Offenbar war die Stellung des Reichkanzlers durch die Ereignisse um die Liebenberger Tafelrunde erschüttert.
lautet am 8. November 1906 unter der Überschrift "Moltke Dynastie" die erste Textzeile in der Abendausgabe des Berliner Tageblatts. Das Morgenblatt verkündete bereits:
Bis zum Rücktritt würden angeblich nur noch zwei Monate ins Land gehen. "Der Name des kommenden Reichskanzlers ist aller Voraussicht nach Helmuth von Moltke."
Wiederholung,
zusammen
mit
Polen,
Welfen
und
Sozialdemokraten
lehnt
am
13. Dezember
1906
die
Zentrumspartei
einen
Nachtraghaushalt
von
29 Millionen
Mark
ab.
Reichskanzler Bernhard von Bülow will sich nicht in die Regierungspolitik hineinreden lassen. Ein wenig aufgeladen und verärgert klingt es denn schon, wie er sich am 13. Dezember 1906 (4379) dem Reichstag mitteilt:
Vorgeschichte zurück Die Gerüchte über die politische Zukunft von Graf Posadowsky mehren und verdichten sich. "Im Juni 1907 glaubte Fürst Bülow, Grund zu der Annahme zu haben, daß der Vizekanzler Graf Posadowsky durch den [Berliner] "Lokalanzeiger" gegen ihn intrigiere. Daraufhin erhielt Graf von Posadowsky seine Entlassung; ." (Kaiser Wilhelm, NWJ, 23. März 1913) So einfach, wie es sechs Jahre später das Neue Wiener Journal vermittelt, ist es natürlich nicht. Bereits im Frühsommer 1906 tauchen in der Presse die ersten Nachrichten über einen bevorstehenden Rücktritt auf. Eine "gewisse Unzufriedenheit über die Haltung Posadowskys bei der jüngsten Südafrikadebatte", registriert im Juni 1906 die Münchner "Allgemeine Zeitung" ("Das Vaterland" 6.6.1906). Andere, so am 3. Juni 1906 das "Deutsche Volksblatt" in Wien, erklären dies "als vollkommen unbegründet". Die "Frankfurter Zeitung" treibt ihre eigenen Planspiele. Danach übernimmt Theobald von Bethmann Hollweg (1856-1921) seine Stelle, dessen Amt erhält wiederum der Posener Oberpräsident von Wilhelm von Waldow (1856-1937). Näher dran scheint da die "Coburger Zeitung", wenn sie beobachtet, dass zwischen dem Reichskanzler und ihm "Unstimmigkeiten in sozialpolitischen Fragen" herrschen, die den Chef schließlich im Juni 1907 zum Vortrag beim Kaiser in Kiel veranlassen, um seine Entlassung zu erwirken. "Der Wahre Jacob" veranstaltet im April 1907 ein virtuelles Kellerfest für den Hottentotten-Block. Die Rechte nutzt das Tohuwabohu und schiebt Graf Posadowsky aus dem Kellerfenster.
Im Juni 1907 verabschiedet sich Graf von Posadowsky aus der Reichsleitung. "Ich gewähre Ihnen", zitiert 1917 Dr. Ernst Friedegg aus der Urkunde, "Ihre Entlassung." 1. Ein Grund war der Bruch zwischen Reichskanzler von Bülow und Graf Posadowsky aus Anlass der Auflösung des Reichstages im Dezember 1906. 2. Eine Historie über den Abschied vom Staatssekretär des Innern erzählt von der Fremdeinwirkung auf Posadowsky durch das SPD-Parteiorgan der "Vorwärts". 3. Seinen Abgang aus der Reichsleitung ist ein Opfer für Bülows Blockpolitik. 4. Die Beendigung seiner Tätigkeit als Staatssekretär steht in Zusammenhang mit der Kritik an seiner Sozialpolitik und nutzt eine gewisse Abnutzungsstimmung aus. [1. Bruch und Gegensatz zurück] Verschiedentlich, zuweilen nur nebulös angedeutet, dann wieder klar ausgesprochen, liest man über angebliche und wirkliche Differenzen, die zwischen Bernhard von Bülow und seinem Staatssekretär des Innern bestehen. Paul Wittko erzählt 1925, dass Posadowsky unter Reichskanzler Carl Viktor Fürst von Hohenlohe-Schillingsfürst seine "starkgeistige und früchtereiche staatsmännische Tätigkeit ungehindert ausüben" konnte. Als im Herbst 1900 Bernhard von Bülow übernahm, da brachten die "Temperamentunterschiede dieser beiden Männer bald allerhand Misshelligkeiten zu Tage". Als dann noch bekannt wurde, teilt am 25. Juni 1907 die Jenaer Volkszeitung mit, dass der Staatssekretär den Bestrebungen des Zentrums zuneigt, geredet wurde gar über eine parteipolitische Mitwirkung aus dem Reichsamt heraus, war das Maß voll. Posadowsky`s Debattenbeitrag vom 28. Februar 1907 im Reichstag umfasst nur wenig mehr als eine Seite. Es ist eine deutliche Kritik an seinem Chef, Reichskanzler Bernhard von Bülow, weil jener das Zentrum ausschaltet und für die nächste Legislaturperiode, nur schwer zu kalkulierende Risiken für die gesetzgebende Tätigkeit des Reichstages eingeht. Salopp formuliert, er billigt nicht die Auflösung des Reichstags. Das ist nicht sein Weg. Es ist der Bruch mit Reichskanzler Bernhard von Bülow. Im Einzelnen liest sich das im Protokoll des Reichstages so. Zuvor ist zum allgemeinen Verständnis noch eine kurze Vorbemerkung abgebracht, um die Ereignisse einzuordnen. Die Desavouierung der Regierung durch den Reichstag, wie es Ende 1906 geschehen, betrachteten gewiss nicht alle, aber doch viele Reichspolitiker als unpatriotisches Verhalten. Dazu nimmt Posadowsky am 28. Februar 1907, also nach den Reichstagswahlen, wie folgt Stellung: Welche Schwerkraft der Streit zwischen Regierung und gesetzgebender Versammlung über einen parlamentarischen Beschluss entfaltet, lässt sich nicht präjudizieren, sondern ist von der "allgemeinen jeweiligen politischen Lage" abhängig. Der Reichskanzler hat die Ablehnung der betreffenden Forderung durch den Reichstag als eine nationale Frage angesehen. Das impliziert, er hätte es nicht getan.
Unter Verwendung der Worte des Vorredners Adolf Gröber (*1854) vom Zentrum äußert sich Posadowsky über Entscheidung zur Auflösung des Reichstags so: ".... wie kann man gegenüber einer Partei, die sich unzweifelhaft bei eine Reihe von Gelegenheiten hohe patriotische Verdienste erworben hat, indem sie für große Massregeln der Landesverteidigung stimmte, - wie kann man einer solcher Partei gegenüber, wenn sie einmal ein paar Millionen ablehnt, einen Kampf anfangen und diesen Kampf zur Ursache der Auflösung des Reichstags machen?" (Posa RT 28.2.1907,139) Also, Wie kann er nur!, dieser Bülow, und legt ein spärliches, ich möchte dem Reichskanzler nicht vorgreifen, bei. Eine kleine Referenz gegenüber dem Vorgesetzten, nicht aber eine Relativierung der zuvor getroffenen Aussage. Natürlich riskierte der Kanzler mit der Auflösung des Reichstags, anerkennt Posadowsky, seine leitende Stellung und das Amt als Staatsmann. Beim Bundesrat stößt er damit auf Verständnis, kann er doch sein Programm durchsetzen. Allerdings muss er sich, worauf Adolf Gröber und der Stuttgarter Rechtsanwalt Friedrich von Payer (*1847) von der Deutschen Volkspartei in der Debatte bereits hinwiesen, jetzt auf Parteien stützen, "die in ihren Grundanschauungen auf Grund langer geschichtlicher Entwicklung bisher allerdings wesentlich auseinandergingen" und "damit die in Aussicht gestellte Gesetzgebung nicht durchführen können". (Posa RT 28.2.1907,139) Das "Neue Wiener Tagblatt" hinterfragt am 26. Juni 1907 das Verhältnis zwischen Fürst Bülow und Graf von Posadowsky an Hand der Eingabe von Rudolf Martin (1867-1939) an den Reichskanzler vom 12. Juni 1907, der gegen Form und Inhalt eines Verweises seines Vorgesetzten Graf von Posadowsky.
Anlass der Beschwerde ist dessen viel beachtetes Buch "Die Zukunft Rußlands und Japans". Die 1905 erschienene Schrift prophezeite den Staatsbankrott Rußlands. Der Vowurf gegen ihn lautete, daß er in prononcierter Weise seinen Rang und Titel als kaiserlicher Regierungsrat unter den Titel setzte und damit und den Sensationserfolg errang. Martin empfand dies als Beleidigung. Er will den Vorwurf nicht gelten lassen. Merkwürdig nur, was auch dem "Neue(n) Wiener Tagblatt" nicht gefiel, warum er mit der Beschwerde so lange wartete. Die Hintergründe zum konkreten Vorgehen sind nicht geklärt. Es bleiben Vermutungen. Nachdenklich stimmt, dass der Beschwerdeführer seine Eingabe nicht nur Reichskanzler Bülow aushändigte, sondern ebenso Mitgliedern des Reichstages zustellte. Im Verhältnis der Beiden, lebt eine andere Verstimmung fort. Der Chef wurde krank und sein Staatssekretär für Inneres übernahm regulär die Leitung der Reichsgeschäfte. Obwohl hierfür zweifellos zuständig, führte die Reichskanzlei sie parallel und selbständig weiter und unterzeichnete Dokumente "Im Auftrage des Reichskanzlers". Der Reichskanzler ist unzufrieden darüber, dass ihn Posadowsky über bestimmte Sachlagen nicht ausreichend informiert hat. Außerdem erwartete er von ihm bei der Vertretung seiner Politik mehr Unterstützung. (Vgl. Arnim / v. Below 1925) "Endlich wird darauf hingewiesen", erleichtert sich am 21. März 1907 die "Cernowitzer Allgemeine Zeitung", "daß Graf Posadowsky im Reichstag den zu den liberal-konservativen Programm des Reichskanzlers eine auffallend kühle Neigung gezeigt habe." Außerdem habe er dem Verlangen des Fürsten Bülow nach einem freien Vereins- und Versammlungsrecht gegenüber betont, "daß der Kanzler dem Bundesrat Vorsicht und Zurückhaltung schulde, und ein Vereinsrecht müsse sich in den wirtschaftlich und politisch möglichen Grenzen halten". In der Debatte am 11. April 1907 zum Reichsvereinsgesetz im Reichstag, dass dies modernen Charakter tragen muss und gleichgültig die "Sicherheit der öffentliche Ordnung" verbürgen soll. [2. Intrige zurück] Die Parteizeitung der Zentrumspartei Germania spekuliert darüber, ob der "Vorwärts" Posadowsky im Auftrag des CDI stürzte? Gegen ihn setzten früh politische Attacken ein.
Da sind zum Beispiel die Ereignisse um das Rundschreiben an staatliche Institutionen, welches er am 11. Dezember 1897 zu Fragen des Streiks- und Koalitionsrechts versandte. Am 15. Januar 1898 veröffentlichten es die Sozialdemokraten im Vorwärts (Berlin). Doch WER hatte es der Redaktion zugespielt oder überbracht? Wurde diese Frage je gestellt? Man könnte, rekonstruiert zwei Jahre Später die "Germania", vernünftigerweise annehmen, dass er aus den Kreisen des Großindustriellen Wirtschaftsverbandes kommt. Vielleicht musste das sozialdemokratische Blatt dazu herhalten, "eine Intrige gegen Posadowsky anzuspinnen, um dessen Sturz herbeizuführen". Auf diese Weise verleiht die überregionale Zeitung für das Deutsche dem Vorgang ein neues Handlungsmotiv, nämlich:
[3.Opfer der Bülow`schen Blockpolitik zurück] Die Kriegserklärung an das Zentrum mit seinen 105 Abgeordneten, worauf Kaiser und Reichskanzler abstellen, kommt Posadowsky ungelegen, weil ihm seine Sozialpolitik damit nicht mehr durchsetzbar erscheint und deshalb gegen die Auflösung des Reichstags stimmt. Die Zentrumsnuance besteht darin, dass derjenige der außerhalb dieser Partei ihr am Nächsten stand, sein Amt niederlegen musste. So gesehen war dann der Abschied des Staatssekretärs des Innern ein Opfer an die Blockpolitik. [4. Kritik an der Sozialpolitik und Abnutzungsstimmung zurück] "Für den gesamten heutigen Zustand dieser Seite unseres öffentlichen Lebens", also der Sozialpolitik und - gesetzgebung, macht am 24. Juni 1906, die Deutsche(n) Arbeitgeber-Zeitung, "in erster Linie" Posadowsky verantwortlich. Andererseits ist es erfreulich, wenn das "Czernowitzer Tagblatt" vom 26. Juni 1907 versichert, "dass die Sozialpolitik mit Posadowsky Ausscheiden nichts zu tun habe". "Es soll nicht geleugnet werden," konstatieren Die Grenzboten aus Leipzig, "dass die Auffassung ziemlich verbreitet ist, es werde etwas zuviel Sozialpolitik getrieben; weder sei es in den betreffenden Bevölkerungskreisen möglich, sich in die Fülle Verordnungen einzuleben, noch werde damit irgendwelcher Einfluß auf die Sozialdemokratie selbst und bis zu dieser bisher noch nicht gehörenden Arbeiterschaft erreicht." Erstaunlicherweise fügen sie noch an: "Staatssekretär Posadowsky hat es bei seiner außerordentlichen Hingebung beim Zolltarif um die Konservativen wahrlich nicht verdient, dass diese im Parlament und in der Presse gegen ihn Front machen, wobei diese Frontstellung bis weit in die nationalliberalen Kreise Verlängerung findet." (DG 1906) Die Konservativen und einige linksliberale Abgeordnete reizen diese Stimmung aus, indem sie verbreiten, es sei zuviel Sozialpolitik geübt worden und lehnen ihren weiteren Ausbau und den Staatsinterventionismus ab (vgl. Über Posadowsky im Jahr 1906). Wohingegen die Unterstützer und Sympathisanten von ihrer hohen Meinung über den Staatssekretär des Innern nicht abgingen. Die Konservativen und einige linksliberale Abgeordnete reizen diese Stimmung aus, indem sie weiter ausstreuen, es sei zuviel Sozialpolitik geübt worden und lehnen ihren weiteren Ausbau und den Staatsinterventionismus ab (vgl. Über Posadowsky im Jahr 1906). Wohingegen die Unterstützer und Sympathisanten von ihrer hohen Meinung über den Staatssekretär des Innern nicht abgingen. Hier dominierte die Vorstellung Weiter, wie sie am 25. Juni 1907 erklärt die Coburger Zeitung beschreibt: "In der Handelspolitik ist Posadowsky seiner ursprünglichen Richtung treu geblieben; in der Sozialpolitik aber hat er sich gewandelt, er ließ sich aufklären. Er verharrte nicht auf dem einmal eingenommenen Standpunkt, sondern er sah, lernte und änderte seine Richtung. Er änderte sein Verhalten gegen die Arbeiterorganisationen, in Worten und in Taten, und sogar der Sozialdemokratie gegenüber schlug er einen Ton an, der bis dahin bei preußisch-deutschen Ministern nicht üblich war. So gewann er Vertrauen in den Kreisen, denen die Sozialpolitik gilt, und als eine Autorität, die manche gute Früchte trug."
Der Sturz zurück Ende 1906 löst Reichskanzler Bernhard von Bülow den Reichstag auf und beraumt für den 25. Januar 1907 Neuwahlen an. Am 24. Juni 1907 verlässt Graf von Posadowsky in "proncierter Art und Weise" (Neues Wiener Tagblatt) das "Staatsschiff". Es traf ihn tief, beobachtete die Vossische Zeitung (Berlin). Sein "hippokratisches Antlitz" mit Würde tragend, saß er während der "erregendsten Debatten auf seinen Platz, wie der steinerne Gott. Mitunter lächelte er still und ironisch in sich hinein ....", um dann "wieder sein Antlitz in Falten zu legen und unbeweglich vor sich hinblickend ". Über das Ende berichten am 25. Juni 1907 Die Münchner Neueste Nachrichten: "Der Reichskanzler hat deshalb vorgeschlagen und der Kaiser hat zugestimmt, - übrigens, wie wir authentisch erfahren, ohne jede Schwierigkeit ohne irgend ein Zögern -, daß derjenige preußische Minister, der Gunst und Vertrauen der Konservativen und des Centrums am stärksten genoss, sein Amt niederlege und an seine Stelle ein Nachfolger trete, der als politisch farbloser Beamter von unzweifelhafter Tüchtigkeit und Gewandheit vielleicht konservativen Anschauungen nahesteht, ganz gewiss aber keine Beziehung zum Centrum hat." "Auch bei der "unerhört rücksichtslosen" Verabschiedung des Grafen Posadowsky nach vierzehnjähriger Tätigkeit als Chef eines Reichsamtes spielte der Umstand eine Rolle, daß - wie Berckheim berichtet - "der Graf Posadowsky dem Kaiser persönlich nie recht sympathisch war" und daß "ganz speziell" das "merkwürdige, laute und sich überall vordringende Wesen" der Gräfin Elise von Posadowsky "S.M. niemals sympathisch gewesen sei."" (Röhl 1987, 136) Das Urteil der Berliner Presse vom 25. Juni über die makellose Persönlichkeit fällt dazu ziemlich einhellig aus: "Am lautesten erklingt sein Lob aus freisinnigen Blättern, wiewohl er aus seiner erzagrarischen Gesinnung niemals ein Hehl gemacht hat. Den konservativen, denen seine Sozialpolitik ein Dorn im Auge war, lassen das Scheiden dieses Staatsmannes erheblich kühler, ja wohl mit einiger Genugtuung auf, aber sie gedenken doch mit nassem Augen seiner hervorragender Arbeitskraft und seines unermüdlichen Pflichteifers." "Posadowsky,"
bemerkt
1925
Paul
Wittko
im
Kontext
der
Krise
von
1906/07,
"stets
unbedingt
wahrheitswillig
und
von
großer,
fast
zu
großer
Ehrlichkeit
...."
Einige politische Beobachter honorieren seine Leistungsfähigkeit und den Fleiss. Andere loben die fachliche Kompetenz und den Beitrag zur Pflege und Kultur des Parlamentarismus. "Ein Mann von Bedeutung, Kenntnis, und Arbeitsfähigkeit", gibt der Berliner "Vorwärts" etwas sparsam, doch treffend bei. Der ehemalige Schriftleiter der Frankfurter "Volksstimme" und SPD-Reichstagsabgeordnete Gustav Hoch (1862-1942) hebt zwanzig Jahre später hervor, dass ihm die Lernfähigkeit imponierte:
"Ähnlich wie Herrn von Berlepsch ist es dem Grafen v. Posadowsky gegangen. ... als ein Gegner des Arbeiterschutzes in sein Ministerium eingezogen. Ich erinnere an die 12 000 Mark Geschichte . Allmählich hat aber auch aus den Verhältnissen gelernt. Er hat sich schließlich geweigert, ein Minister gegen den Arbeiterschutz zu sein, sondern wollte ein Minister für den Arbeiterschutz sein. Deshalb musste er verschwinden." (Hoch 25.2.1927, 9249) "Mit
ihm
scheidet
aus
der
Reichs-
und
preußischen
Staatsregierung,
die
einzige
bedeutende
Persönlichkeit,
der
letzte,
dem
auch
der
Gegner
Achtung
entgegenbringen
konnte.
"Sein
Sturz
entspricht",
schaltet
sich
am
25. Juni
1907
die
Volksstimme
aus
Magdeburg
ein,
"mehr
noch
als
den
Wünschen
des
Fürsten
Bülow
jenen
der
scharfmacherischen
Reichspartei,
die
den
ehemaligen
Vertreter
der
Zuchthausvorlage,
den
Hauptmitarbeiter
des
Hochschutzzolltarifs,
den
Vertrauensmann
der
Landbündler
und
Industriebündler,
seit
er
sich
in
der
Auffassung
seines
Amtes
zu
etwas
modernen
Anschauungen
gewandelt
hatte,
als
ihren
Todfeind
zu
behandeln
pflegte."
"Über die Entlassung von Posadowsky", reicht am 26. Juni 1907 das Jenaer Volksblatt nach, "ist noch zu bemerken, dass er schon längst all den Kreisen der Großindustrie und des unsozialen Junkertums verhasst war, denen selbst die unvollkommene, zögernde und reaktionäre Sozialpolitik Posadowsky noch zu "revolutionär" erscheint." Besonders von den Montanindustriellen, bekam der Sozialpolitiker den Unwillen zu spüren. "Wenn
soll denn eigentlich der Ministerwechsel
zufriedenstellen," fragt
am 26. Juni (1907) die
National-Zeitung, "wenn
nicht die Kreise, die seit
langem einen Stillstand der
Sozialpolitik ein schärferes
Vorgeben gegen die Sozialdemokratie
verlangen.
"Die nachgesuchte Dienstentlassung", oder: "Ich gewähre Ihnen Ihre Entlassung", heißt es 1917 bei Friedegg, so lautete die amtliche Formulierung, ist am 26. Juni 1907 erteilt worden. Nachfolger wird der preußische Polizeiminister und spätere Reichskanzler Theodor von Bethmann Hollweg. Gerüchteweise wird bekannt, kolpotiert am 26. Juni 1907 das Neue Wiener Tagblatt, dass der Unterstaatssekretär Adolf Wermuth (1855-1927) seinem Chef und Freund, dem Grafen Posadowsky in den Ruhestand folgt. Insbesondere war er es, der die Verbindung, über die Bülow so ungehalten war, mit dem Zentrum aufrechterhielt. Als Mittelsperson wirkte wiederum der sogenannte "Schwarze Courier", der Geheime Regierungs- und Vortragsrat von Schönebeck, dessen ungewöhnlich schnelle Karriere in politischen Kreisen mehrfach aufgefallen war. So
schnell war seine Entlassung
nicht vergessen. Zum Beispiel
kommt sie am 8. Februar
1913 im Bericht über
die Reichstagssitzung unter
der Überschrift "Kampf
um die Macht" wieder
aufs Tape: "Das Auftreten
des Staatssekretärs Dr. Delbrück
erinnerte an die letzte Rede,
die im Reichstage sein Amtsvorgänger
Graf Posadowsky als Staatssekretär
gehalten hat. Auch Graf v. Posadowsky
erklärte damals den ostdeutschen
Junkern, dass er ein "grundsätzlicher"
Gegner ihrer Politik sei.
Er wolle kein Minister gegen,
sondern für die Sozialpolitik
sein. Herr von Delbrück
hat am Freitag [den 7. Februar
1913] dasselbe, wenn auch
mit anderen Worten gesagt.
Graf v. Posadowsky war kurze
Zeit nach jener Rede aus seinem
Amt ausgeschieden worden."
Der
Staatssekretär des Inneren
ist am Tag des Rücktritts
62 Jahre alt. Er verlegt
jetzt seinen Wohnsitz nach
Naumburg an der Saale, wo
er seit 1901 dem Domkapitel
angehört.
Quellennachweis
zu
Arthur
Graf
von
Posadowsky-Wehner
(1845-1932)
an
den
Kipp-
und
Verzweigungspunkten
der
Geschichte
siehe
https://www.naumburg-geschichte.de/geschichte/posadowsky4.htm.
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Autor: Detlef Belau | Urfassung:
2005. Überarbeitet am 14. April 2021. |