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Arthur
Graf von Posadowsky-Wehner (1845-1932) Dritter
Teil etwa 1907 bis 1932 Reichstagsabgeordneter Die Kandidaten-Rede von 1911 + Die Wohnungsfrage ist jetzt d i e soziale Frage + Jahrhundertelang das Schlachtfeld der Nationen + Über die drei geheimen Ursachen Englands Verschwörung gegen Deutschland + Vielleicht werden wir unsere Rüstung einschränken + 30. Juni 1913: Größte Wehrvorlage aller Zeiten angenommen + Mars regiert die Stunde + Impressionen + Das unangenehme Wort Bedürftigkeit + Friedensresolution 1917 + Reproducator post bellum + Kriegswirtschaft + Steuerpolitik mit Kokaineinspritzung?
Evolution und Revolution Jede Zeit ist eine Sphinx, die sich in den Abgrund stürzt + Das unbegrenzte Recht des Siegers + Hass auf die Kabelabschneider + ....auch für unsere Feinde wird dieser Tage kommen .... + Keine Anerkennung der Schuld + Reichsnotopfergesetz und Erzberger`sche Finanzreform + Deutschlands Einheit ist gefährdet! + Die Alten und der Obrigkeitsstaat + Der Aufstieg des Arturo Ui + Kaiserbilder + Antiwestliche Tendenzen + Revolution und Evolution + Dunkle Drohungen + Rache. Feindbild. Kühlmann-Episode + Deutschtum und Auslandsdeutsche + Ostjuden-Frage + Überfordert + Farbige Truppen + Die Reichskronen-Rede (1919) + Oppositionsführer in der Nationalversammlung: Zweikampf Posadowsky-Juchacz, Kriegsschuldfrage, Exkurs: Spitzen beschneiden!, Dreiklassenwahlrecht, Hauptsache keine kommunistischen Experimente
Abkehr von der deutschnationalen Politik Politische Krisenbewältigung + Gegen Antisemitismus + Krise des konservativen Denkens + Die liberale Wende + 1920: Weltwende + Reparaturbedarf der parlamentarischen Demokratie + Die Zeit verlangt Selbstzucht und entbehrungsreiche Einsicht + Kapp-Putsch + Fürstenentscheid + Wider der Prinzipien- und Grundsatzlosigkeit
Die anstrengende Republik Keine Illusionen! + Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Eigentums? + Elite und Verantwortung + Bürgersinn und Pflicht + Popularität der Staatsform + Rechtsbewusstsein wider Durchbrechungstheorie + Krieg und Frieden + Vordenker der staatsbürgerlich-christlichen Erziehung + Provinziallandtag + VRP + Geldpolitik + Preußische Haushaltskrise fordert Opfer vom Volk + Intervention und Subvention + Man hörte kaum die Sätze + Diese Politik ist nicht mehr erträglich
Sein Herz schlug für Deutschland! + Deutschland-Plan + Eine volkswirtschaftlich vernünftige Geldpolitik + Der Posadowsky-Codex + Identität und Sozialstaat + Offenheit, Wahrheit, Fairness + E r wählte nicht den Weg in die faschistische Diktatur
Der Sturz zurück Ende 1906 löst Reichskanzler Bernhard von Bülow den Reichstag auf und beraumt für den 25. Januar 1907 Neuwahlen an. Am 24. Juni 1907 verlässt er das "Staatsschiff". Es traf ihn tief, beobachtete die Vossische Zeitung (Berlin). Sein "hippokratisches Antlitz" mit Würde tragend, saß er während der "erregendsten Debatten auf seinen Platz, wie der steinerne Gott. Mitunter lächelte er still und ironisch in sich hinein ....", um dann "wieder sein Antlitz in Falten zu legen und unbeweglich vor sich hinblickend ". Posadowsky billigte die Politik des Reichskanzlers von 13. Dezember 1906 nicht. Über das Ende, berichten am 25. Juni 1907 Die Münchner Neueste Nachrichten: "Der Reichskanzler hat deshalb vorgeschlagen und der Kaiser hat zugestimmt, - übrigens, wie wir authentisch erfahren, ohne jede Schwierigkeit ohne irgend ein Zögern -, daß derjenige preußische Minister, der Gunst und Vertrauen der Konservativen und des Centrums am stärksten genoss, sein Amt niederlege und an seine Stelle ein Nachfolger trete, der als politisch farbloser Beamter von unzweifelhafter Tüchtigkeit und Gewandheit vielleicht konservativen Anschauungen nahesteht, ganz gewiss aber keine Beziehung zum Centrum hat." Das Urteil der Berliner Presse (vom 25.6.) "makellosen Persönlichkeit" fällt dazu ziemlich einhellig aus: "Am lautesten erklingt sein Lob aus freisinnigen Blättern, wiewohl er aus seiner erzagrarischen Gesinnung niemals ein Hehl gemacht hat. Den konservativen, denen seine Sozialpolitik ein Dorn im Auge war, lassen das Scheiden dieses Staatsmannes erheblich kühler, ja wohl mit einiger Genugtuung auf, aber sie gedenken doch mit nassem Augen seiner hervorrangender Arbeitskraft und seiner unermüdlichen Pflichteifers." 1925 bemerkt Paul Wittko im Kontext der Krise von 1906/07: "Posadowsky, stets unbedingt wahrheitswillig und von großer, fast zu großer Ehrlichkeit ...." Einige politische Beobachter honorieren seine Leistungsfähigkeit und den Fleiss. Andere loben die fachliche Kompetenz und den Beitrag zur Pflege und Kultur des Parlamentarismus. "Ein Mann von Bedeutung, Kenntnis, und Arbeitsfähigkeit", gibt der Berliner "Vorwärts" etwas sparsam, doch treffend bei. Der ehemalige Schriftleiter der Frankfurter "Volksstimme" und SPD-Reichstagsabgeordnete Gustav Hoch (1862-1942) hebt zwanzig Jahre später hervor, dass ihm die Lernfähigkeit imponierte:
"Ähnlich wie Herrn von Berlepsch ist es dem Grafen v. Posadowsky gegangen. ... als ein Gegner des Arbeiterschutzes in sein Ministerium eingezogen. Ich erinnere an die 12 000 Mark Geschichte . Allmählich hat aber auch aus den Verhältnissen gelernt. Er hat sich schließlich geweigert, ein Minister gegen den Arbeiterschutz zu sein, sondern wollte ein Minister für den Arbeiterschutz sein. Deshalb musste er verschwinden." (Hoch 25.2.1927, 9249) "Mit ihm scheidet aus der Reichs- und preußischen Staatsregierung, die einzige bedeutende Persönlichkeit, der letzte, dem auch der Gegner Achtung entgegenbringen konnte. "Sein Sturz entspricht", schaltet sich am 25. Juni 1907 die Volksstimme aus Magdeburg ein, "mehr noch als den Wünschen des Fürsten Bülow jenen der scharfmacherischen Reichspartei, die den ehemaligen Vertreter der Zuchthausvorlage, den Hauptmitarbeiter des Hochschutzzolltarifs, den Vertrauensmann der Landbündler und Industriebündler, seit er sich in der Auffassung seines Amtes zu etwas modernen Anschauungen gewandelt hatte, als ihren Todfeind zu behandeln pflegte."
"Über die Entlassung von Posadowsky", reicht am 26. Juni 1907 das Jenaer Volksblatt nach, "ist noch zu bemerken, dass er schon längst all den Kreisen der Großindustrie und des unsozialen Junkertums verhasst war, denen selbst die unvollkommene, zögernde und reaktionäre Sozialpolitik Posadowsky noch zu "revolutionär" erscheint." Besonders von den Montanindustriellen, bekam der Sozialpolitiker den Unwillen zu spüren. "Wenn soll denn eigentlich der Ministerwechsel zufriedenstellen," fragt am 26. Juni (1907) die National-Zeitung, "wenn nicht die Kreise, die seit langem einen Stillstand der Sozialpolitik ein schärferes Vorgeben gegen die Sozialdemokratie verlangen. "Die nachgesuchte Dienstentlassung", so lautet die amtliche Formulierung, ist am 26. Juni 1907 erteilt worden. Nachfolger wird der preußische Polizeiminister und spätere Reichskanzler Theodor von Bethmann Hollweg. So schnell war seine Entlassung nicht vergessen. Zum Beispiel kommt sie am 8. Februar 1913 im Bericht zur Reichstagssitzung unter der Überschrift "Kampf um die Macht" wieder aufs Tape: "Das Auftreten des Staatssekretärs Dr. Delbrück erinnerte an die letzte Rede, die im Reichstage sein Amtsvorgänger Graf Posadowsky als Staatssekretär gehalten hat. Auch Graf v. Posadowsky erklärte damals den ostdeutschen Junkern, dass er ein "grundsätzlicher" Gegner ihrer Politik sei. Er wolle kein Minister gegen, sondern für die Sozialpolitik sein. Herr von Delbrück hat am Freitag [den 7. Februar 1913] dasselbe, wenn auch mit anderen Worten gesagt. Graf v. Posadowsky war kurze Zeit nach jener Rede aus seinem Amt ausgeschieden worden."
Der Staatssekretär des Inneren ist am Tag des Rücktritts 62 Jahre alt. Er verlegt jetzt seinen Wohnsitz nach Naumburg an der Saale, wo er seit 1901 dem Domkapitel angehört.
Reichstagsabgeordneter
Reichskanzler Bernhard von Bülow bildet nach den Reichstagswahlen von 1907 gegen das Zentrum und die SPD den konservativ-liberalen Block. Zur Verabschiedung des Börsengesetzes (8. Mai 1908) und Reichsvereinsgesetzes (19. August 1908), spielt das Zentrum wieder Opposition. Gerademal zwei Jahre dauert diese Episode.
Um die Liberalen zu fesseln, musste der Reichskanzler versprechen, eine Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts herbeizuführen und einen Teil der Steuerhöhungen den Besitzenden durch Erweiterung der Erbschaftssteuer aufzuerlegen. Beides greift an die Wurzeln des Junkertums. Die Konservativen setzen sich zur Wehr, sprengen den Block und stürzen den Kanzler. Das ging nicht ohne Hilfe des Zentrums. (Ludwig 1911, 40f.) Die Niederlage und Verärgerung über das Scheitern der Reichsfinanzreform sitzt tief. Noch immer ist die politische Stimmung der Parlamentarier vom Rücktritt des Kanzlers Bülow am 14. Juli 1909 geprägt, als sich der Block von konservativen und liberalen Parteien auflöste. Zumindest Teile der Öffentlichkeit nehmen eine kritische Haltung zur Verschuldung des Staatshaushaltes ein. Hinzu gesellte sich neuerdings der Streit um den "Schutz der Nationalen Arbeit". Zuletzt drangen aus Sachsen derartige Bestrebungen an die Öffentlichkeit. Die Zollpolitik gewährt den Industrien - Eisen, Stahl - und der Landwirtschaft, Schutz vor der Konkurrenz. Warum nicht auch der Arbeit, hieß es?
Die Kandidaten-Rede von 1911 zurück Am 31. Oktober 1911 geht die vielbesuchte Internationale Hygiene-Ausstellung in Dresden zu Ende. Den "Großen Preis der Ausstellung", meldet wenige Tage später die Presse, erhält für sein Backpulver Doktor August Oetker. Er ist aus 89 000 Einwohner zählenden Stadt Bielefeld, wo demnächst Graf von Posadowsky seine Auftaktrede zur Reichstagswahl 12. Januar 1912 halten wird. Kann er am Image-Gewinn des Oetker-Erfolgs anknüpfen? Oder ist alles - wie beim Backpulver - nur eine Geschmacksfrage? Durchaus nicht. Ihn nominierten die Konservativen und Nationalliberalen, der Bund der Landwirte und das Zentrum als Kompromisskandidaten in der Hoffnung, dass er den SPD-Bewerber aus dem Feld schlägt. Den zur Versammlung
2 500 erschienenen Bürgern, eröffnet er mit einer Melange aus Wertorientierungen, Leistungsversprechen und Korrekturvorschlägen eine bessere Zukunft, und redet nun darüber, was sie von ihm erwarten können:
Bei seinen pflichtbewussten Auftritten im Wahlkreis plädiert er gelegentlich für die Einführung von "Besitzsteuern", was meistens nicht so wohlwollend aufgenommen wird, fühlen sich doch viele Bürger damit ausreichend ausgestattet. Die Kandidaten-Rede stellte die Reichsfinanzpolitik und Schuldenfrage zu unkritisch dar. 1912 spricht die SPD von einem Reichsfinanzschwindel. "Die Beschöniger unserer Reichsfinanzlage sind wieder emsig an der Arbeit," argumentieren ihre Parteizeitungen, "um der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen." Unter "Zuhilfenahme der sonderbarsten Legenden" wird ihre Besserung behauptet. .... Würde der Etat glatt durchgerechnet, müssten 148 Millionen Mark Schulden ausgewiesen werden. (LV 22.7.1912) Um ein Mandat als Reichstagsabgeordneter bewirbt sich im Wahlkreis Bielefeld der Sozialdemokrat Carl Severing (1875-1952), weshalb seine Partei daran interessiert, die zweistündige Bewerbungsrede des Konkurrenten einer kritischen Analyse zu unterziehen. Wie üblich hilft der "Vorwärts" (Berlin) dabei: Erstens. Der Wahlkämpfer aus Bielefeld war es, das kann die Opposition kann nicht vergessen, der selbst vor Jahren den Zolltarif eingerichtet hat, der jetzt die wirtschaftliche Entwicklung hemmt. Glitt er deshalb flugs über die Teuerungen der Waren durch Ausweitung der indirekten Steuern hinweg? Zweitens. Offenbar ist Posadowsky beim Thema Bevölkerungswachstum entgangen, dass der Zustrom ausländischer Arbeiter nicht so stark sein müsste, wenn die nationalen Unternehmen sie nicht als Lohndrücker einsetzen würden. "Aber warum sagt" er "seinen Zuhörern nicht, daß diese Furcht vor der Überbevölkerung überhaupt eine Lächerlichkeit ist." Drittens. Dem Kapitalismus, diesem System der Ausbeutung und der Geistesknechtung, der Teuerungen und der Kriegsgefahr, ist ein Ende zu bereiten. Viertens. Von einem Kandidaten der Rechten können die Bürger zur Erbschaftssteuer keine Großtaten erwarten, zu oft schon warfen die Konservativen den Hemmschuh vor die Räder der Sozialpolitik. Mit dem Kandidaten der Nationalliberalen und des Landbundes kann das Volk jetzt auf diesem Gebiet keine Lorbeeren erringen. (Vorwärts 30.11.1911) Die SPD ermuntert die Wähler: "Es geht aufs Ganze und deshalb werden die Arbeiter in Bielefeld die guten Absichten des früheren Staatssekretärs gerne registrieren, ihr Stimmen aber gehören dem Kandidaten der Sozialdemokratie." Aber ihre Hoffnungen erfüllen sich nicht. Wohingegen ihr politischer Gegner die Wahl als ein "glückliches Ereignis" empfindet, ihn, wie noch zu sehen, in eine leichte politische Rechtskurve zwingt.
Nach den Reichstagwahlen am 12. Januar 1912 gehört er zu den Berliner Reichstagsköpfen, wie 1915 das Wiener Fremdenblatt feststellt, "die man dort jetzt öfter auf den Straßen sieht". Noch einmal greift die SPD auf den Reichstagswahlkampf in Bielefeld zurück. "Ja, da möchte ich aber doch auf eins aufmerksam machen", beginnt am 17. Februar 1912 Georg Ledebour seine Attacke im Reichstag: "Soviel mir bekannt ist, haben sie in den Versammlungen keine freie Diskussion gestattet, (hört! hört! bei den Sozialdemokraten) höchstens Zehnminutenbrennerreden, - (Heiterkeit) das ist mir erzählt worden, - oder sollte ich mich da irren? Hui tavet, oollssutirs viästur; noch dazu, da der Herr Abgeordnete vorhin widersprochen hat, nehme ich an, daß es richtig ist. Dann möchte ich ihn darauf aufmerksam machen, daß es keine besonders rühmenswerte Kunst ist, eine Menge zu beeinflussen, wenn man die Gegenrede nicht zulässt." Einwurf von Posa:
Der renommierte SPD-Politiker fordert ihn zum Rededuell heraus und schlägt dafür den größten Saal in Berlin vor. "Ja, Herr Graf," sagt Georg Ledebour (RT 17.2.1912, 101), "ich gehe sogar so weit: wenn Sie mir die Ehre einer Diskussion erzeigen wollen, ich konzediere Ihnen zwei Stunden, ich will nur eine Stunde sprechen. (Große Heiterkeit)"
"Die
Wohnungsfrage ist .... jetzt die soziale Frage." Besonders in den industriellen Zentren Deutschlands herrscht große Wohnungsnot. Kinderreiche Familien, Geringverdiener, Erwerbslose, Invalide, und Greise hausen in Löchern mit stickiger Luft und unzureichendem Sanitär. Alkoholismus und andere die Gesundheit zerstörende Laster haben in nicht unerheblichem Maße hier ihre Ursache. Der Mangel an gesunden, hellen Kleinwohnungen, läßt die Mieten weiter in Höhe steigen. Seit 1863 spricht man von "Trockenwohnern". Ein Begriff, der von Satirezeitschrift Kladderadatsch eingeführt und sich zur kulturkritischen Metapher mauserte.
Allmählich entsteht in der Öffentlichkeit eine neue Sichtweise. "Es ist in immer tiefere Kreise unserer Bevölkerung das Bewusstsein eingedrungen," beurteilt Posadowsky (RT 6.2.1913, 3549) den Fortschritt, "dass ein großer Teil der körperlichen und sittlichen Leiden der minderbemittelten Schichten aus den ungenügenden Wohnverhältnissen hervorgeht, die namentlich in den großen Städten bestehen. (Lebhafte Zustimmung rechts und links im Zentrum)." Daß die Lösung der Wohnungsfrage für die Schloß-Besitzer anders aussieht als für die Arbeiter in Berlin und Leipzig, war ihm immer gegenwärtig, ohne dass er der Versuchung verfiel, sich in den Klassenkampf zu stürzen. Aber er tritt, anerkennt 1907 die "Volksstimme" aus Magdeburg, der Ausbeutung der Mieter durch die Hausbesitzer und Grundbesitzer entgegen. Die Wohnungsfrage ist von nicht zu überschätzenden Einfluß auf die Tiefe und Festigkeit politischer Überzeugungen und Einstellungen der besitzlosen Klasse gegenüber Staat und Regierung. Um es mit Posadowsky Worten zu sagen: "Eine kräftige bäuerliche Siedlungspolitik in allen Teilen Deutschlands und eine
könnte einen entscheidenden Einfluss auf die politische Zukunft unseres Vaterlandes ausüben." (Posa, RT 1913, 3549) Rückt er deshalb die Wohnungspolitik in den Mittelpunkt? So könnte man schlußfolgern. Die Wohnung bleibt der funktional-soziale Raum für die Gestaltung des familiären und persönlichen Lebens. Hundert freundliche Arbeiterhäuschen lösen das Problem nicht. Geräumige, hygienisch einwandfreie Großblöcke sind für den sozialen Wohnungsbau der Maßstab der Stunde. Posadowsky konzentriert sich auf die Bedürfnisse der Arbeiter und kleinen Angestellten, rückt sie in das politische Zentrum der Wohnungspolitik und unterbreitet folgende Vorschläge:
Das Erbbaurecht ist [a] für die Städte, bedrängt er abermals am 28. Februar 1912 den Reichstag, die möglichst große Ländereien erwerben, das geeignete Mittel, um auf dem Wege des Kleinwohnungsbaus für die minderbemittelten Volksklassen gesunde und preiswerte Wohnungen zu schaffen. Allerdings müssen dazu die Bestimmungen zum Erbbaurecht des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend ergänzt werden. [b] Die Städte können die Aufgabe nicht alleine lösen. Das Großkapital muss Mut fassen und Luft haben, die Förderung des Wohnungsbaus mittels dem Erbbaurechts zu unterstützen. Nach seinen Erfahrungen, ist die Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem nur mittels öffentlicher und privat-unternehmerischer Investitionen möglich. Durch entsprechende Ergänzungen der Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches würde sich, dass Großkapital interessiert zeigen. Zurzeit ist das nicht der Fall, weshalb rechtlich an der Liquidität der Anlagen oft Zweifel bestehen.
Es ist kam Bewegung in die öffentliche Meinung zur Wohnungsfrage, auch dank der Initiativen von Persönlichkeiten wie Karl von Mangoldt (1868-1945), Sekretär des Instituts für Gemeinwohl und Vorsitzender Geschäftsführer des Vereins Reichswohnungsgesetz. Er ist entscheidend an der Vorbereitung und Durchführung des
vom 16. bis 19. Oktober 1904 in Frankfurt am Main beteiligt. Posadowsky unterstützt nachdrücklich das Projekt. Bis auf den letzten Platz füllt sich der Saalbau zur Eröffnung des Kongresses. Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens erscheinen. Eine bunte Gesellschaft, darunter: Nationalökonom und Sozialreformer Professor Lujo Brentano, Albert Südekum, Journalist und SPD-Mitglied, Franz Oppenheimer, Arzt und Soziologe, Doktor Baumert, aus Berlin-Spandau und Syndikus der Hausbesitzervereine und viele Fachleute der Wohnungswirtschaft. Der Kongresse erörtert die sozialen, ökonomischen und verwaltungstechnischen Probleme der Wohnungswirtschaft Tief bewegt sind die Kongressteilnehmer von Berichten über das Schlafgängerwesen oder die Not einer Familie mit zehn Personen, die nur in einem Zimmer lebt. Die Versammlung spaltet sich, als der Organisationsausschuss des Allgemeinen Deutschen Wohnungskongress nur eine von ihm zugelassene Erklärung zur Abstimmung zulassen will. Dagegen protestiert die sozialdemokratische Gruppe und veröffentlicht am Sonntag, den 18. Oktober, ein Dokument, worin sie den preußischen Wohnungsgesetzesentwurf zur Linderung der Not als völlig ungeeignet bezeichnet, weil der Landtag die Klassenprivilegien pflegt und die Gemeinden rücksichtslos das Hausbesitzervorrecht realisieren. Unschwer sind in den Debatten und Ergebnissen des Wohnungskongresses die tiefen Gegensätze und Unterschiede erkennbar, die in der Gesellschaft allgemein und bei den verantwortlichen Fachpolitikern zur Lösung des Wohnungsproblems als soziales Problem bestehen.
bittet der Bayerische
Verband für Wohnungsförderung
Nach Analyse einiger Tendenzen der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland, klingen bald kritische Untertöne zur Kolonialpolitik an: In den besten Kolonien, wie Südwestafrika, die 26 Jahre zu Deutschland gehören, siedelten lediglich 6 210 Deutsche, während sich die Bevölkerung im gleichen Zeitraum um 18 Millionen erhöhte. "Auch die wärmsten Vertreter einer starken Kolonialpolitik werden hiernach die Hoffnung kaum mehr aufrechterhalten können, dass unsere Kolonien imstande wären, einen irgendwie nennenswerten Teil unserer wachsenden Bevölkerung aufzunehmen." Wenn wir den jetzigen Kulturstand halten wollen, kalkuliert der Graf, dann müssen ausreichend Wohnstätten geschaffen werden, die den gesundheitlichen und sittlichen Anforderungen genügen. Gegenwärtig lebt die Stadtbevölkerung zu vier Fünftel in Kleinwohnungen mit zwei bis drei Räumen. "Aber nur in sehr großen Entfernungen von ihrer Arbeitsstelle können sie sie finden `zum Schaden ihrer Arbeits- und Nachtruhe und ihres Familienlebens`". Etwa 63 Prozent der Bevölkerung leben in Zwei- bis Dreizimmerwohnungen. In einzelnen Orten sind sie bis zu 59 Prozent mit zwei, ja sogar mit drei Schlafgängern belegt, was "die kaum glaubliche Zerrüttung des Familienlebens in den Arbeiterfamilien" bedingt. Staat, Städte und Gemeinden müssen deshalb eine neue Richtung im Wohnungsbau einschlagen. "Während in dem hochindustriell entwickelten Belgien, in Brüssel, auf ein Haus nur 9, in Gent 5, in Antwerpen 7, in Lüttich 8, Bewohner entfallen, treffen in Westfalen in grösseren, selbst mittleren Industriestädten 20-22 Bewohner auf das Haus, und zwar von Häusern im ganz geringen Umfang." (Wohnungsfrage 5.2.1911, 83) "..... gerade von der Entwicklung des Erbbaurechts, glaube ich," präzisiert er am 6. Februar 1913 (3548) vor dem Reichstag seine Vorstellungen, "ist eine sehr wirksame Förderung des Wohnungswesens zu erwarten; denn das Erbbaurecht hat den großen Vorzug, erstens, dass das bebaute Grundstück nicht aus dem Hypothekenverband des Stammgrundstücks ausgelöst zu werden braucht; ferner erlaubt es auch minder bemittelten Personen, ein derartiges Grundstück im Wege des Erbbauvertrages zu erwerben, weil kein Kapital zu zahlen ist, sondern nur eine fortlaufende Rente, und endlich hat er für den Besitzer des Grundstücks den wesentlichen Vorteil, dass er Eigentümer seines Grundstücks bleibt, und ihm deshalb auch der Gewinn aus der Steigerung des Preises für den Grund und Boden zufließt, sobald die Erbbaufläche nach Ablauf des Erbbauvertrages wieder in sein Eigentum zurückkehrt." Um den Wohnungsbau mit angemessenen Preisen realisieren zu können, müssen die Gemeinden endlich reichlich und vorsorgend Grund und Boden ankaufen. Für dringend notwendig hält er den Bau von Wohnungen für Reichsangestellte, damit, wie er es ausspricht, die Mieter der Ausbeutung durch die Hausbesitzer und Grundeigentümer entrinnen können. Über den Münchner Vortrag 1910 fällt die sozialdemokratische Wochenschrift Die Neue Zeit (1910) ein vielsagendes Urteil:
Auf dem
hält Graf von Posadowsky-Wehner als ihr Ehrenpräsident die Eröffnungsrede. Es gilt als ein Fachmann der Wohnungsbaupolitik und geniesst einen guten Ruf. In seinem den Kongreß einleitenden Referat stützt er sich auf eine Vielzahl von Veröffentlichungen, Petitionen und Statistiken. Wichtige erwähnt er als Quelle. Interessant ist, welche Nachrichten, Informationen und Fakten sein politische Blick auswählt. Sein Vortrag beginnt mit einem kurzen historischen Rückblick:
Posadowsky betreibt Wohnungspolitik für die Unterklasse. Drei grundsätzliche Folgerungen umschreiben gut seine Herangehensweise: Erstens. "Unsre ganze Arbeit in der Wohnungsfrage muss bei fortgesetzten Wachstum unserer Bevölkerung und den nicht vorauszusehenden und zu beherrschenden Gründen des Zusammenströmens immer größere Massen an gewissen Schnittpunkten unseres wirtschaftlichen Lebens eine Danaidenarbeit bleiben, wenn wir nicht unterstützt werden durch Bestimmungen eines Wohnungsgesetzes, welches nicht nur gewisse Mindestforderungen für die Herstellung von Wohnungsgebäuden aufstellt, sondern auch den Verwaltungs- und Polizeibehörden das Recht gewährt, Art und Umfang der Benutzung der Wohnräume entsprechend den Anforderungen der von Sittlichkeit und Gesundheit zu regeln." Zweitens. Wohnungsgesetze und Vorschriften müssen sicherstellen, dass gewisse mit dem Bebauungsplan einbezogene Landstücke nur mit Kleinwohnungen bewirtschaftet und die darauf errichteten Häuser ebenfalls nur als Kleinwohnungen benutzt werden dürfen. Drittens. Große ("zentrale") Bedeutung kommt der Anwendung und Förderung des Erbbaurechts zu. Wesentlichen Punkte dazu erörterte am 28. Februar 1912 im Reichstag. Er beendet sein Leipziger Referat mit lebhaften und anhaltenden Beifall. (Referat von Posadowsky in LVZ 13. Juni 1911 und Arbeiter-Zeitung, Wien, 25. Juni 1911)
Reichstagsdebatte 1913 Am Freitag, den 7. Februar 1913 führt der Reichstag die Aussprache über die Wohnungsfrage fort. Anlass war die unerwartete Ausdehnung durch die Junker, die mit Graf Kuno Westarp (1864-1945), Deutschkonservative Partei (DKP), einen Vorstoß gegen die Reichsverwaltung und den Reichstag unternahmen. Zuvor kündigte Staatssekretär Clemens von Delbrück (1856-1921) vom Reichsamt des Innern an, dass das Reich die entsprechenden Aufgaben übernehmen muss, wenn die Einzelstaaten - wie eben Preußen - es nicht tun. In der Debatte entstand der Eindruck, als ob sich das Reich den Interessen der preußischen Junker, dass nur seine Interessen und Vorteile kennt, fügen soll. Aus dem Hintergrund hört Sozialdemokrat Georg Ledebour den Sammelruf gegen die Arbeiterklasse und ihre Organisationen. Posadowsky versucht am 6. Februar 1913 (3548) beruhigend auf den Streit einzuwirken, indem er darauf hinweist, dass das preußische Wohnungsgesetz veröffentlicht und auf der nächsten Tagung des preußischen Landtages beraten wird. "Ich meine, man wird sich bei dieser Lage beruhigen müssen. (Sehr richtig! rechts) Wir würden indessen meines Erachtens auf die Forderung eines Reichswohnungsgesetzes zurückkommen müssen, wenn entweder jenes preußische Wohnungsgesetz eine Gestalt bekäme, die nicht den wirklichen Bedürfnissen unseres Volkes entspricht." Am 12. Oktober 1918 (138) bescheinigt er dem preußischen Wohnungsgesetz, dass es die nachteiligen "Folgen der jetzigen Wohnungsverhältnisse, unter denen namentlich die unterbemittelten Klassen leiden, durch allgemeine Ausführungsbestimmungen abhelfen" will. "Zu diesem Zweck soll der Kleinwohnungsbau durch Gewährung erheblicher Staatszuschüsse gefördert werden ...." Entscheidend ist für ihn, dass "das Wohnungsbedürfnis der minderbemittelten Klassen" in einer Weise befriedigt wird, dass den "den sittlichen und gesundheitlichen Forderungen entspricht". Er am 6. Februar 1913 (3549) in der Reichstagsdebatte den Ersten Hauptsatz der Sozialpolitik um die Aufgaben der praktischen Wohnungsbaupolitik, die jetzt darauf gerichtet sein müssen, die Wohnverhältnisse in den Unterschichten und den Arbeiterfamilien, schnell und spürbar zu verbessern, erweitert. Denn:
"Wir unterstützen die Säuglingspflege, wir schaffen Jugendgerichtshöfe, wir verfolgen Laster und Verbrechen, damit kurieren wir aber nur auf die Symptome," merkt Posadowsky kritisch an, "wenn wir nicht die Hauptkrankheitsursachen, die sittliche bedenklichen Wohnungszustände, beseitigen." "Will man die Wohnungsverhältnisse der Bevölkerung positiv fördern, so muß man auch finanzielle Maßregeln treffen - und solche erwarte ich vorzugsweise von den Bundesstaaten und den Gemeinden -, die es denen ermöglichen, die nur ein kleines Sparkapital besitzen und im Übrigen für die Erfüllung ihrer Verpflichtungen nichts als ihre redliche Arbeitskraft bieten können, sich damit in unserem Vaterlande ein gefundenes Heim zu schaffen."
Preußische Wohnungs-Gesetz vom 28. März 1918
Noch bevor der Krieg beendet, erlässt Preußen am 28. März 1918 das Wohnungs-Gesetz. Artikel 1 sieht "Enteignung mit Rücksicht auf das Wohnungsbedürfnis" vor. Posadowsky stellt das Wohnungsbedürfnis der wirtschaftlichen Unterklasse in den Mittelpunkt der Bemühungen. Die Entlassung der Kriegspflichtigen und die Abwanderung vom Lande in die Industriegebiete verstärkt den Wohnungsmangel. Von jedem Zuziehenden ist jetzt ein Nachweis über eine Wohnung zu fordern oder der Arbeitgeber stellt ihm eine solche bereit. Nur so lässt sich eine gewisse Ordnung im städtischen Wohnungswesen aufrechterhalten. Gefragt ist die Verantwortung des Arbeitgebers. Das aber gemeinnützige Vereine das Risiko übernehmen, die benötigten Wohnungen suf Vorrat zu bauen, hält er für Unwahrscheinlich. Es ist dringend ein Gleichgewicht zwischen vorhandenen Kleinwohnungen und dem Wachstum der Bevölkerung zu schaffen. Vor allem müssen Kleinwohnungen gebaut werden. (Wohnungsnot und Freizügigkeit, 12.10.1918, 136 bis 139)
1920 unterbreitet Graf von Posadowsky in
weitere Vorschläge und wiederholt:
Typisch darn der Realismus, mit dem er vorgeht. Offensichtlich, muss er registrieren, reichen alle bisherigen Bemühungen, besonders wegen des schnellen Bevölkerungswachstums, nicht aus. Johannes von Miquel sprach einst von einer Vermehrung von 600.000 Köpfen pro Jahr (siehe Eugen Richter 14.12.1899, 689). Die bisherigen Massnahmen bewirkten keine durchschlagende Verbesserung. Und die wird weiter ausbleiben, warnt Posadowsky, solange nicht für die Benutzung der Wohnungen allgemein gültige Mindestanforderungen aufgestellt und deren Durchführung überwacht werden. Speziell für den Bau von Kleinwohnungen und deren Nutzung sind dringend Gesetze notwendig. Um zu niedrigen Mietpreisen zu gelangen, favorisiert er erneut das Erbbaurecht. "Entschließt man sich nicht zu durchgreifenden Massnahmen," warnt er, "so wird Laster und Verbrechen der Großstadt sich in einem Maße weiterentwickeln, das für das Volksleben nicht nur in den Großstädten, sondern des ganzen Landes bedrohlich wird."
Jahrhundertelang
das Schlachtfeld der Nationen (Posadowsky) Im Vorfeld der Heeresdebatte am 25. April 1912 über die "Deckungsvorlagen" im Reichstag finden viele kleinere Demonstrationen und Kundgebungen gegen den alle "Dämme der Vernunft, der Menschlichkeit, der Gesittung niederreißende Militarismus" (Vorwärts 26.4.1912) statt. In L e i p z i g protestiert die Bevölkerung am 3. Mai 1912 "Gegen den Rüstungswahn". Bekannt sind drei Demonstrationen, im Volkshaus und im Felsenkeller von Plagwitz sowie in den Drei Lilien von Reudnitz. Aus B e r l i n liegen Berichte vor: Von Volksversammlungen aus den Corona-Sälen, dem Saal von Bocker in der Weberstraße 17, dem Elysium in der Landsberger, Bergmanns Festsäle(n), der Urania (Wrangelstraße), der Brauerei Königstadt und den Sophien-Sälen, der Bock-Brauerei (Chausseestraße), den Borrussiasälen in der Ackerstraße und den Arminiushallen (Bremerstraße), über Franke in der Badstraße und dem Märkische(n) Hof in der Admiralstraße. Bekannte SPD-Redner unterstützen die Proteste. Somit stellt sich politische Lage erstaunlich differenziert dar.
Ob angesichts dessen der nationale Rausch zur Flottenrüstung so überhaupt bestand, ist fraglich. Eindeutig waren die Mehrheiten nie. Für die Kandidaten der Parteien, welche gegen die Militärvorlage waren, stimmten am 15. Juni 1893 bei den Reichstagswahlen rund 4 233 000 und für die Freunde der Militärvorlage nur 3 225 000 Wähler. Das im Reichstag dennoch eine Mehrheit für die Militärvorlage votierte, ist ein Hinweis auf das unvernünftige Wahlrecht (Bebel, Reichstag 27.11.1893). Zehn Jahre später ist die Lage prinzipiell nicht anders. Ein "homogenes Volk" mit der Neigung zur Flottenrüstung gab es - noch immer - nicht. Die Protestler beurteilen die internationale Lage, die Einkreisungs-, Welt- und Kolonialpolitik, anders als die Reichsleitung. Ihnen fühlt sich die Schuldenpolitik ungeheuerlich an. ("Ehe eine Vermehrung unserer Schuldenlast erfolgt, müssen neue Steuern geschaffen werden.") Eine Abteilung marschiert mit einem pazifistischen Motiv, wobei nicht alle Gegner der Flottenrüstung zwangsläufig antinational eingestellt sind. Die Bürger verlangten, wie es bei den Protesten in Vorfeld der Heeresdebatte im April 1912 deutlich zu hören war, endlich einmal mit der wahnwitzigen Rüstungspolitik haltzumachen. Und die Kritik kam nicht nur von links. Es war Rechtsanwalt Conrad Haußmann (1857-1921) aus Stuttgart, Abgeordneter der Fortschrittlichen Volkspartei für Balingen, Spaichingen, Tuttlingen, der im Reichstag das tiefe Unbehagen über die Rüstung aufgriff und daran erinnert:
Posadowsky wendet sich zunächst der Weltpolitik zu. Speziell dem wirtschaftlichen und handelspolitischen Gegensatz von Deutschland und England, gilt große Aufmerksamkeit. Es ist Gegenstand der Aufsätze "Englischer Nebel" (1916) und "Mr. Pecksniff" (1920). Standen Debatten über die Rolle der Gewerkschaften, zur Lohnpolitik oder Sozialgesetzgebung an, befragte er vorher die Politik der Downing Street. Arbeiter bestimmen in Großbritannien zuviel, lautet sein Urteil am 17. Januar 1896 im Reichstag. Im 18. und 19. Jahrhundert war Englands Weltstellung unbestritten. Dies änderte sich als der Kampf der Mittelmächte, vorangetrieben durch ihre Erfolge auf dem Gebiet der industriellen Revolution, an die Wurzeln ihrer See- und Landmacht griff. Vor allem Deutschland stieg allmählich durch die erfolgreiche Tätigkeit seines technisch und kaufmännisch gründlich vorgebildeten Personals und den Fleiß der Gewerbestände, zum Konkurrenten auf. Posadowsky ruft William Henry Perkin (1838-1907) in den Zeugenstand der Geschichte. Der Chemiker entdeckt 1856 bei der Suche nach dem Heilmittel Chinin, den Farbstoff Mauvin. Bald darauf folgen aus der Gruppe der Anilinfarbstoffe 1868 das Alizarin (Graebe / Liebermann), 1890 das Indigo (Heumann), die Pthaleine und 1901 die Indanthrenfarbstoffe. Damit entstanden die wissenschaftlichen und technologischen Grundlagen einer sich in bisher unbekannter Schnelligkeit und Umfang entwickelnden chemischen Industrie. (Vgl. Wußing 1982, 401f.) - Perkin bestätigt prompt "den Niedergang der Kohleteerindustrie und ihren Schrittweisen Übergang auf Deutschland in den Jahren 1870 - 1897" (vgl. "Mr. Pecksniff"). Ähnlich rasant schreitet die Elektroindustrie mit Siemens & Halske und der Allgemeinen Electrizitäts-Gesellschaft (AEG) und die optische Industrie voran.
England betrachtete den Welthandel bisher als sein Monopol. Trotzdem entwickelte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts der deutsche Handel über die Meere und Kontinente. Daraus, also aus dem englischen Missbehagen über die Konkurrenz des deutschen Kaufmanns, und der Empfindlichkeit Frankreichs, daß die alten deutschen Westgrenzen wiederhergestellt waren, "haben sich gewisse Stimmungen in beiden Ländern" gegen Deutschland "entwickelt". Noch in der Faschoda-Krise 1898 tragen Frankreich und England ihre Rivalitäten aus. Die erste Marokko-Krise 1905/06 und die antideutsche Stimmung bringen die alten Gegner wieder zusammen.
Zum "Konzern der entente cordiale" zwischen Frankreich und England, führt Posadowsky weiter aus, gehört auch unser "mächtiger russischer Nachbar". "Dieser selbe russische Nachbar, der ein halbes Jahrhundertlang unser offener oder wenigstens unser stiller Freund war, und der uns Deutschen in schweren Entscheidungen sicher den Rücken gedeckt hat. Meine Herren, wir können und gewiss im Interesse des allgemeinen Weltfriedens nur freuen, wenn sich andere Völker in ein breites Verhältnis zueinander getreten sind,
welches Schwergewicht diese Völker in kritischen Augenblicken uns gegenüber zur Geltung bringen können, ob wir gegenüber der veränderten Gruppierung der Mächte
Wir leben zwar in einer Zeit, wo bei allen Gelegenheiten und von den verschiedenen Seiten die stärksten Friedensbeteuerungen geäußert werden. Daß Deutschland ein friedliches Land ist, das beweist unsere ganze Geschichte; dafür brauchen wir keine Beteuerungen mehr abzugeben (Sehr richtig! rechts). Deutschland hat keine frivolen Angriffskriege gegen andere Staaten geführt; aber
Wenn wir jemals in Deutschland militärisch erlahmen sollten, so würde dieser Zustand sicher wieder eintreten. (Erneute Zustimmung). Wir würden gerade so behandelt werden, wie gewissen Mächte zweiten und dritten Ranges in der Vergangenheit behandelt worden sind und jetzt in der Gegenwart vor unseren Augen behandelt werden. (Sehr richtig! rechts).
Meine Herren, wir haben der Friedensversicherungen genug abgegeben. Wer unser Friedensliebe nicht glaubt, wer nicht glaubt, daß wir ein arbeitsames fleißiges Volk sind, das unter den schwierigen klimatischen Verhältnissen, bei dem verhältnismäßig armen Boden unseres Landes die innere Kultur fördern und ehrlich und treu seinen Berufspflichten nachgehen will, der will es nicht glauben." (Posa RT 25.5.1912, 1426 bis 1427) Ein Land mit 5 Milliarden Schulden, leitet Posadowsky zur Haushaltspolitik über, von denen nur 14 Prozent für werbende ausgegeben, befindet sich in einer ernsten Lage.
"Wie sind diese 5 Milliarden Schulden entstanden? Ich wlil es ihnen sofort sagen, die Schuld trifft viele maßgebenden Faktoren. Diese fünf Milliarden Schulden sind entstanden, weil man das Schuldwesen und besonders die Notwendigkeit neuer Steuern zu wenig vom finanztechnischen Standpunkt und zu sehr vom politischen Standpunkt betrachtet hat". (Posa 25.4.1912, 1427) Vom Standpunkt der sozialen Frage erleben die SPD-Abgeordneten die Haushaltslage wesentlich dramatischer.
Auf Lebensmittelzölle und Verbrauchsabgaben. 1872 zahlten die Bürger 616 Millionen indirekte Steuern, die man im letzten Etat auf 1561 Millionen frisierte und durch den neuen Schatzsekretär als Schatzgräber auf 1640 Millionen erhöht wurden. (Wurm RT Vorwärts 26.4.1912) Trotz Umbildung des Haushalts wird die Tilgung hingehalten. Natürlich, "Es besteht ja die Neigung," antwortet Hugo Haase (RT 22.04.1912, 1309 ff.), "die ganze Frage der Deckung hinauszuschieben, einen günstigen Zeitpunkt abzuwarten, in dem die Herren, die so bewilligungsfreudig sind, wiederum die Möglichkeit haben, mehr als gegenwärtig in diesem Reichstage
"Wir werden dafür sorgen, daß Sie nicht noch neue indirekte Steuern einführen." "Im Übrigen aber wird es unsere Aufgabe sein, überall, wo wir es können, machtvoll gegen alle Kriegsabenteuer, gegen alle Kriegstreibereien zu demonstrieren und für den Frieden einzutreten." Die deutsche Sozialdemokratie wirkt hier mit der Sozialdemokratie aller Länder zusammen. ".... an die Stelle einer Politik der Gewalt, der Unterdrückung, der Völkerverhetzung treten wird eine Politik der freiheitlichen und friedlichen Zivilisation und der Völkerverbrüderung!" Ja, und werden die vom Krieg profitieren ebenso für die Völkerverbrüderung eintreten? Von 52 1/2 Millionen Mark die der Reichstag im Juni 1913 für Waffenindustrie ausgibt, sind laut dem General der Infanterie und Staats- und Kriegsminister von Preußen Josias von Heeringen (1850-1926) 24 Millionen Mark Lohngelder (RT 13.6.1913, 5497).
Über
die drei geheimen Ursachen der Verschwörung Die Friedensgesellschaften verfassen Resolutionen, die von wunderschönen Worten, christlicher Gesinnung und gesunden Menschenverstand nur so triefen. Und doch tragen sie oft lapidaren Charakter und sind formelhaft, wie die Gebete für den Frieden in den Kirchen, abgefasst. All das nützt nichts, bedauert 1908 James MacDonald (1866-1937). Weder ihre Beredsamkeit noch ihre Ehrlichkeit überzeugen keinen einzigen Deutschen davon, dass die Entente cordiale mit Frankreich nicht gegen Deutschland gerichtet ist, der deutsche Generalstab gegen uns keine Spione schickt und die deutschen Luftschiffe nicht dazu bestimmt, Bomben auf den Buckingham Palace zu werfen. Wir "brauchen eine vollständige andere Art von Demonstrationen. Wir brauchen etwas was beiden Völkern die Überzeugung bringt, das organisierte politische Parteien und Strömungen auf den Posten sind und sich den Marine- und Kriegsministerien in London und Berlin entgegenstellen, ebenso wie jenen Zeitungen beider Länder, die bemüht sind Unruhe zu stiften." Wie den nationalen Argwohn überwinden?
ruft 1908 (1038) James MacDonald, Unterhausabgeordneter von Leicester und ab 1911 Vorsitzender der Parliamentary Labour Party, den Deutschen zu. - Posadowsky folgt der Einladung auf seine Weise. Zusammen mit Ministerialdirektor Doktor Theodor Lewald (1860-1947) bereist er 1912 das Vereinigte Königreich Großbritannien und Irland. Schon immer interessierte ihn dieses Land, die Menschen und die Industrie, der Handel. Aus seinen Aufsätzen und Reden spricht die Achtung über die Leistung der britischen Nation. Soweit, so gut. Doch seit dem "Neuen Kurs", dessen Kern die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages mit Russland war, stand die Frage, ob England in den Zweibund eintreten könnte. Dafür müsste, als Konsequenz aus der Kritik von James MacDonald, ein neues politisches Denken entstehen. Ist die deutsche Politik dazu willens und fähig? Wer von der Einkreisungs-Doktrin infiziert und dem verbreiteten Irrtum der Erzählung vom Handelsneid der Engländer unterliegt, wahrscheinlich nicht. Deutschland und England sind auf internationalen Terrain Konkurrenten. Ihre Fremd- und Selbstbilder verändern sich ungünstig. "England wird dargestellt", was Posadowsky missfällt, "als eine friedliebende Familie von Gemeinwesen auf der Oberfläche der zivilisierten Welt, während man Deutschland die Absicht zuschreibt, das ganze Gebilde freier Staaten im Westen des europäischen Kontinents zu vernichten und vor den Toren Englands einen herrschaftssüchtigen und drohenden Despotismus zu errichten." (Aufsatz "Mr. Pecksniff", 21) "Englischer Nebel", heißt sein Aufsatz von 1916, legt sich über die Geschichte. Gemeint sind damit verwerfliche und unwahre Streitschriften gegen Deutschland, die die Herstellung normaler zwischenstaatlicher Beziehungen erschweren. Das bekannte Werk von M. E. E. Williams "Deutsches Erzeugnis" und von Maurice Schwob "Die deutsche Gefahr" ("Le Danger Allemand") erzeugen "in England und Frankreich eine starke deutschfeindliche Abneigung" und war eine der Ursachen", welche "schließlich zu diesem Weltkriege geführt haben." (Englischer Nebel 1916, 13) Archibald Primros, 5. Earl of Rosebery (1847-1929), Mitglied der Liberal Party und ehemaliger englischer Außenminister, stieß warnend den Weckruf aus:
"Schließlich wurde im englischen Parlament ganz offen ausgesprochen," erhärtet Posadowsky seine Argumentation, "dass ein wirtschaftliches Bündnis zwischen England und seinen Besitzungen sowie zwischen Frankreich, Russland und Italien als die Befreiung von deutscher Herrschaft begrüßt werden würde, also ganz offen als Kriegsziel unser Vaterland, falls man es mit Waffen nicht niederringen könne, wirtschaftlich abzuschließen und handelspolitisch auszuhungern." In "Englischer Nebel" von 1920, zuerst als Aufsatz 1916 in den "Nationalliberalen Beiträgen" erschienen, systematisiert Posadowsky seine Erkenntnisse und konstruiert drei geheime Ursachen der großen englischen "Verschwörung gegen Deutschland": Erstens. Großbritannien stand mit Irland vor einem Bürgerkrieg, was für die englische Regierung eine unheilvolle Lage, die man glaubte, durch einen Krieg umgehen zu können. Zweitens bedrückte die besitzenden Klassen die Lasten des englischen Steuersystems. "Durch einen Krieg mit Deutschland, in dem man glaubte mit wendender Post die deutsche Flotte auf den Meeresgrund senden zu können, hoffte man, dieser Steuersorgen demnächst ledig zu werden." Drittens. Es war der handelspolitische Jagdneid, der "England das Gewerbe des Krieges einfädeln" und "die Kriegsstimmung schüren ließ". So war der Krieg, wovon Posadowsky fest überzeugt, der Regierung nicht unwillkommen. Das popularisiert er am 27. Juni 1918 in der Erklärung zur Kühlmann-Episode.
Deutschland nimmt ab 1860 einen schnellen industriellen Aufstieg, was seine handelspolitischen Interessen in neue Dimensionen treibt und die Welthandelsmacht Großbritannien auf den Plan ruft. Soweit reicht die einsicht. Aber wie soll es weitergehen? Wann und wie kann die Flottenrüstung zum Stillstand kommen? "Das deutsche Volk ist ein Volk," betont Posadowsky in der Rede vom 16. Februar 1912,
"das außerordentlich schnell wächst, ein Volk, das sehr fleißig ist und von einem großen Unternehmungsgeist beseelt ist. Wir müssen deshalb verlangen, daß das deutsche Volk auch in der Lage ist, Gebiete zu suchen und zu finden, wo es seine wirtschaftliche Tüchtigkeit und seinen Unternehmungsgeist auch außerhalb der engeren Grenzen des Vaterlandes betätigen kann. (Sehr richtig! rechts und bei den Nationalliberalen.) England beherrscht vier Fünftel der bewohnten Welt, und auch England verdankt seine ungeheure Macht der Tüchtigkeit seines Volkes und seinem Unternehmungsgeist." Hieran schliesst sich seine Forderung:
daß ein so vorwärtsstrebendes großes Volk, ein so fleißiges, ein so unternehmungslustiges Volk, wie das deutsche ist, die gleichen Rechte in der Welt hat, (sehr richtig! bei den Nationalliberalen) und daß wir uns in der Welt betätigen wollen,
Wenn wir auf dieser Grundlage mit England zu einer Verständigung kommen, dann mag der Augenblick gekommen sein, wo wir
wo wir die steigenden Summen, die wir für die Landesverteidigung aufwenden müssen, zu Zwecken der Kulturaufgaben unseres Volkes verwenden dürfen. (Lebhafter Beifall.)" (Posa RT 16.12.1912, 58) V i e l l e i c h t ? - Er verkennt, dass die deutsche Flottenrüstung den bestehenden Gegensatz zwischen England und Deutschland in einem Maße verschärft und die politische Stabilität Europas gefährdet. Gefangen in dieser Denkweise, prophezeit August Bebel, werden wir zu immer größeren Militär- und Flottenausgaben gelangen. Denn es ist doch völlig klar, dass der Gegner auf die weitere Bewaffnung so antwortet, dass jedem Schiff, dass die Deutschen bauen, selbstverständlich eine entsprechende Vermehrung der eigenen Flotte folgt. So fährt die Flottenrüstung unendlich dahin. (Vgl. Bebel RT 9.11.1911, 7729) "Wir wollen die vollkommene Aussöhnung mit Frankreich", artikuliert 1913 SPD ihr Vorhaben. "Wie wir schon auf dem Wege sind, jedwedes Zerwürfnis mit England zu vermeiden", sagt Georg Ledebour (1850-1947). (RT 12.6.1913, 5496) Unübersehbar besteht zwischen der Ankündigung vielleicht werden wir unsere Rüstung einschränken und dem Ziel der Aussöhnung mit Frankeich ein gravierender Unterschied, wenn nicht sogar ein Gegensatz zwischen der sozialdemokratischen Außenpolitik und den Ambitionen von Posadowsky.
Es war am späten Nachmittag des 30. Juni 1913. Der Präsident des Reichstags Johannes Kaempf (1842-1918) stellt zum Abschluß der 174. Sitzung mit Stolz fest, dass sie nahezu "unüberwindliche Schwierigkeiten" meisterte. Beendet waren damit die Beratung darüber, wie die Mehrausgaben für das Militär in Höhe von 898 Millionen Mark durch sogenannte Deckungsvorlagen, also dem Besitzsteuergesetz, der Wehrbetrag, die (Reichs)-Stempelabgabe auf [a] Gesellschaftsverträge und [b] Versicherungsverträge, die Zuckersteuer sowie ständig wachsende Einnahmen aus Zöllen und Steuern, finanziert werden können. Laut dem "Handbuch der Politik" von 1914 (107f.) wird die Summe von 898 Millionen aufgeteilt in 435 für 1913/14, im darauffolgenden Jahr in 285 und im dritten in 178 Millionen Mark. Es sind die Kosten zur Beschaffung von Kriegsmaterial, den Ausbau von Festungen und Luftflotte, der Errichtung von zwei neuen Kriegs- und Unteroffiziervorschulen sowie die Vergrößerung der Kadettenschulen. Unteroffiziere sollen höhere Dienstprämien erhalten. Die Verbesserung der Verpflegung des militärischen Personals bedingt höhere Ausgaben. Die sich weiter erhöhenden Militärausgaben begründet die Presse und Flottenproganda gegenüber der Öffentlichkeit mit den aktuellen Ereignissen und der Verschiebungen im militärischen Kräfteverhältnis auf dem Balkan, immer wiederkehrend in der Aussage verpackt:
Im Sinne der ewigen Wiederkehr der Einkreisungs-Doktrin, besteht, heißt es öffentlich, die Notwendigkeit gegen mehrere Feinde, die Grenzen zu schützen. Die Vossische aus Berlin räumt tags darauf ein, dass die Militärvorlage "an die Grenze der Leistungsfähigkeit der Nation" geht. Doch es bleibt nichts anderes, weil Deutschland "eingekeilt zwischen kriegsmächtigen Staaten". Es sind Opfer, für "die Wehr und Waffen". Epochemachend nannte sie das Abstimmungsverhalten. "Sämtliche Vorlagen sind mit Mehrheiten angenommen wie nie zuvor und in einer gehobenen Stimmung", nimmt Pester LLoyd aus Budapest die Vorgänge im deutschen Reichstag wahr. Es war die "größte Wehrvorlage aller Zeiten", feiert der Nationalliberale Reichstagsabgeordnete Johannes Junck (*1861) aus Leipzig die Entscheidung ab. Sein deutschkonservativer Kollege Graf Kuno von Westarp (*1864) lobt die Sozialdemokraten für die Gestaltung der Besitzsteuer. Aber was bedeutet das? Will die sozialdemokratische Reichstagsfraktion jetzt den Kampf gegen den Militarismus womöglich als Kostenfrage führen? Vollzieht sie in der Militärpolitik vielleicht eine tiefe- und folgenreiche Wende? Einst hieß es doch: "Diesem System keinen Mann und Groschen!"? Was wird daraus? Die sozialdemokratische Presse gibt heterogene Antworten. "Die Mehrheit des Reichstages hat gestern", protokolliert die Leipziger Volkszeitung, "eine "große nationale Aufgabe" zu Ende gebracht und dem Militarismus neue Hekatomben geopfert." Das Besitzsteuergesetz ordnet der "Vorwärts" vom 1. Juli 1913 als "Triumph der Sozialdemokratie" ein. Was war es nun:
Im wesentlichen ist dies davon abhängig, wie man den Kompromiss, die Ausgaben für Heer, Marine und Kolonialtruppen, mehr mittels direkter Steuern zur finanzieren, haushalts- und sozialpolitisch bewertet. Nach dem großen Erfolg der Sozialdemokraten bei den Reichstagswahlen 1912, konnten, wovon die Genossen fest überzeugt, die bürgerlichen Parteien den Militärmoloch nicht länger zuförderst mit indirekten Steuern füttern. Gemäß dieser Anschauungsweise, ist es ein Fortschritt, legt am 30. Juni, dem Tag der Entscheidung, Hugo Haase (1863-1919) vor dem Reichstag dar, wenn die Rüstungsausgaben mehr die Wohlhabenden und Reichen in Form von direkten Steuern schultern. Das nennt sich dann "Triumph der Sozialdemokratie":
Allerdings ändert er nichts daran, daß die Vergrößerung der Steuerlast, in welchen Proportionen zwischen den Klassen und Schichten immer, die Nachfrage und Konsumkraft schmälert, den Kreditmarkt schwächt und, dass man dem Militarismus zu Diensten. Und ob die Vermehrung der Staatseinnahmen mittels direkter Steuern wirklich die Reichen mehr als den Mittelstand belastet, ist keineswegs sicher.
Egal. Opfer müssen gebracht werden, fordert am 30. Juni Johannes Kaempf zum Abschluss der Verhandlungen des Reichstags, die "schwerer als je zuvor." Doch wer kann und wer will sie bringen, zumal die Steuerpolitik mit der Reichseinkommen-, Reichsvermögens- und Erbschaftssteuer einen sozialdemokratischen Weg eingeschlagen? Das Kapital und die Vermögenden waren noch einmal gewarnt, als die "Norddeutsche Allgemeine Zeitung" (Berlin) am 28. März die Wehrvorlage propandistisch vom Standpunkt der Regierung begleitete. Da raschelt und trampelte es schon an der badisch-schweizerischen Grenze. "Patrioten wollen sie sein, aber keine Geldopfer bringen." "Ja, die deutsche Geldflut hat bereits einen solchen Grad erreicht, daß sich die Mainzer Handelskammer vor kurzem veranlaßt sah, eine öffentliche Warnung bei ausländischen Instituten ergehen zu lassen." Auch die "Kölnische Zeitung" beschäftigt sich mit der deutschen Kapitalflucht. Die "Kreuz-Zeitung" warnt gar, Großkapitalisten könnten es für zweckmäßg halten, ihren Wohnsitz in die Schweiz zu verlegen. (Weckruf 1.7.1913) Was tut´s, angesichts der politischen Unsicherheiten? Das Besitzsteuergesetz bringt, sollte man, hieß es in diesem Revier der deutschen Nation, sein Geld besser in Sicherheit bringen. Der andere Teil opponiert gegen die neuen finanziellen Belastungen und Gefahren für die Sicherheit. Aus Köln und seinen Vororten kursieren im Monat Nachrichten über fünf Kundgebungen aus Anlaß außerordentlich gut besuchter Volksversammlungen. In Chemnitz protestieren am 8. April die Bürger "Gegen die Forderung des Militarismus". Weitere Protestversammlungen sind aus Nürnberg, Lübeck und Gießen bekannt. Thema war die Verschärfung der Kriegsgefahr und das Attentat auf den Kulturfortschritt. Am 28. Juni beginnt im Reichstag die dritte Beratung zum Gesetzesentwurf über die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres. Verstärkt um 4000 Offizier, 15 000 Unteroffiziere und 117 000 Gefreite und Gemeine sind jährlich 63 000 Rekruten einzustellen. Bei zweijähriger Dienstzeit sind 136 000 Mann mehr einzustellen. Das Heer erhöht sich auf 661 478, mit der Marine sogar auf 856 783 Personen. Dazu müssen jedes Jahr zigtausende m e h r - überwiegend Arbeiter, Handwerker, Kleinbauern - dem Militärmoloch (SPD) das Opfer des Wehrdienstes bringen. Der Reichstag beschließt in der zweiten Lesung am 28. Juni die S t e u e r f r e i h e i t d e r F ü r s t e n aufzuheben, was bald mit 195 gegen 169 Stimmen wieder korrigiert wird. Über das ganze Gesetz befindet der Reichstag am 30. Juni 1913 mit 170 Ja und 194 Nein-Stimmen, sowie 8 Enthaltungen und einer ungültigen Stimme. - Posadowsky stimmt nicht zu und griff nicht in die Debatte ein. In der großen Debatte um die Deckungsvorlagen am 30. Juni bringt der deutschkonservativen Reichstagsabgeordnete Kuno von Westarp (*1864) den
ein. Das Objekt der Steuer ist das Vermögen und in bestimmten Fällen das Einkommen. - Die Abstimmung darüber erfolgte durch Erheben von den Plätzen. == Ich sehe, das ist die Mehrheit. == So passiert das Gesetz nach dritter Lesung den Reichstag. Ursprünglich sah der Wehrbeitrag eine Besteuerung der Vermögen ab 10 000 Mark vor. Der Reichstag justierte die untere Vermögensgrenze auf 5 000 Mark für die Besteuerung ein und erhöhte die Steuer selbst auf 1,5 Prozent, während die Regierung vorher die Absicht hegte, nur bis zu 1,25 Prozent gehen zu wollen. Bei der Progression des Wehrbeitrags hört der Begriff "Steuer" auf, grätscht die "Kreuz-Zeitung" dazwischen, da beginnt die "Vermögenskonfikation". (Weckruf 1.7.1913) Viel williger die sozialdemokratische "Volksstimme" aus Magdeburg, die das Ergebnis präsentiert: "Jetzt ist es erledigt. Das deutsche Volk hat die Opfer auf sich genommen." Aus einer anderen Region, wenn auch nur etwa 140 Kilometer entfernt, aus Leipzig, gibt es von den Sozialisten keine Zustimmung. Ihr Urteil lautet: "Durch die Zustimmung zu dem Wehrbeitrag hat die [SPD] Fraktion ohne den geringsten Zwang die Rüstungszwecke bewilligt, was wir für einen schweren Fehler halten." (LVZ 1.7.1913) Die "Norddeutsche"
lobt, dass der Reichstag "eine feste Stütze in der Opferwilligkeit
des Volkes" gefunden. Ja, so kann es gut weitergehen, worum die europäischen
Nachbarn die Deutschen wiedermal beneiden. Die Pariser Presse erblickt
in der Annahme der Wehrvorlagen ein überaus bedeutungsvolles Ereignis
und bewundert den patriotischen Stolz der Abgeordneten des Reichstags
und wie sie sich zum Dolmetscher der nationalen Gefühle machen. Das
österreichische "Fremdenblatt" bezeichnet die Erledigung
der Wehr- und Deckungsvorlagen "als eine gewaltige Leistung".
(Nach VZ 1.7.1913) Die Sozialdemokraten lehnen die Zuckersteuer ab, weil das Versprechen, sie zu ermäßigen, dem Volke vorenthalten wurde. Ebenso verfahren sie, um den Mittelstand nicht zu belasten, mit den zwei Reichsstempelgesetzen. Wohingegen sie für B e s i t z s t e u e r g e s e t z votieren, das mit 280 gegen 63 Stimmen - bei 29 Enthaltungen - beschlossen wurde. Dagegen war die Rechte und ein Teil des Zentrums enthielt sich. Von der Einkommensbesteuerung erwartet drei Tage nach der Entscheidung die Tageszeitung für Ungarn und Osteuropa Pester LLoyd etwa 80 Millionen, während die Vermögensbesteuerung 900 Millionen Mark einbringen soll. Der preußische Kriegsminister, war zu hören, zeigte sich mit dem Ergebnis zufrieden. Von den Mitgliedern der SPD-Fraktion lässt sich das so nicht feststellen. Zum Wehrbeitrag und Besitzsteuergesetz kam es "zu sehr ausgedehnten und scharfen Debatten" (LVZ 1.7.1913). "Wir haben den Nachweis erbracht," legt am 30. Juni Hugo Haase im Auftrag der SPD-Fraktion im Reichstag dezidiert dar, "dass dies nicht der Weg ist, unser Land vor der Kriegsgefahr zu schützen und den Frieden zwischen den Kulturvölkern zu sichern. (Sehr wahr! bei den Soz.) Nachdrücklich haben wir betont und wiederholen es in dieser Stunde: die fortgesetzten Rüstungstreibereien steigern das Misstrauen zwischen den Völkern, stören die internationalen Beziehungen und beschwören schließlich trotz aller Friedensversicherungen die Gefahr eines Weltkrieges herauf, entgegen den Interessen und Wünschen des werktätigen Volkes aller Länder." Das Aufhübschen der einst fundierten SPD-Kritik am Militarismus, wirkt nach der Zustimmung zum Wehrbeitrag und Besitzsteuergesetz unglaubhaft, womit dann möglicherweise wiederum verkannt, dass es der Versuch war, den Standpunkt der Partei zu bewahren. Doch die Sozialdemokraten wollen diesen Weg, und zwar gemeinsam, was historisch bemerkenswert, mit dem Zentrum und den Linksliberalen gehen. Waren sie in etwa Sorge, dass das Begehren der Besitzlosen gegen die weitere Erhöhung der indirekten Steuern missachtet würde? Anders gefragt: Bestand denn überhaupt die Möglichkeit die Vorlage zum scheitern bringen? "Beim Besitzsteuergesetz gewiss", antwortet die Leipziger Volkszeitung, das Sprachrohr des linken Flügels der SPD. "Dadurch, daß die Konservativen dagegen stimmten, wäre, wenn auch die Sozialdemokratie gegen das Gesetz gestimmt hätte, die Besitzsteuer gefallen." (1.7.1913) Eigentlich nicht. Auch die Konservativen waren gegen das Besitzsteuergesetz, was die "Vossische" "prompt als Isolierung der Konservativen interpretiert. Einige von ihnen - zum Beispiel Regierungsrat Hermann Kreth, Dr. Goerg Oertel, Chefredakteur der "Deutschen Tageszeitung", und Kuno Graf von Westarp - erhoben sich bei der Abstimmung nicht vom Platz. Ebenso blieben sie bei der Nachbetrachtung des Reichskanzlers sitzen, als er davon sprach, "daß ein großes Werk getan". (VZ-MA 1.7.1913) Und doch hätte es die Sozialdemokraten gemeinsam mit ihnen verhindern können. "Die Folge wäre nicht etwa die Auflösung des Reichstags, sondern lediglich die Verschiebung dieses Gesetzes in den Herbst. Jedenfalls glaubte die Fraktion die Verantwortung für diese Konsequenzen ablehnen zu müssen." (LVZ 1.7.1913) Zwar werden den Völkern neue militärische Ausgaben auferlegt, argumentiert Hugo Haase in der Reichstagsdebatte, doch bilden das Gesetz über den einmaligen Wehrbeitrag und die Besitzsteuer den Anfang von der SPD geforderten Reichseinkommen-, Reichsvermögen- und Erbschaftssteuer. Daneben wird der Plan durchkreuzt den Landtagen der Einzelstaaten die Möglichkeit zu geben, dass die Kosten dieser Rüstungssteigerung wiederum den minderbemittelten Schichten aufgebürdet wird. - Was ändert es daran, dass die wachsenden Militärausgaben nun mit dem Segen der SPD durch zusätzliche Steuern (mit-)finanziert werden? Es wird weiter gerüstet, egal wofür und gegen wen. Lautet die Devise jetzt: Hauptsache das Volk bezahlt es nicht? Ende Juni 1913 ging der alte Grundsatz von Wilhelm Liebknecht (1826-1900) von 1896 über Bord, der lautete:
Was die sozialdemokratische Parteipresse in diesen Tagen öfter als Erfolg präsentiert, schält sich bald als Kurswechsel heraus, markiert einen Wendepunkt im Kampf gegen den Militarismus und ist ein Resultat des veränderten politischen Kräfteverhältnisses in der SPD-Fraktion. Fritz Klein erkennt darin in "Deutschland 1897-1917" (1960, 248) den wachsenden Einfluss der Zentristen und Revisionisten. August Bebel stirbt am 13. August 1913. Der Aufstieg für Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Gustav Noske ist frei.
Mars regiert die Stunde (Posadowsky) zurück Im August 1914 löste die Eroberung von Lüttich in Naumburg an der Saale große Begeisterung aus. Ein Jahr später erahnt man davon nichts mehr. Das Leben verschlechtert sich. Not und Hunger stehen jetzt vor der Haustür. Lebensmittel werden infolge der "Absperrungen" der Alliierten knapp. Um Wucherpreise zu verhindern, legt man zum Beispiel für Schlachtschweine, Höchstpreise fest. Die Kriegsmaschine muß geschmiert und in Gang gehalten werden, psychologisch, materiell und finanziell. Ab Mitte November 1915 können die Bürger bei der 2. Ersatzabteilung des Feldartillerie-Regiments Nr. 55 in Naumburg Weihnachts-Liebesgaben abgeben. Vor hier befördert sie die Armee zu den im Feld stehenden Truppen.
Erst allmählich, beschreibt Posadowsky 1915 in "Mars regiert die Stunde" die Lage, drang die "Erkenntnis von der entscheidenden Bedeutung dieses Krieges für das Dasein unseres Volkes und für das Leben eines jeden Deutschen" "in das Bewusstsein" der Bürger. Deshalb wird es Zeit, dass alle Bürger den historischen Charakter des Krieges voll erkennen, weil er dann besser die täglichen Beschwernisse auf sich nehmen und Opfer für das Vaterland erbringen kann. In diesem Sinne und Trachten will "Mars regiert die Stunde" die Massen erziehen und wendet den Blick in die deutsche Geschichte. 1870/71 war gegen den heutigen Krieg nur ein Zwischenspiel. Jeder möge sich vorstellen was passiert, wenn wir nicht den Sieg erringen. "Sieg oder politische und wirtschaftlicher Untergang. Das sollten sich alle klar machen," reicht Posadowsky am 4. September 1918 in Stimmungen nach, "die drinnen im Lande über all die großen und kleinen Unbequemlichkeiten des täglichen Lebens wehklagen und mit ihrer charakterschwachen Haltung einen Einfluss üben, der sich wellenartig verbreitet." "Je mehr dieser Riesenkampf zur Entscheidung drängt, desto gewaltiger sind naturgemäß die Anstrengungen, die zu fordern sind, und je mehr wachsen die Opfer, die jeder einzelne zu bringen hat." Folglich muss der Staat hohe Anforderungen an jeden Bürger stellen.
Es gibt keinen Zweifel," erhebt Posadowsky am 4. September 1918 den Zeigefinger, dass wir in diesem Krieg "um das Dasein von Reich und Staat, um unsere Freiheit, um unseren Besitz und damit um alles kämpfen, was das Dasein wert ist. Es gibt für uns nur zwei Möglichkeiten - Sieg oder politischer und wirtschaftlicher Untergang." Man muss, macht er den propagandistischen Zweck deutlich, es "gedankenlose Undankbarkeit und verächtliche Selbstzucht" nennen, wenn einige über die "kleinen Unbequemlichkeiten des täglichen Lebens" klagen. (Posa, Stimmungen 35) "Die Starken und Schwachen, die Hoffnungslosen und die Besorgten, die Wohlhabenden und Armen, sie fahren alle in einem Boot und müssen deshalb alle ihre letzte Kraft anstrengen." "Wer wäre lau genug, um einen Augenblick zögern in Erfüllung dessen, was das Land von ihm erwartet ...." - Wirklich? Da kommen Zweifel auf. Das Reich finanziert das schnell wachsende Defizit zunächst durch direkte Verschuldung bei seinen Bürgern, durch Ausgabe von Kriegsanleihen, später jedoch immer stärker durch eine indirekte Verschuldung. Es war im März 1916 als die Bürgerlichen im Reichstag erklärten, dass die arbeitende Bevölkerung sich unter allen Umständen darauf einrichten muß, vier Monate im Jahr allein für die Zinsen der Kriegsanleihen zu schaffen und um die Kosten für die Invalidenversorgung und Hinterbliebenen der Gefallenen aufzubringen. (Haase RT 24.03.1916, 843) Posadowsky wirbt am 28. September 1917 in Berlin auf einer Kundgebung der deutschen Mittelstände für die 7. Kriegsanleihe.
Kundgebung
der deutschen Mittelstände für die 7. Kriegsanleihe.
Wer soll einst die Zinsen für die Kriegsanleihen bezahlen? Die müssen durch Steuern aufgebracht werden, entscheidet Matthias Erzberger, 1819/20 Reichsminister der Finanzen. Es gab noch ein anderes Problem, der Luxuskonsum und seine negative Wirkung auf den Handel und die Lebenslage. Hierüber referiert der "rote Millionär", wie Walter Rathenau genannt wurde, am 18. Dezember 1916 vor der "Deutschen Gesellschaft 1914". Die Erkenntnis ist nicht sensationell neu, die Luxusproduktion schwächt die Kriegswirtschaft, da für sie eine erhebliche Arbeits- und Maschinenkraft aufgewendet werden muss. Warum thematisiert dann Mars regiert die Stunde nicht den Luxuskonsum in der Oberschicht? Vielleicht weil er der verbreiteten Vorstellung folgt: "Luxus bringt Geld unter die Leute"? Mittels entsprechender Steuern und -zölle könnte der Staat dem Luxuskonsum vorbauen, um die außenwirtschaftliche Erträge nicht weiter zu schmälern. Am 13. Juni 1916 führte die Reichsregierung einen Warenumsatzstempel als Steuer auf Warenlieferungen ein.
Impressionen zurück Posadowsky ist Hospitant bei der Reichspartei, die einst unter der Führung des Großindustriellen Freiherrn von Stumm stand, teilt am 16. September 1915 das Fremden-Blatt aus Wien. Im Januar 1916 bildet sich im Reichstag als Zusammenschluss von zwölf Mitgliedern der Freikonservativen, fünf aus der Wirtschaftlichen Vereinigung, zwei aus der Deutschen Reformpartei, fünf Deutschhannoveranern, zwei bayerischen Bauernbündlern und dem Grafen Posadowsky die "Deutsche Fraktion". Seit August 1915 führt er das Landratsamt in Elbing. Er übernahm diese Aufgabe, um seinen Sohn, den Eintritt in den Heeresdienst zu ermöglichen. Zum 1. April 1917 bat er den Kaiser um die Entbindung von dieser Funktion. Wilhelm II. sprach ihn für vorbildliche Pflichterfüllung seinen Dank aus, melden am 8. April 1917 die Nachrichtenagenturen. In der Nationalversammlung, informiert 1919 "Der Welthandel", sitzt er in den Reihen der Deutschnationalen, teilt mit Clemens von Delbrück deren geistige Leitung in den politischen staatsrechtlichen Fragen.
Das unangenehme Wort Bedürftigkeit (Molkenbuhr 1917) zurück Bereits gegen Ende des Krieges finden viele Lohnarbeiter und Angestellte in den Unternehmen und Betrieben, weil die Zulieferer nicht zuverlässig arbeiten und es an Rohprodukten mangelt, keine Beschäftigung. Graf von Posadowsky befürwortet die zuverlässige Unterstützung von Arbeitslosen durch den Staat. Wenn jedoch dadurch die Eigenverantwortung der Betroffenen für die Schaffung des Lebensunterhalts unterminiert wird, erachtet er es als zweckmäßig, diese zu reorganisieren und gibt zu bedenken:
Die politischen Gegner entdeckten bei ihm Vorbehalte gegenüber den Arbeitslosen. SPD-Abgeordneter Hermann Molkenbuhr hält ihm am 21. März 1917 im Reichstag vor, dass nicht jeder Bürger jede Arbeit übernehmen und ausführen kann, und gibt zu bedenken: " .... ist ja immerhin bedauerlich, daß in dem Gesetz über die Familienunterstützung immer noch das unangenehme Wort der Bedürftigkeit steht. Man spart dadurch nicht viel, daß man den Nichtbedürftigen nichts gibt, aber dadurch, daß das Wort "bedürftig" darin ist, wird manchmal wirklich Bedürftigen das Notwendige entzogen. Was ist namentlich auf diesen Gebieten nicht alles geleistet worden: Frauen sollen arbeiten! Da wird gesagt: wenn sie sonst gearbeitet haben, sollen sie auch jetzt wieder zur Arbeit herangezogen werden. Ich habe einige solcher Fälle bereits zum Gegenstände der Beschwerde beim preußischen Minister des (o) Innern gemacht.
hatte speziell im Elbinger Kreise da einige nette Sachen angerichtet. Eine Frau zum Beispiel bekam deshalb keine Familienunterstützung, weil sie nicht arbeiten wollte. Die Frau war Mutter von fünf Kindern, wovon das kleinste anderthalb Jahre alt ist, und gleichzeitig war sie schwanger im achten Monat. Da verlangt nun der Herr, die Frau sollte Landarbeit verrichten. Ich sage, wenn sie gewissenlos wäre, die fünf Kinder allein zu lassen, so hätte man alle Ursache gehabt, anzuordnen, sie solle zuhause bleiben; (sehr richtig! links) aber so von den Kindern wegzubleiben und sich der Gefahr auszusetzen, schwer zu erkranken, ich meine, das ist etwas, was man kaum gut heißen kann. Der preußische Minister des Innern hat denn auch eingegriffen, daß der Frau die Unterstützung nicht entzogen worden ist. .... Es kann verschiedene Ursachen haben warum eine Frau nicht arbeiten kann: ihr körperlicher Zustand, es kann auch die gebotene Arbeit nicht für sie nicht passen." "Man kann nicht sagen, dieser oder jener kann diese Arbeit machen, wie seinerzeit Herr v. Posadowsky bestimmte. .... Solche Verfügungen sollte man unterlassen und sich darauf verlassen, daß der größte Teil der Arbeiter arbeitswillig ist und gerne Geld verdient." (Molkenbuhr RT 21.3.1917, 2593 f.) Vielleicht unterlief Posadowsky ein Missgeschick? Vielleicht eine Fehlhandlung oder Unachtsamkeit? Oder war es eine Entscheidung auf Basis unvollständiger Informationen? Es soll sich hier kein falscher Eindruck festsetzen: Tricksereien und Repressionen gegen Arbeitslose sind nicht die Sache des Grafen von Posadowsky. Er engagiert sich mit aller Konsequenz für die Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem. Nach 1921 arbeitet er für eine gerechte und der Volkswirtschaft dienlichen Geldpolitik. Sein Ziel ist die Verbesserung der ökonomischen und sozialen Lage des Mittelstandes, die Vermeidung von Arbeitslosigkeit, das Recht auf Wohnung für die Unterklasse, auch bei Arbeitslosigkeit. Das sind die ökonomisch-moralischen Invarianten seiner Gesellschaftspolitik. Außerdem rückt er nicht von einer "politische(n) Anstandspflicht der besitzenden Klassen" (RT 16.2.1912, 82) ab, was von ihren Mitgliedern beispielsweise eine angemessene Steuerleistung verlangt. Sozialpolitik im Krieg? Reichstagsabgeordneter Kuno Graf von Westarp (1864-1945) berichtet 1916, dass der Haushaltsausschuss des Deutschen Reichstages (RT 18.5.1916, 1114) nicht umhin kam festzustellen, dass Kinder- und Frauenarbeit in der Rüstungsindustrie notwendig ist. In Friedenszeiten waren in den 193 Werken der Eisen- und Stahlindustrie etwa 372 000 Personen tätig. Jetzt sind es nur noch 169 000 (= 44 Prozent), wovon ein Achtel der Belegschaft Frauen, ein Zehntel Jugendliche (oftmals eigentlich Kinder) und ein Neuntel Ausländer sind. Dann waren da noch die Mädchen, die 1916 Arbeiter während des Munitionsarbeiterstreiks mit Flugblättern zum Streik aufforderten (vgl. RT 31.10.1916, 1976).
Friedensresolution 1917 zurück Im Kampf um ein Mandat der Nationalversammlung eröffnet Graf Posadowsky am 15. Januar 1919 in der Reichskrone den Naumburgern:
Damit war klar, DER gehört zur nationalen Opposition. Dem, labelt der konservative Wähler, können wir vertrauen, der will den Siegfrieden. Und es verlor sich etwas ihre Furcht vor dem billigen und faulen Frieden. Die militärische Lage war kritisch. Deutschland begann Ende Januar 1917 den uneingeschränkten U-Boot-Krieg. Der Gegner, andere können eben auch denken, führt das Geleitzugverfahren ein. Reichskanzler Theobald Bethmann Hollweg stand dem U-Boot-Krieg skeptisch gegenüber, weil er nicht den erhofften Erfolg zeitigte. Die USA treten am 6. April 1917 in den Krieg gegen Deutschland ein. Am 8. Januar 1918 erfolgt die Veröffentlichung des 14-Punkte-Programms von US-Präsident Wilson. Der verkündete "Kreuzzug für die Demokratie" destabilisierte das europäische Staatensystem weiter. Um das Interesse Deutschlands an einem "Frieden ohne Annexionen" zu signalisieren, bringt am 17. Juli 1917 Matthias Erzberger (Zentrum), nach Absprache mit der Regierung und der OHL (Oberste Heeresleitung), getragen von Sozialdemokraten, Zentrum und Fortschrittlern, in den Deutschen Reichstag die Friedensresolution ein. Einen ersten Entwurf akzeptierte Bethmann Hollweg bereits am 10. Juli. Verkoppelt mit der Zusage, dass in Preußen gültige Dreiklassenwahlrechts durch das gleiche Wahlrecht zu ersetzen, fand er die Zustimmung des Kaisers. Zwei Tage später erfährt die Öffentlichkeit davon (Fritz Fischer 339). Die Reaktion darauf ist heftig. Ein Großteil der Alldeutschen polemisieren gegen ihn. Angeblich steht er, so hiess es, unter "jüdischen Einfluß". Der alldeutsche Chemieprofessor Hans von Liebig in Gießen bezeichnet ihn als "Kanzler des Judentums" (Bernd 2002, 75). Konservative, antidemokratische und rechtsradikale Kreise antworten auf die Friedensresolution Anfang September 1917 mit der Gründung der Vaterlandspartei (DVLP). Die nationale Opposition erkennt darin, weil sie nicht den Willen der Mehrheit des Volkes zum Ausdruck bringt, ein Zeichen des Verrats. Sie fragt: Wer möchte denn keinen Frieden? - und untermauert dies mit: "Nervenschwache Friedenskundgebungen verzögern aber nur den Frieden. Unsere auf die Vernichtung Deutschlands bedachten Feinde erblicken in ihnen nur den Zusammenbruch deutscher Kraft." (Vorwärts 10.09.1917) Die Resolution wurde mit 216 Stimmen von SPD, Zentrum und Fortschrittlicher Volkspartei, gegen 126 Stimmen der Nationalliberalen, der Konservativen und USPD angenommen. "Wer eine solche Friedensresolution fasst," lässt Graf von Posadowsky verlauten, "weckt den Verdacht, dass er die Hoffnung auf den Sieg aufgegeben hat, und erschüttert damit auch die Siegeszuversicht des Heeres." Das sagt er nicht so dahin. Bereits 1915 auferlegt er in Was regiert die Stunde, dem Bürger die Pflicht zu prüfen, was er für die Heimat in dieser Stunde tun kann. Georg Schiele aus Naumburg, dessen politische Schlussfolgerungen zum Kriegsverlauf alldeutschen und völkischen Ursprungs sind, schliesst sich der Friedensresolution ebenfalls nicht an. Sein Größeres Deutschland sucht nicht Maß, Zurückhaltung, Vorsicht und Achtung gegenüber anderen Nationen, sondern, speziell im deutschen Außenhandel, mehr "Bausicherheit". Dieses Deutschland war, heisst es in Waffensieg und Wirtschaftskrieg (1918), ist "zu wenig auf Macht, auf Eigentum, auf Respekt gegründet."
Reproducator post bellum zurück Alte Verwaltungsakten, erinnert sich Posadowsky, waren häufig mit der Anmerkung Reproducator post bellum (Nach dem Krieg wieder vorzulegen) versehen. Offenbar hielt man es für richtig, bestimmte Aufgaben zurückzustellen. Heute verfährt Deutschland anders: "Wir halten es für richtiger, inmitten des Weltkriegs auf die Werte des Friedens möglichst zu fördern, die Staatsmaschine in all ihrem feinen Räderwerk im gewöhnlichen Gange zu halten und damit auch die dauernde Widerstandskraft gegenüber den Frieden zu sichern." Wie soll der Krieg für uns enden?, fragt Posadowsky 1915 in Post bellum. Im Einzelnen ist das nicht klar und deshalb jetzt jedenfalls nicht zu erörtern. Vieles wird davon abhängen, womit er Recht behalten wird, wie die militärische Lage dann aussieht. Vor allem wird sich "eine größere Friedenssicherheit geltend machen". Die politischen Parteien, exklusive Kreise und das Volk werden ganz unterschiedliche Wege wählen. Post bellum löst die Ganzheit aber nicht auf. Natürlich hängt die Nachkriegswelt von einer großen Zahl von Einzelfragen ab. Die künftige Lebenshaltung weiter deutscher Volkskreise und Entwicklung des Wirtschaftslebens, so nimmt er an, trägt eine "unseren finanziellen Aufwand ausgleichende Kriegsentschädigung". Diese Erwartungen erfüllen sich nicht. Es kommt anders. Die deutsche Regierung hat sich im November 1918 bereit erklärt, die unseren Feinden entstandenen Kriegsschäden zu vergüten. Posadowsky sieht die Kriegsschuld bei Russland, England und Frankreich. Folglich betrachtet er es als ungerecht, dass die deutsche Regierung einen solchen Vorschlag unterbreitet. Er belastet das Land stark. Und er wird von den Feinden Deutschlands als Schuldbeweis missbraucht. Vor den Deutschen liegt, sagt er 1915 in Post bellum (68ff.), mit den notwendigen Steuererhöhungen und Maßnahmen zur Gesundung der Finanzen eine der "sozial schwersten Aufgaben". Im Außenhandel wird - hoffentlich - die Meistbegünstigungsregel unserer Einfuhr in die Zollgebiete der ehemaligen Gegner herrschen. Angesichts der Macht der anderen Industriestaaten muss die "Forderung nach Landerwerb" erhoben werden. Was wird aus den fremdsprachigen Bewohnern in den deutschen Gebieten, fragt er? Soll man sie ausweisen oder in das Deutsche Reich eingliedern? Glaubt man vielleicht die völlige Entnationalisierung der fremden Landesteile im Interesse des Deutschtums mit zuverlässigen Altdeutschen durchführen zu können?
Kriegswirtschaft zurück Aus den Jahren 1915/16 sind von Posadowsky öffentliche Äußerungen bekannt, die den Eindruck erwecken, als ob ihm die Finanzierung des Krieges auf Kredit und die Abschaffung der Golddeckung der Mark keine besonderen Sorgen bereiten. Die Zeit "scheint mir noch nicht reif zu sein," lässt er am 5. August 1915 über die Kriegsfolgen verlauten, dies zu beurteilen. "Erst wenn die Abrechnung des Krieges erfolgt sein wird, und es sich darum handelt, wie die Kriegslasten zu decken sind, wird sich das sachgemäß beantworten lassen. Jetzt ist noch gar nicht zu übersehen, welche wirtschaftlichen und finanziellen Verschiebungen der Krieg mit sich bringt." Ach ja, wirklich? Wir glauben ihm das nicht. Warum? Als Reichsschatzsekretär konnte er sein Wissen zur währungs-, finanz- und Geldpolitik ständig erweitern. Und so wie er arbeitete (nämlich vorbildlich!) und veranlagt war, tat er das auch. So zum Beispiel am 16. Februar 1895 als im Reichstag die Vorbereitung einer internationalen Konferenz zu Währungsfragen auf der Tagesordnung stand, und er mit seinen Fachkenntnissen zum internationalen Handel überzeugte. Ihn bereitet der sinkende Welt-Silberpreise mit seinen Auswirkungen auf das Erwerbsleben in Deutschland Sorgen. Im heimischen Bergbau scheinen viele Arbeitsplätze gefährdet. Zwar ist der deutsche Export in die Silberländer minimal, trotzdem leidet darunter die Ausfuhr nach England. Damals kam bereits in der Öffentlichkeit Kritik an der deutschen Goldmarkdeckung auf. Man vermutete, dass sie nur auf dem Papier steht. Im Kriegsfall, so prognostizieren einige Ökonomen, muss sie aufgegeben und die Rettung im Papiergeld gesucht werden. Und jetzt weiss er nichts mehr von diesen Debatten um die Gesetze der Geld- und Währungspolitik? Seit der Reichsbank am 4. August 1914 per Gesetz die Verpflichtung aufgehoben, Banknoten und Münzen in Gold umzutauschen, war gut zu erkennen, dass durch die schrankenlose Ausweitung des Geldumlaufs, erhebliche inflationäre Gefahren auf das deutsche Geldsystem zukommen. Die Einführung der Darlehnskassenscheine destabilisierte das System weiter. Während des Krieges organisiert Walther Rathenau (1867-1922) die deutsche Kriegsrohstoffversorgung und regt die Gründung der Kriegsrohstoffabteilung (K.R.A.) an. Am 18. Dezember 1916 hält er vor der "Deutschen Gesellschaft 1914" einen Vortrag über die Probleme der Friedenswirtschaft, indem die zu erwartenden wirtschaftlichen und finanziellen Kriegsverluste sowie geldpolitischen Gefahren analysiert werden: (a) Der Krieg zerstört gewaltige nationale Werte. Zugleich schreitet die Abnutzung der Werkzeuge und Maschinen voran. (b) Schmerzliche Opfer an Menschenleben belasten die Wirtschaft. An die Stelle arbeitender Hände und Köpfe treten tausende Kriegsbeschädigte und Hinterbliebene. (c) Es ist, bewerten wir die Verluste, referiert Walter Rathenau, wohl keine Überschätzung, dass es sich dabei um den fünften Teil des Nationalvermögens handelt. Nach etwa vier bis fünf Jahren wird Deutschland auf den Stand zurückgeworfen, den es zu Beginn des Jahrhunderts unter den führenden Industriestaaten einnahm. (d) Zudem erwächst dem Land aus den ge- und zerstörten Aushandelsbeziehungen ein großer Schaden. (e) Aus der Spaltung des Landes in Gläubiger und Schuldner folgt eine gewaltige Umschichtung der Vermögen. (Rathenau 18.12.1916, 819 bis 822) Die Kriegswirtschaft desavouiert nicht nur die Geldwertstabilität. Betroffen ist die gesamte Konsum- und Produktionssphäre. Im Krieg werden weniger Konsum- und Investitionsgüter, aber dafür mehr Rüstungsgüter produziert, die der Staat finanziert. Bedeutende Teile der Bevölkerung erzielen im Netzwerk der Rüstungsindustrie im Vergleich zur Vorkriegszeit bessere Löhne. Dadurch entsteht eine höhere Nachfrage, was noch dadurch verstärkt, daß durch die Verlagerung der Ressourcen in die Rüstungsproduktion weniger Konsumgüter produziert werden, was zu Preissteigerungen führt.
Steuerpolitik mit Kokaineinspritzung? zurück Aus Anlass der ersten Beratung der Entwürfe von Gesetzen, betreffend der Feststellung des Reichshaushaltsplans und Haushalts der Schutzgebiete für das Rechnungsjahr 1918, steigt am 1. März 1918 der Reichstag in eine finanzpolitische Grundsatzdebatte ein. Dem Abgeordneten Posadowsky gefällt nicht, dass scherzhafte Äußerungen zum Zirkus Busch, eine so ungeteilte Aufmerksamkeit finden, während, die "Gestaltung der Finanzen des Deutschen Reiches" nicht die nötige Beachtung finden. Ein neuer Ernst zieht ein. "Ich entsinne mich," trägt er (RT 1.3.1918, 4279) warnend vor, "wie ich die Verwaltung des Reichsschatzamtes führte und unsere Schulden auf 1,75 Milliarden [Reichsmark] gestiegen waren, dass mit das entsetzlich hoch vorkam." Mit Unterstützung des ausgezeichneten Mitgliedes des Zentrums, des Abgeordneten Dr. Lieber, kam ein Gesetz zustande, dass die Verschuldung des Reiches für ertraglose Zwecke verhindern sollte. Als er aus dem Amte schied und verstorben [ 31.03.1902] war, "hob man dieses Gesetz wieder auf, indem man den bequemeren Weg vorzog, weitere Schulden zu machen, anstatt den Steuerkampf aufzunehmen. Jetzt sind wir schließlich bis auf 124 Milliarden gekommen." Wie kann man, fragt er, die nötigen finanziellen Mittel für die Zukunft Deutschlands aufbringen? Kann die Schuldenlast, durch Einzug einer erheblichen Quote des Vermögens von sämtlichen Steuerzahlern reduziert werden? Die es wirklich zahlen können, bringt Posa vor,
damit sie "nicht allzu sehr schreien". Ist die Therapie der Kokaineinspritzung (Posadowsky) wirklich der richtige Weg? Wird das ausreichen? "Den Kriegsgewinnlern macht das nichts (sehr richtig, rechts) und die Arbeiter empfangen ja bereits Löhne, die man vor frei Jahren für vollkommen phantastische gehalten hätte." (Posa 1.3.1918, 4281) Es sind die Kriegsinvalidenrente zu zahlen, die Witwen- und Waisenrente aufzubringen, den Wiederaufbau von Heer und Marine zu finanzieren. Eine Neureglung aller Beamtengehälter ist notwendig. So kann man sich in etwa ein Bild machen, was der deutsche Steuerzahler zu leisten hat.
gründliche planmäßige Besserung der Wohnungsverhältnisse der unbemittelten Klasse." (Posa 1.3.1918, 4279) Bald darauf reagiert der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Ewald Vogtherr (1859-1923). Er (RT 1.3.1918, 4288) zieht den Kreis der gesellschaftspolitischen Aufgaben ein wenig weiter: "Der Herr Graf Posadowsky hat uns vorhin ein anschauliches Bild von der Schönheit gegeben, der wir entgegengehen, wenn der Krieg zu Ende sein wird: welche Lasten erwachsen werden, welche Summen notwendig sein werden, welche Steuern aufzubringen sind. Ja, meine Herren, dieses Bild, dass er uns entrollte und das seiner eigenen Andeutung nach an die Wirklichkeit wohl noch gar nicht heranreichen wird, gehört auch in das Kapitel der Verantwortlichkeit derer, die sich für diesen Krieg erklärt haben. (Sehr wahr! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)" Die wirtschaftlichen und sittlichen Wunden werden nicht ausheilen. Deutschlands strategische Stellung in Europa ist wie der des gesamten Kontinents stark geschwächt und befindet sich im Umbruch. Es wird nicht, wie Posadowsky hofft, "wieder die alte wirtschaftliche und politische Stellung in der Welt erringen". Die Idee vom geliebten Vaterland ist für immer zerstört.
Jede
Zeit ist eine Sphinx,
Hinter dem Dreiundsiebzigjährigen liegen anstrengende Arbeitsjahre: Referendar am Breslauer Stadtgericht, Gutsverwalter, Landrat, Landeshauptmann der Provinz Posen, Chef des Reichsschatzamtes, Staatssekretär des Inneren, Stellvertreter des Reichskanzlers, vierzehn Jahre als Mitglied der Reichsleitung im Reichstag, sieben Jahre Reichstagsabgeordneter und die Vertretung als Landrat in Elbing. Regulär steht er seit seinem Abschied aus der Reichsleitung im Jahr 1907 für eine höhere Aufgabe im diplomatischen Dienst oder im Staatsdienst nicht zur Auswahl. Der moralischen Frage nach Verantwortung für den Krieg, weicht er deshalb nicht aus, verschließt nicht die Augen davor, dass die Alten - die Elite - nach dieser historisch singulären Staatspleite als soziale Klasse einen ungeheuren Reputationsverlust erfahren hat. Ihr moralisches Ansehen ist gründlich, vielleicht irreparabel ramponiert. Doch er spürt, dass in der Öffentlichkeit zu seiner außenpolitischen Verantwortung falsche Vorstellungen bestehen, weshalb ihm folgende Klarstellung entfährt: " - Sie sagen, meine Herren, ich war Mitglied der Regierung. Gewiss meine Herren. Aber vieles ist geschehen, nachdem ich ausgeschieden war, (Zurufe von den Sozialdemokraten) und außerdem haben sie ja von Herrn v. Bethmann Hollweg gehört, daß die Staatssekretäre "nachgeordnete" Beamte [siehe Posa RT 19.3.1897, 5164] sind. Ich hatte meinen Geschäftsbereich zu vertreten. Das Auswärtige Amt war für mich unerreichbar, auch als allgemeiner Stellvertreter des Reichskanzlers." (Posa RT 23.10.1918, 6202) Schützengraben- und Gaskrieg erschütterten das europäische Wertesystem bürgerlicher Normen. Wenn die Menschheit nicht zugrunde gehen will, dann muss sie jetzt, antwortet Albert Schweitzer (1875-1965) in "Kultur und Ethik" (1971, 104, 341), ihr Moralsystem neu aufbauen. Sie braucht eine neue Gesinnung, was bedeutet, auf die "optimistisch-ethische Deutung der Welt in jeder Weise zu verzichten". Es gibt keine andere Möglichkeit als den Fortschrittswahn des materialistischen Weltbildes Optimismus, aus dem Willen zum Leben zu überwinden. Auf diesem Neuen Weg (1919/1921) schreitet der Arzt aus Lambarene in Gabun fort. Über freilich immer notwendige, individuelle moralische Maßstäbe des Handelns hinaus, müssen unter Einbeziehung der reformierten Christenlehre, dass Rechtsgefühl und den Anstand betreffend, gesellschaftliche Normen der gegenseitigen Achtung und Gerechtigkeit etabliert und Wirkung verschafft werden. Graf von Posadowsky könnte ihn dabei helfen, um Orientierungspunkte für einen universellen politischen Imperativ des Fortschritts und gesellschaftlicher Moralbildung zu setzen.
Das unbegrenzte Recht des Siegers zurück US-Präsident Woodrow Wilson erklärt am 23. Oktober 1918, dass er nicht bereit ist mit den "bisherigen Beherrschern Deutschlands" zu verhandeln, und spricht der politischen Elite Deutschlands sein Misstrauen aus.
Das Auswärtiges Amt der Vereinigten Staaten von Amerika in Washington übermittelt am 23. Oktober 1918 als Antwort auf die Note der deutschen Regierung vom 20. Oktober 1918 folgende Botschaft des Präsidenten, um auszusprechen, "daß die Völker der Welt kein Vertrauen zu den Worten derjenigen hegen und hegen können, die bis jetzt die deutsche Politik beherrschten, und abermals zu betonen, daß bei Friedensschluss und beim Versuche, die endlosen Leiden und Ungerechtigkeiten dieses Krieges ungeschehen zu machen, die Regierung der Vereinigten Staaten mit keinem anderen als mit den Vertretern des deutschen Volkes verhandeln kann, welche bessere Sicherheiten für eine wahre verfassungsmäßige Haltung bieten, als die bisherigen Beherrscher Deutschlands." (Wilson 23.10.1918)
Posadowsky gehörte zur politischen Elite. Das Vorgehen von Woodrow Wilson unterstellt hinsichtlich der Anerkennung der Regierung ein völkerrechtlich verbindliches Prinzip, dass es eigentlich noch nicht gibt. Ob rechtspolitisch oder nur intuitiv begründet, das sei dahingestellt, jedenfalls trauten viele den Siegern die saubere Handhabung eines solchen Rechtsprinzips nicht zu. Einige, das waren nicht wenige, rüttelten mit irrationalen Argumenten an der Legitimität des Verfahrens, was oft in eine Radauszene mündete. Andere, der bedeutend größerer Teil der deutschen Öffentlichkeit, unterzog das Vorgehen hinsichtlich Legitimität und Autorität einer rationalen Kritik. Sichtbar wurde es zum Beispiel in der japanisch-westlichen Menschenrechtskontroverse. Am 11. April 1919 trat unter Präsident Woodrow Wilson (1856-1924) die Völkerbundkommission zu ihrer letzten Sitzung zusammen. Zuvor, genau am 13. Februar 1919, schlug der japanische Delegierte bei der Pariser Friedenskonferenz Baron Makino Nobuaki (1861-1949) zwei Paragraphen vor, die garantieren sollten, dass keine Personen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht auf Grund der Rassen- und Staatsangehörigkeit diskriminiert werden können. Die amerikanische Delegation lehnte den japanischen Antrag ab, weil er eine Einmischung in die internen Angelegenheiten des Staates Vorschub leistete. Als Präsident Woodrow Wilson am nächsten Tag das Papier verlas, fehlten die betreffenden Klauseln. "Auch in der letzten Vollversammlung der Völkerbundeskommission vom 28. April 1919 brachte Baron Makino die Angelegenheit noch einmal zur Sprache. Die Rassenfrage bleibe ein ungelöstes Problem, das sich jederzeit gefährlich zuspitzen könne." (Harro von Senger 2000)
Hass auf die Kabelabschneider zurück
Hunger und Entbehrung brachte die völkerrechtswidrige Seeblockade der Engländer über die Bevölkerung. Deutschland verliert die gesamte Handels- und Fischereiflotte, was die Ernährungsnöte verewigt. So darf man das deutsche Volk nicht behandeln, klagt Posadowsky am 27. März 1919 Aus tiefer Not (54ff.). Deutschland hat den Krieg verloren. Die alte europäische Ordnung bricht zusammen. Im Ergebnis der Russischen Revolution (1917), den Friedensvertrag von Brest-Litowsk (1918) und Versailler Vertrag (1919) entsteht eine neue internationale Ordnung der Staaten. Der deutsche Kaiser rettet sich ins Exil. Den Abschied von ihm, konnten viele Bürger in der Garnisonsstadt Naumburg nicht verwinden. Das wird lange nachhallen. Da ist beispielsweise die öffentliche Erklärung des Festkommers des 7. Thüringer Infanterieregiments Nr. 96 vom 25. und 26. August 1 9 3 4, wo es heißt:
Das ist die Signatur für eine Klientel, indem die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), Nationalsozialistische Arbeiterpartei (NSDAP) sowie der Stahlhelm und Wehrwolf erfolgreich fraternisieren.
....
ich hoffe, auch für unsere Feinde Es sind weniger die Schattenseiten der Revolution als die ungeheuerlichen Zumutungen des Versailler Friedensvertrages, die ihn großen politischen Kummer bereiten. In "Aus tiefer Not" (54/55) legte er am 27. März 1919, begleitet von innerer Unruhe über die politische, soziale und wirtschaftliche Lage Deutschlands, seine Sorgen dar:
Wenn die Regierung und die Volksvertretung Bedingungen für den Frieden genehmigen, "wie sie unsere Feinde planen", dann muss Aus tiefer Not (56), dass gesamte deutsche Volk gegen eine "solch schmachvolle Vergewaltigung" seine Stimme erheben und alle anruft, "die noch ein Gefühl für Recht und Menschlichkeit haben. Von Frankreich und dem alten Hass seiner Bevölkerung haben wir nichts zu erwarten." Gemeinsam mit liberal-bürgerlichen, nationalen und sozialistischen Kreisen demonstriert im Frühjahr 1919 in Naumburg der Graf öffentlich gegen den Schandparagraphen von Deutschlands Alleinschuld. Zu den unterschiedlichsten Gelegenheiten flammte der Unwille über die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts und Verletzung der Souveränität durch die Alliierten immer mal wieder auf. In bestimmten politischen Gruppierungen, denen er nicht zurechnet, bildet es das einigende Band im Kampf gegen die Republik.
Wie denkt er im Frühsommer 1919 über den Versailles Vertrag? Er ist unannehmbar, weil wir wehrlos dastehen. Das Friedensangebot lautet "militärische Ermüdung Deutschlands" (273, 274). Deutschland verliert Gebiete, die dreiviertel von Großbritanniens Landfläche erfassen. Elsaß ist unser Land, zumindest zu 95 Prozent. Ähnlich den Sozialdemokraten befürchtet er den Verlust von Posen und Westpreußen. An der Seite der Wehrlosmachung steht der Landraub. England sagt, die Deutschen können die Kolonien nicht regieren. Sie drohen ebenfalls verloren zu gehen. Durch die wirtschaftlichen Klauseln des Vertrages, wird Deutschland der Mittel beraubt, die beschlossenen Massnahmen überhaupt zu tragen. Das bedeutet zweifellos "den vollkommenen wirtschaftlichen Niederbruch" (281). "Dieser Friedensvertrag ist eine geschichtliche Urkunde volkswirtschaftlichen Unverstandes", entlädt sich seine Wut am 7. Oktober 1919 (17) vor der Nationalversammlung in Weimar. "Sie zeigt, daß man die Sache nur vom Standpunkt des Forderns betrachtet hat, ohne alle volkswirtschaftlichen Erwägungen der Möglichkeit (Erneute Zustimmung rechts)." Der Feind verlangt auf Grundlage eines rückwirkenden Strafrechtsmodell die Auslieferung deutscher Staatsangehörige [Kriegsverbrecher]. Deutsche würden den Feinden zu Aburteilung ausgeliefert. Für "das Sittengefühl einer Nation" ist das "unerträglich." (281) Dass Deutschland schuldig am Krieg, ist nicht erwiesen. "Das war ja die Absicht unser Feinde, uns den ewigen Makel dieses Weltkrieges in der Geschichte anzuhängen " (282) Rußland wollte den Krieg. England nahm die Gelegenheit den Wirtschafts- und Flottenkonkurrenten niederzuschlagen. (283) (Posa 22.06.1919) ".... Wir müssen uns ernstlich prüfen, ob wir gestatten können, dass eine deutsche Regierung und seine deutsche Volksvertretung für den Frieden Bedingungen genehmigt, wie sie unser Feinde planen; wir müssen uns fragen, ob es nicht besser und würdiger ist, solche unerhörten Bedingungen abzulehnen - auf Gedeih und Verderb." (Aus tiefer Not 56) Für Posadowsky war der 12. Mai 1919, als die Mehrheit der Nationalversammlung den Friedensvertrag entschlossen ablehnte, ein großer Tag. Vor der Abstimmung gibt er in der Neuen Aula der Universität zu Berlin sein Urteil ab:
Keine Anerkennung der Schuld zurück Gestützt auf zum Teil vakante, umstrittene oder zu diesem Zeitpunkt nicht klar erkennbare Zusammenhänge, aber auch enttäuscht von der politischen Entwicklung nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens im Wald von Compiègne am 11. November 1919, erörtert Graf von Posadowsky im Aufsatz "Die Entschädigungspflicht Deutschlands", datiert vom 27. Mai 1919, die Frage nach der Schuld am Krieg. Ausgangspunkt bildet die Erklärung der deutschen Regierung vom November 1918, "unseren Feinden entstandene Kriegsschäden zu vergüten", und das, obwohl "nach den Veröffentlichungen aus den militärischen Archiven Rußlands kein Zweifel mehr darüber bestehen kann, dass Rußland den Krieg gegen Deutschland von langer Hand vorbereitet hatte und zum Krieg entschlossen war, obgleich es ebenso nach den Ermittlungen in belgischen Archiven nicht zweifelhaft sein kann, das Belgien niemals neutral gewesen ist, wie dies selbst der Engländer Bernhard Shaw in seinem Buch "Winke für die Friedensversammlung" zugibt, obgleich England nach demselben englischen Verfasser schon seit 1906, d.h. seit dem ersten Berliner Besuch des damaligen Kriegsministers Lord Haldane, den Krieg gegen Deutschland vorbereitet hat und obgleich endlich Frankreich, entsprechend seiner Bündnispflicht gegenüber Rußland, in den von Rußland gewollten Krieg eingetreten ist." Es war dies ein Zugeständnis, das uns ungerecht belastet und jetzt als Schuldbeweis gegen uns verwendet wird. In Paragraph 231 des Versailles Vertrag wird uns deshalb das Anerkenntnis der Schuld zugemutet. (Die Entschädigungspflicht 160) Anfang der 20er Jahre entsteht die Paneuropäische Perspektive. Graf Richard Coudenhove-Kalergi (1864-1972) formuliert 1922 ihre Kernsätze. 1924 gründet er in Wien die Paneuropäische-Union. "Paneuropa" begreift London, New York, Moskau und Tokio als die neuen Weltzentren. Am Horizont zieht Panmongolien herauf. Nach Auffassung von Coudenhove-Kalergi kann sich ein freies Europa nur unter Ausschluss der eurasischen Weltmächte England und Rußland herausbilden. Paneuropa hat die Freundschaft der Rivalen Deutschland und Frankreich zur Voraussetzung. Die Überwindung ihrer Feindschaft ist das größte Hindernis. Aus der paneuropäischen Idee leiten sich deutliche andere Implikationen und Folgerungen als aus dem Versailles Vertrag ab. Allerdings zimmerte ihr Vordenker das Neue Europa zum Teil aus abgewrackten Konstruktionsteilen zusammen, was das Zusammenwachsen des "demokratischen Europas" mit dem "sowjetischen Rußland" unmöglich macht.
Reichsnotopfergesetz
und Am 21. Juni 1919 konstituiert sich das Kabinett Gustav Bauer (Eugen Schiffer, Hermann Müller, Eduard David, Joseph Wirth, Gustav Noske und andere). Es bleibt bis am 27. März 1920 im Amt. Matthias Erzberger (1875-1921) übernimmt das Reichsfinanzministerium. Riesige Kriegsschulden sind aufzubringen. Nach Berechnungen des früheren Reichsfinanzmisters Schiffer sind es 160 1/2 Milliarden plus den alten Schulden, ergibt die Summe von 165 1/4 Milliarden Mark. An Frankreich beträgt die Schuldenlast 436 Milliarden. ".... die Schuld an unsere Feinde im ganzen mit Zinsen während 30 Jahren" liegen bei "900 Milliarden". Rechnet man die eigenen Schulden dazu, ergibt sich die Summe 1100 Milliarden. (Posa 7.10.1919, 16) Der Wiederaufbau des Landes verschlingt gewaltige Investitionen. "Wir haben", erinnert Posadowsky seine Kollegen am 1. März 1919 (4279) in der Nationalversammlung, "die ungeheuren Kriegs-Invalidenrenten zu zahlen." Hinzukommen die Witwen- und Waisenrenten. "Ich bin auch ferner der Ansicht, dass es durchaus gerechtfertigt ist, die Kriegsgewinne im engeren auf schärfste zu erfassen" und die besitzenden Klassen heranzuziehen. (Posa RT 27. März 1919, 836) Er hält es aber nicht für Gerecht, die bescheidene Vermögensvermehrung, als Resultat von Sparsamkeit und Selbsteinschränkung durch den Staat zu plündern. Das geschieht nicht im erforderlichen Umfang, weil es die Deutschnationalen verhindern. Und dies könnte, soll erstmal versuchsweise angemerkt werden, ein Grund der Trennung von der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) gewesen sein. Die Erzberger`sche Finanzreform 1919/1920 führt die Einkommen-, Körperschafts- und Umsatzsteuer, Kapitalertragsteuer und den direkten Lohnsteuerabzug ein. "Mit der Umsatzsteuer kann man einverstanden sein", teilt sich Posadowsky am 7. Oktober 1919 der Nationalversammlung mit. Etwas aufreizend empfindet er die Ankündigungen von Gustav Bauer (1870-1944), Vorsitzender der Generalkommission der deutschen Gewerkschaften und Staatssekretär des Reicharbeitsamtes (RT 23.7.1919,1847):
Eine Überdehnung dieser Maßnahmen wäre volkswirtschaftlich gesehen nicht günstig, weshalb er fordert, keine Steuergesetzgebung darf soweit gehen, "daß sie den Antrieb und die Lust zur Verehrung des Vermögens unterbindet, das sie den Unternehmergeist lahmlegt. " (Posa RT 7.10.1919, 14) Am 31. Dezember 1919 verabschiedet die Nationalversammlung das Reichsnotopfergesetz (RNOG), welche die Abgaben auf Vermögen regelt. Im Vorfeld diskutiert die Öffentlichkeit heftig über die Vor- und Nachteile, also: Wer ist, wer kann und wer darf nicht Steuerbefreit werden? Welche Nachlässe gibt es? Graf von Posadowsky (Rede 7.10.1919, 13f.) schlägt vor: Entweder werden Abgaben zum Reichsnotopfergesetz auf einmal angefordert, dann müssen zahlreiche Steuerpflichtige einen erheblichen Teil ihres Besitzes an den Markt werfen, was wahrscheinlich eine ungeheure Entwertung der Immobilien zur Folge hätte. Das würde aber die Zahlung letztlich erschweren. Eine andere Möglichkeit besteht in der Stundung der Leistung. Doch ob man sie über dreißig Jahre lang über alle seine Vererbungen und Veränderungen verfolgen kann, ist sehr fraglich. "Ich bin deshalb der Überzeugung, dass diese Reichsnotopfer auf einen unrichtigen Gedanken aufgebaut ist. In den allermeisten Fällen wird diese Reichsnotopfer gestundet werden müssen. Das ist es schließlich nichts wie eine Einkommensteuer "
Deutschlands Einheit ist gefährdet! zurück Im Alltag überall und alle Tage Gewalt. In unerhörter Weise blühen das "Schiebertum und der verächtliche Wucher mit Lebensmitteln". Posadowsky (RT 7.10.1919, 2895) leidet an seinem Land, dem Niedergang, am Staatsbankrott und den Demütigungen durch die Alliierten. Unter der Bevölkerung nimmt er große Unsicherheit wahr. "Aus tiefer Not" (56) befürchtet er am 21. März 1918:
Deutschland könnte unter den Lasten und Folgen des Krieges zerbrechen. Damit würde es gemessen an seinen Wert- und Leitideen der Gesellschaftsentwicklung auf lange Zeit die entscheidende Voraussetzung, die staatliche Einheit, für Wohlfahrt und Entfaltung der Kultur einbüßen. Ihm scheint, die Sozialdemokraten könnten den Zusammenhalt der deutschen Einzelstaaten retten und in der Republik bewahren. Möglicherweise, genauer ist es jetzt nicht zu sagen, gewisse Anzeichen sprechen dafür, verändert dies später sein Verhältnis zu den regierendenden Sozialdemokraten positiv. Sie - räumt er in Gegen Bauer und Noske am 7. Oktober 1919 ein - wartete nach dem 9. November [1918] mit zielstrebigen und abmarschbereiten Politikern auf, währenddessen die Bürgerlichen unentschlossen wirkten und danebenstanden.
Die Alten und der Obrigkeitsstaat zurück Wie eine Dampfwalze rollt die Schuldfrage auf die Alten zu. Und war es denn nicht so, dass die Freideutsche Jugend vor dem Krieg wieder und wieder ihre Zweifel an der wilhelminischen Elite vorbrachte? Unfähig zur sozialen Empathie, unwillig zu Reformen. Radikalopportunistisch und indolent, zu wenig am Aufbau einer friedlichen Welt interessiert, lautete damals ihr Urteil. Als der Jenaer Verleger Eugen Diederichs (1867-1930) 1917 Intellektuelle, Politiker und Künstler zum Gespräch über die Neuordnung Deutschland auf Burg Lauenstein einlud, bestürzt ihn des Doktrinismus der älteren Generation, ihr Mangel an Demut und "an Gefühl, den Menschen Bruder zu sein". Wer sich jetzt unverdrossen in den Führerstand der Dampfwalze schwang, den Boden für die politische Debatte und entsprechende Aktionen ebnete, der konnte im Kampf der Jungnaturen gegen die Alten schnell Popularität erlangen. Das ist der Moment für Friedrich Muck-Lamberty und seine Neue Schar. Im Sommer 1920 zieht die mit Gesang und Tanz, durch Franken und Thüringen. und im Gepäck eine neue, jugendliche und naturverbundene Lebensart. Ein unglaublicher Triumph! Graf Posadowsky ist nicht dabei. Er ist fünfundsiebzig Jahre Jahre alt. Da haben wir es doch! Ist er nicht einer von diesen Alten? Vom System verdorben! Und dann, gibt er am 14. Februar 1919 - noch dazu in der Nationalversammlung - diese provokante Vorstellung:
Was bedeutet das?
Zur Klärung dieser Fragen empfiehlt sich ein kleiner Umweg. Besuchen wir zunächst am 17. Januar 1919 in Stuttgart die Tagung der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), nach der SPD und dem Zentrum die drittstärkste Partei in Deutschland. Der Referent Theodor Heuss (1884-1963) versucht sich an ähnlichen Problemen. Und wie bewältigt er diese Schwierigkeiten? Im diplomatischen Ton legt er dar, dass die wilhelminisch konservative Anschauungsweise in Kombination mit den nationalistischen Traditionen überholt ist. Eine Einsicht, der sich Posadowsky in keiner Weise verweigert. "Die Fürsten sind nicht mehr da", ruft Heuss, "und unser Denken muss zurückgehen über Bismarck zum Jahr 1848", worauf die wichtige Stelle folgt:
Posadowsky denkt ähnlich, dass heisst, er lehnt in dieser historischen Situation jede "Herabsetzung des alten Staates" ab. Das wird oft leichtfertig generalisiert als "reaktionär" bezeichnet. Ist es aber nicht. Auch mit der "Idealisierung des deutschen Kaiserreichs", die Wolfgang J. Mommsen 1987 (110) für die 20er-Jahre zu Recht beklagt, hat dies nichts zu tun, weil er sich immer wieder kritisch mit dem wilhelminischen System auseinandersetzt und sich seiner eigenen Verantwortung bewusst ist. Also, klugerweise kann sich hinter dem "nicht schmähen", durchaus eine vernünftige gesellschaftspolitische Haltung verbergen. Nämlich, wenn man beim Neuaufbau eines Staates, einer Republik, in konstruktiver und humanistischer Art und Weise an die Idee der Nation zur Mobilisierung der natürlichen Kräfte anknüpfen muss, weil ein nationales Aufbauwerk im bisher nicht gekanntem Ausmaß zu leisten ist, dann darf man ihre Quellen nicht leichtfertig zum Versiegen bringen. Den neuen Fragen der Arbeitswelt in Industrie und Landwirtschaft, die Abschaffung der Heimarbeit, das Recht auf Wohnung für die Unterklasse, die Implantierung eines gerechten Steuersystems, ja der Reform und Umgestaltung des politischen Systems, steht Posadowsky aufgeschlossen gegenüber. Und das stets mit Empathie für die arbeitenden Klassen und Forderung nach Verantwortungsübernahme durch eine schöpferisch tätige politische Elite. Ihn wegen oben zitierter Redepassage, dass Urteil vom rückwärtsgewandten Politiker oder Gegner der Republik aufzuherrschen, wäre irreführend und extra ungerecht. Gewiss, er kritisiert als DNVP-Fraktionssprecher der Nationalversammlung scharf die Regierung, erhält überdies von ihr gelegentlich auch Beifall. Es ist wahr, die Arbeiter- und Soldatenräte und andere Revolutionserscheinungen lehnt er ab. Aber das bedeutet nicht, dass er ein Reaktionär, Konterrevolutionär oder Monarchist ist.
Der Aufstieg des Arturo Ui zurück Als Folge der schweren wirtschaftlichen Rezession sinken als Folge des Weltkrieges die höher gestellten Klassen nach unten, was schwere Integrationsprobleme verursacht und die Beamtenmentalität - zumindest in Naumburg an der Saale - in Richtung Stahlhelm-Organisation verschiebt. Die Submediokrität nimmt in der Existenzkrise zu, wofür "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" (Bertolt Brecht 1941) paradigmatisch. Ein Phänomen mit dem Posadowsky im fünften Karriereabschnitt (1882 - 1893 - 1912 - 1919 - 1927) als Abgeordneter immer wieder konfrontiert wird. das Phänomen liegt staatsrechtlich und -politisch quer zu seinen Intentionen. "..... dass Personen ohne jede Vorbildung, ohne jede Kenntnisse der Gesetze, ohne jedes Studium des Rechts und der Verwaltung des Landes in die höchsten Stellen gelangen", ist grundfalsch, führt er am 7. Oktober 1919 vor dem Reichstag aus. "Meine Herren von der Regierung, dieses System rate ich nicht fortsetzen." (Posa RT 7.10.1919, 2898+2899)
Kaiserbilder zurück Ende 1919 beobachtet er wie "das deutsche Volk nach Ruhe und Ordnung lechzt" und "im Volk in den letzten Monaten der monarchische Gedanke wieder an Boden" gewinnt. So sind denn folgende Worte aus seiner Rede gegen "Gegen Bauer und Noske", von ihm gut zu verstehen:
Will die Regierung wirkliche Freiheit jedes Staatsbürgers gewährleisten, darf sie nicht in Einseitigkeiten verfallen, sondern muss ihre Arbeit "auf sachlicher Notwendigkeit" gestalten. (V&R 96) Die Debatte und öffentliche Aufregung um den Traditionsabbruch hatte praktische Folgen. In der Region war die Stadt Naumburg weithin für den Streit um die Kaiserbilder bekannt, der nach Abdankung von Wilhelm II. ausbrach. Personen die einst auf den rechtesten Flügen fochten, gaben sich jetzt als Verteidiger der wahren Revolution, rissen oder hängten das Bild vom Monarchen ab. "Solch` ein schneller Wechsel der Überzeugung scheint die Erfahrung zu rechtfertigen," erhebt Posadowsky behutsam und nachdenklich die Stimme, "daß die Menschenkenntnis nicht immer geeignet ist, die Menschenachtung zu fördern". Eine gewisse Zurückhaltung ist seiner Überzeugung nach in solchen Zeiten nur vernünftig. Denn politische Bilderstürmerei ist nur eine kleinliche Maßregel gegenüber dem gewaltigen geschichtlichen Ereignis. Es ist ein "kleinlicher Jakobiner Standpunkt" "nach dem planmäßig die Erinnerung an die monarchische Zeit sowie ihre Vertreter und Anhänger in den öffentlichen Gebäuden ausgetilgt" wird. "Politisch wird man damit wahrscheinlich das Gegenteil dessen erreichen," lautet 1919 der Kern der Kritik vom Aufsatz Kaiserbilder, "was man beabsichtigt." Er will die sozialen Kräfte erhalten und bündeln. Woher sollen sie sonst kommen? Allein die Revolutionsbegeisterung verfügt über solche Potenzen nicht, weshalb es sich empfiehlt, mit den politischen Empfindungen der Bürger zum Staat achtsam umzugehen.
Antiwestliche Tendenzen zurück Der Hass auf die "Kabelabschneider", die Deutschland 1914 vom Weltnetz der Kommunikation trennten, ebbte nicht ab. Trotz "völliger Amerikanisierung", taxiert der Galerist und Kunsthändler Wilhelm Uhde (1874-1947) die Lage, glimmt in "den alten Kratern" immer wieder das Feuer der nationalen Revolution auf. Die Abwehrstellung gegen den Westen war in Deutschland kein neues historisches Phänomen. Nach der Reichsgründung 1870/71 verbreitete es sich in elitären Kreisen des Bürgertums. Friedrich Nietzsches Anziehungskraft auf die Konservativen rührte wesentlich aus dessen Renitenz gegenüber dem Nivellierungsprozess der Bismarck`schen Reichsgründung her. Es war die "uralte Auflehnung Deutschlands gegen den westlichen Geist" (Thomas Mann), die Furcht vor der "Verformung des deutschen Menschen", vor "eine alle Nationalkultur nivellierende Entwicklung im Sinne einer homogenen [Welt-] Zivilisation". Obwohl sich dies in vielen Erscheinungen bei Versammlungen und Protesten, in der Presse oder in Briefen dartut, sind die antiwestlichen Tendenzen im konservativen und rechtspolitischen Lager, in abgeschwächter Form in der kommunistischen Szene, beim Wehrwolf und Stahlhelm sowie bei den Unpolitischen bisher unzureichend oder überhaupt nicht beachtet worden. Da war vom 9. bis 12. August 1919 das Treffen der Jungdeutschen auf der Burg Lauenstein mit Frank Glatzel, Hjalmar Kutzleb, Hans Gerber und Friedrich Muck-Lamberty aus Naumburg. Ebenso waren antiwestliche Momente in der Gruppe präsent, die Ludwig Dithmar am 28. / 29. Januar 1922 aus dem Naumburger Gefängnis befreite und im Juni 1922 in Naumburg die Flucht der Rathenau Mörder von Erwin Kern und Hermann Fischer nach Saaleck unterstützte. Kräftig traten diese Erscheinungen als Folge des "Rechtsbruchs des Westens" in der Ruhrkrise 1923 hervor. "Wir sind jetzt allein in Welt", hiess es. Gustav Winter (1882-1935) aus Großjena ließ im Endkampf gegen die Reichsbank gelegentlich antiwestliche nationalbolschewistische Attitüden erkennen. Begonnen hatte es im Anschluß an die Waffenstillstandsverhandlungen, als nach der Unterzeichnung des Vertrages am 10. November 1918 ein Notschrei an den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson erging, dass die Bedingungen - nach einer Blockade von fünfzig Monaten - durch Deutschland nicht einzuhalten sind. Wenn man hier sozusagen nicht einlenkt, würde im Deutschen Reich das Gegenteil der Gesinnung von dem erzeugt, was die eigentliche Voraussetzung für die Errichtung der Völkergemeinschaft ist. Später sprach man im Strasser- oder im Tat-Kreis-Umfeld des Journalisten Hans Zehrer von 97 Prozent Deklassierter im deutschen Volk, was eine Übertreibung darstellt, aber eine Vorstellung von der Wahrnehmung dieses Konflikts vermittelt. Am 28. Juni 1919 wird in Versailles der Friedensvertrag unterzeichnet. Bedeutende Teile der Arbeiterklasse begreifen den Versailler Vertrag als ein Monument imperialistischer Politik, das man stürzen muss. Politiker unterschiedlicher Provenienz und Wertorientierungen, konvergieren in der Einschätzung über die Entente (Frankreich, Vereinigtes Königreich, USA, Italien). Aber so klar, wie es eben formuliert, war es in Wirklichkeit wahrscheinlich nicht. Zumindest gab es noch eine andere Tendenz. Kürzlich erklärte der Reichsminister des Äußeren, erinnert sich 1920 der Politiker Posadowsky, dass es ein
gewesen sei, die Friedensverhandlungen in Versailles nicht ernst genommen zu haben. Jene Schuld wiegt umso schwerer, als sich der Einfluss von Massen geltend machte, die für die tiefgreifenden Bestimmungen des Friedensvertrages "und seine für unser Land vernichtenden Folgen
Diejenigen aber, die den Friedensvertrag ablehnten, so muss man einräumen, bewiesen Scharfblick. (Posa, Coup de Jarnarc 3.8.1920, 185)
Ein zentrales Argument der antiwestlichen Bewegung war die Missachtung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen durch den Westen. Ein Zweites formulierte Karl O. Paetel (1965, 182), ehemaliges SPD-Mitglied und Vorsitzender des Augsburger Arbeiter- und Soldatenrates, Verfasser des "Nationalbolschewistische(n) Manifest(es)" von 1933 und Herausgeber Monatszeitschrift "Die sozialistische Nation": "Die Herren von Versailles müssen einmal die Sowjetunion auf gewaltsame Wege niederzwingen oder kapitulieren. Daher sucht man das schaffende Deutschland vor den Karren des internationalen Finanzkapitals zu spannen, um die deutschen Arbeiter, Bauern und Soldaten mit der Soldateska der übrigen europäischen Länder in den imperialistischen Krieg gegen die Sowjetunion zu hetzen." Wladimir Iljitsch Lenin (1870-1924) erhebt am 23. August 1915 im "Sozial-Demokrat" "Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa" den Vorwurf von der "Ausraubung von rund einer Milliarde Erdenbewohner durch ein Häuflein von Großmächten". Posadowsky läßt am 17. März 1919 (8) in seiner Rede vor der Nationalversammlung keinen Zweifel, daran, dass der Feind, die Entente, uns nicht nur verwirren will, sondern "wucherisch auszubeuten entschlossen ist". "Das ist ein ungeheuerlicher Raubfrieden," erklärt Lenin am 15. Oktober 1920 vor den Vorsitzenden der Exekutivkomitees der Keis-, Amtsbezirks- und Dorfsowjets, "der Millionen und aber Millionen Menschen, darunter die zivilisiertesten, zu Sklaven macht." Die Entente will," webt am 19. Februar 1920 Linksozialist Heinrich Ströbel (SPD) weiter am geistigen Band der unterdrückten Nationen, "teils aus Rachelust und Konkurrenzneid, teils aus Furcht vor einer Wiedererstarkung des Gegners, Deutschland völlig unschädlich machen: durch wirtschaftlichen Ruin und politische Zerstückelung."
Revolution und Evolution zurück Was ist jetzt zu tun? Posadowsky wartet und vertraut nicht auf Wunder, er nimmt die Sachen lieber selbst in die Hände. Im Unterschied zu vielen anderen Persönlichkeiten aus dem konservativen, alldeutschen, völkischen, deutschnationalen und konservativ-wilhelminischen Lager, lehnt er die Revolution nicht ab. "Wir sind keine Revolutionäre", hört man von ihm am 7. Oktober 1919 aus dem Parlament, "aber wir sind Evolutionisten." Das Volk, das ist seine Überzeugung, muss in die Gestaltung und Führung des Staates einbezogen werden. "Zu lange schon hat man gezögert," kritisieren im März 1918 (65/66) die Schicksalsstunden, "diesen aufstrebenden Massen einen entsprechenden Anteil am politischen und öffentlichen Leben einzuräumen." Posa hilft dessen Fähigkeiten öffentlich adäquat wahrzunehmen, zu nutzen, und erklärt: Seit langem entfalten die handarbeitenden Massen eine rege politische und wirtschaftliche Aktivität. "Gerade durch diese Tätigkeit sind aber in den Massen geistige hervorragende führende Kräfte herangebildet, und dadurch ist ihr Wunsch verstärkt, sich in weiterem Umfang öffentlich betätigen zu können. Diese Forderung lässt sich nicht abweisen . " Graf von Posadowsky steht "Am Scheideweg" (42 ff.). So lautet auch der unter dem "26. September 1918" von ihm veröffentlichte Aufsatz. Die Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts begann wegen zahlreicher Widerstände erst unter dem Eindruck der Kriegsniederlage im Jahr 1918. Noch im Sommer und Herbst 1918, konstatiert Posadowsky, lassen Vertreter der großen Parteien, den Anspruch auf Parlamentarisierung der Regierung fallen. Zwar ist es wünschenswert, argumentieren die Alten, wenn man Parlament und Regierung miteinander mehr in Fühlung bringt, wozu es ihrer Ansicht nach ausreicht, die Fachministerien mit Abgeordneten zu besetzen. Ferner streiten die Interessengruppen darüber, ob die Erweiterung des Wahlrechts notwendigerweise zu einer Parlamentarisierung der Regierung führt. In der Wahlrechtskommission des Preußischen Herrenhauses leugnete der Vizepräsident des Staatsministeriums Robert Friedberg (1851-1920), "daß eine Parlamentarisierung der Regierung die notwendige Folge des Wahlrechts sein würde". Die Linken waren damit nicht mehr zu beruhigen und verlangen ohne Umschweife die Einführung der parlamentardichen Regieruing. (Am Scheideweg 42f) In der Parlamentarisierung erkennt er einen notwendigen und wichtigen Reformschritt, kann jedoch nicht nachvollziehen die vertrauensvolle "Übereinstimmung zwischen Parlamentariern und Regierung", was offiziell als ein Vorzug dieser Form der Machtausübung gepriesen wird, nicht nachvollziehen. Schon beginnt das "Ote-toi que je m`y mette", "Hebe dich fort, damit ich mich an deinen Platz setzen kann." Wie in allen parlamentarisch regierten Staaten pflegen allmählich die eigenen Gesinnungsgenossen ihre eigen Befähigung höher einzuschätzen als ihre ehemaligen Vertrauensmänner und Führer. (Ebenba 44) Eine "Regierung der Massen" ist seiner Ansicht nach ausgeschlossen, weil sie sich "bei großen politischen Umwälzungen" nur vorübergehend durchsetzen kann; "jedes Land wird schließlich aristokratisch regiert durch die Vertreter von Bildung und Besitz. Das ist in den Republiken nicht anders ...." (Schicksalsstunden 17. März 1918) Nach 1921 drängt die Geld-, Inflations- und Aufwertungspolitik in sein Gesichtsfeld. Je mehr er sich damit beschäftigt, desto stärker befremdet ihn die deutschnationale Politik, was sich bis 1925 zum unversöhnlichen Gegensatz auswächst. Sozialdemokrat Hugo Heimann (1859-1951), dessen herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Geldpolitik allgemein nicht bekannt sind, würdigt 1925 Graf von Pasadowsky in der Schrift "Der Kampf um die Aufwertung" (38):
Dem deutschnationalen Reichsminister Oskar Hergt (1869-1967) kann man dies wirklich nicht nachsagen. Im Mai 1927 erinnert ihn Posadowsky an sein Versprechen:
Dunkle Drohungen zurück Unlängst erklärte Herr Philipp Scheidemann (SPD) in Kassel, "die Revolution sei mit den Vertretern des alten Regimes so großmütig verfahren, wie noch nie eine Revolution verfahren ist".
"Ich weiss nicht recht," antwortet Posadowsky am 7. Oktober 1919 in der Nationalversammlung,
Hat er geglaubt, daß es in Ordnung gewesen wäre, wenn die Revolution mit den Personen, die Träger des alten Regimes waren, mit den Beamten und Offizieren, die Kraft ihres Diensteides die Monarchie vertreten haben, so zu verfahren, wie ihr großer Vorgänger, die Revolution von 1789, wie die Jakobiner, von denen der größte demokratische Geschichtsschreiber Frankreichs Taine sagt: "Die Jakobiner bestanden aus Verbrechern, aus Narren und vertierten Taugenichtsen. (Heiterkeit rechts. Zurufe links)"". Die Monarchie wird niemals wiederkommen", versichert Reichspräsident Friedrich Ebert, worauf Posadowsky am 7. Oktober 1919 in der Nationalversammlung antwortet: "Man soll, wenn man an verantwortungsvoller Stelle, sich hüten, solche prophetischen Erklärungen abzugeben." Wenn der Herr Abgeordnete Scheidemann fordert, "wir sollten uns hüten, die Frage anders zu beantworten als eine religiöse Überzeugung, und daran eine Drohung geknüpft hat, so kann ich den Herrn Scheidemann wiederholt versichern: es war das wirklich nicht nötig.
der übrigens nach dem vorrevolutionären Kalender auch ein 9. November war." [Es war der Tag des Staatsstreichs, der das Ende des Direktoriums brachte und Napoléon Bonaparte als Erster Konsul zum Alleinherrscher aufsteigt] " Vor allen Dingen fehlt uns für einen solchen monarchischen Gewaltstreich, eine Voraussetzung, ein Napoleon der aus einem siegreichen Kriege zurückgekehrt war." (Posa RT 7.10.1919, 2893 f.)
Rache. Feindbild. Kühlmann-Episode zurück Die Kriegsniederlage und Versailles lassen ihn innerlich nicht zur Ruhe kommen. "Für die Feinde Deutschlands" werde der Tag kommen, zitiert ihn 1921 Arthur Crispien (USPD / SPD), wo "die Rache der Götter" auf sie niederstürze". "Weder die Regierung noch das Volk", davon ist Posadowsky überzeugt, "hat den Krieg gewollt", sondern "ist von unseren offenen und heimlichen Feinden im Stillen jahrelang gegen uns geplant". Erst kürzlich brach [zurück] in Reaktion auf die Rede von Staatssekretär Richard von Kühlmann (1873-1948) vom Auswärtigen Amt sein Ärger über die Kriegsschuldfrage durch. Es schien so, als wenn er darauf nur gewartet hatte, um am 27. Juni 1918, endlich der Presse mitteilen zu können: "Bezüglich der Schuld Rußlands am Kriege bin ich doch der Meinung des Herrn v. Kühlmann, England und Frankreich war aber dieser Krieg nicht unwillkommen. Ich bedauere, dass gegenüber den Verleumdungen unserer Gegner unsere Regierung nicht immer prompt geantwortet hat. Durch diese Unterlassung hat sich in den Köpfen unserer Feinde der Aberglaube festgesetzt, dass wir die Schänder der Kultur sind. Die Welt muss dagegen erfahren, welche Verbrechen gegen uns und unseren Gefangenen täglich begangen werden. Dank der deutschen Siege haben sich die Randvölker befreit." Es ist deshalb ungerecht und empörend, wenn die Alliierten jetzt Deutschland in die Rolle des Kulturschänders drängen.
Deutschtum zurück Posadowsky weist am 15. Januar 1919 in der Reichskronen-Reden daraufhin, dass in der Ostmark die Verhältnisse am traurigsten und gefährlichsten sind. "Unsere Ostmark ist in Gefahr!" verkündet am 5. Februar 1919 im "Naumburger Tageblatt" der Chef des Generalstabes Oberstleutnant v. Hagen. Und weiter:
Jeder, der moralisch einwandfrei, felddienstfähig und militärisch ausgebildet, melde sich bei seinem Truppenteil, Garnison- oder Bezirkskommando, wo er weitere Auskunft erhält." Wie dachte Posadowsky darüber? "Jetzt kommen infolge des Friedensvertrages große gemischtsprachige Gebiete unter polnische Herrschaft oder sind in Gefahr, unter polnischen Einfluss zu kommen . ", teilt er in "Unsere Auslandsdeutschen" (1919, 100) seine Sorgen mit. In der West- und Ostmark werden viele Deutsche gezwungen sein durch feindliche Anordnung oder durch persönliche Verhältnisse, "ihre bisherige Heimat zu verlassen". Für alle die solchen Bedingungen nicht unterliegen, "sollte es eine heilige Pflicht sein, auf ihrem Posten auszuhalten. Sie sollten sich als Vorposten der deutschen Sache betrachten und stets eingedenk bleiben, dass jeder, der kleinmütig dem Kampf um die Stellung des Deutschtums in jenen gefährdeten Gebieten ausweicht, damit auch die deutsche Zukunft jener Länder preisgibt." Jetzt wird sich zeigen, ob die deutsche Gesinnung nur Festbegeisterung und Redegut auf Versammlung war, oder der Ausdruck opferbereiter Liebe zum Vaterland und zum eigenen Volke." (101) Durch die traurigen Umstände werden viele Deutsche gezwungen sein, das Mutterland zu verlassen, um in fremden Ländern einen neuen Lebensraum zu suchen. "Die Auswanderung kann deshalb nicht mehr bekämpft, sondern muss planmäßig gefördert werden. Pflicht der heimischen Volksgenossen wird es sein, alle die abgetrennten und in der Welt verstreuten Glieder unseres Volksstammes dem Deutschtum innerlich zu erhalten." (102) " . um jede deutsche Seele da draußen müssen wir kämpfen; die große deutsche Familie muss sie alle, wo immer sie auch den harten Kampf des Lebens kämpfen, geistig zu umfassen suchen." "Die nächste deutsche Pflicht ist jetzt, dafür zu sorgen, das in den gefährdeten Gebieten keine deutsche Stimme fehlt ...." (103) [Die Ostjuden-Frage zurück] Seit 1914 wandern verstärkt Ostjuden nach Deutschland ein. Judenpogrome, der Gegensatz von Juden und Polen und ihre sich deutlich verschlechternde Wirtschaftslage stimulieren im Lauf der Zeit die Abwanderung aus Polen. "Ebenso kommen Russen herüber," lässt am 7. Oktober 1919 Posadowsky-Wehner (11) in der Nationalversammlung verlautbaren, "die hier ganz offen bolschewistisch agitieren. Dieser Zustand darf nicht weitergehen. (Beifall rechts.) Die Grenze muß geschlossen werden. Wir können diese wilde Einwanderung nicht in einer Zeit dulden, wo wir an dem größten Wohnungsmangel leiden, wo wir in den Gefahren der Ernährungsmöglichkeiten stehen."
In der zweiten Jahreshälfte von 1919 kamen nach Angaben des Arbeitsamtes 6 000 Ostjuden nach Deutschland. Graf Posadowsky verlangt am 29. September 1919 in der Sitzung des Programm-Ausschusses der Deutschnationalen Volkspartei, dass die "Türen und Tore des Ostens" gegen die "verderblichen Einwanderer" endlich geschlossen werden müssen, weil sie das "Deutschtum" verseuchen und die Lebensmittelknappheit verschärfen. Als Parteipolitiker folgt er hier einem Paradigma, dass die Ostjuden potentiell als Revolutionäre darstellen, die undeutsches Gedankengut nach Deutschland bringen, um in Deutschland blutigen Terror wie in Russlandherzustellen. Die Klassifizierung von Menschen und Herabsetzung von definierten sozialen Gruppen durch den Propagandaapparat der DNVP, worauf Hans Dieter Bernd 2004 (108, 188) hinweist, verabsolutiert Urteile, die ideologischen Ursprung sind, nicht aber biologischen Charakter und Intentionen tragen. Graf Arthur von Posadowsky-Wehner war und bleibt Antisemit und -rassist. Der Schriftsteller Herbert von Eulenburg (1876-1949) protestiert Anfang 1920 in der "Vossischen Zeitung" Wider der böswilligen und gedankenlosen Behandlung der osteuropäischen Juden. Er ist nicht allein, andere treten ihm bei. Zum Beispiel, die "Freiheit" das Organ der Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands. Sie enthüllt am 1. Juli 1920 die Motivationslage für den alldeutsch-antisemitischen Feldzug gegen die Ostjuden. Klar und treffend Es ist ein Eingeständnis der eigenen Unfähigkeit auf dem Gebiet des Wohnungswesens und zur Arbeiterwanderung mit irgendwelchen positiven Vorschlägen aufzuwarten.
Überfordert zurück "Es wäre eine Übertreibung, zu behaupten," blickt 1932 Volk und Regierung im neuen Reich (96) auf die Situation 1918/19 zurück, "dass all das politische Elend, wirtschaftliche und sittliche Elend, unter dem unser Volk leidet, eine Folge der Revolution sei. Die Ursache hierfür liegt in der seelischen, körperlichen und sittlichen Erschöpfung des Volkes als Folge eines 4 ½ jährigen Kriegs, der uns überanstrengt und unsere Widerstandsfähigkeit geschwächt. Die Revolution trägt aber die unzweifelhafte Schuld, dass sie Staat und Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert, den Beamtenkörper und sein dienstliches Pflichtgefühl vielfach gelockert und so den Wiederaufbau des Staates unendlich erschwert hat." Deutschland und seine Bürger sind überfordert. "Das deutsche Volk hat ungeheure Lasten aufzubringen," rechnet Posadowsky am 9. Juli 1919 in der Nationalversammlung aus Anlass der ersten Beratung zu Steuerfragen vor, "die seine harte Lage noch verschlimmern". Die Jahreslast von 25 Milliarden Mark, die das Land aufnehmen muss, entspricht einem Volksvermögen von 500 Milliarden Mark, dass in Friedenszeiten lediglich auf 300 Milliarden Mark geschätzt wurde. Der Steuerbetrag (25 Milliarden Mark) kann sich noch erhöhen. Bei diesen riesigen Verpflichtungen ist der Ausbau von indirekten Steuern unbedingt geboten. "Hinsichtlich der Erbschaftssteuer wollen wir angesichts der Not der Zeit von unseren Grundsätzen nachlassen." Matthias Erzberger widerspricht im weiteren Verlauf der Reichstagsdebatte Posadowsky´s Behauptung, dass die Kapitalflucht eine Folge der Revolution ist. Vielmehr benutzen besitzende Kreise die Revolution, um Steuern zu vermeiden. Damit stellen sie ihrer Vaterlandsliebe ein trauriges Zeugnis aus. Das Kapital soll für die Volkswirtschaft arbeiten, jawohl.
Aber es kommt darauf an, akzentuiert der Reichsfinanzminister seine Aussage, für wen es arbeitet, wer die Gewinne einstreicht. Seiner Auffassung nach wird das Kapitaleinkommen nicht genügend scharf besteuert. Zudem ist die Vergeudung von Heeresgut nicht nur den Arbeiter- und Soldatenräten zuzuschreiben. Aus den Reihen der Unabhängigen kommt prompt der Zuruf: "Die Offiziere haben alles verschoben."
Farbige Truppen im Land zurück Als Abgeordneter der Nationalversammlung interveniert Posadowsky am 19. Mai 1920 nach dem Friedensschluss im Rheinland zusammen mit Parlamentskollegen gegen den Einsatz von "farbigen Truppen" durch Franzosen und Belgier. "Die Deutschen empfinden," heißt es in der Interpellation Nummer 2995 an die Deutsche Nationalversammlung, "diese missbräuchliche Verwendung der Farbigen als Schmach und sehen mit wachsender Empörung, daß jene in deutschen Kulturländern Hoheitsrecht ausüben. . Ihre Ehre, Leib und Leben, Reinheit und Unschuld werden vernichtet. Immer mehr Fälle werden bekannt, in denen farbige Truppen deutsche Frauen und Kinder schänden, Widerstrebende verletzten, ja töten. .. Schamgefühl, Furcht vor gemeiner Rache schließen den unglücklichen Opfern und ihren Angehörigen den Mund." "Diese Zustände sind schandbar, erniedrigend, unerträglich."
Die Reichskronen-Rede zurück Zu Friedenszeiten genossen die Bürger in der Reichskrone Theater- und Opernaufführungen oder Konzerte. Vorträge fanden hier statt. Man hörte von manch anderen lustigen Beisammensein. Am 23. November 1918 drängte sich hier die größte Volksversammlung Stadtgeschichte zusammen. Für den 16. Januar 1919, nachmittags 1/2 4 Uhr, kündigt Sr. Erz. von Liebert in der Reichskrone einen Vortrag über Einst und Jetzt an. Am 14. November 1919, abends 8 Uhr, spricht im Großen Saal auf einer Öffentlichen Frauenversammlung Frau Marie Wackwitz (1865-1930) aus Dresden, die bisher im Raum Weißenfels für die SPD / USPD aktiv, über Frauenwahlrecht und Nationalversammlung.
Zum
lädt der Vorsitzende der Ortsgruppe der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) Naumburg Doktor med. Jebsen zur Wahlkampfveranstaltung in die Reichskrone am Bismarckplatz (Bild) ein. Hier referiert 8 Uhr abends Arthur Graf von Posadowsky-Wehner
Der an den Seiten in drei Stockwerke untergliederte Große Saal misst in der Fläche 18 mal 22 Meter und ist 13,5 Meter hoch. Er ist proppenvoll. Der Referent wird freundlich empfangen. Geachtet und Anerkannt, versteht er sich auf den Streit der Parteien und das Gespräch mit den Bürgern, weicht ihren akuten Sorgen nicht aus. Lebhafter Beifall begleitet ihn zur Tribüne. Erst am 17. März 1918 verschaffte er sich in der deutschen Öffentlichkeit mit dem Statement Gehör: "Das deutsche Volk fühlt sich um die Hoffnungen auf einen gerechten Frieden, die uns die Revolutionsregierung gemacht, betrogen." Was wird er heute dazu sagen?
Worüber wird der DNVP-Kandidat für die Nationalversammlung sprechen? Graf von Posadowsky hebt zum Vortrag an:
Deutschland baute bekanntlich mit viel Kraft und Geld eine Flotte auf. "Nach dem Ausscheiden des Fürsten Bismarck, fuhren wir mit vollen Segeln in die Weltpolitik. Wir suchten uns eine starke Flotte zu schaffen und einen grossen Kolonialbesitz zu erwerben." Es stiegen die Heeresausgaben. Sich schnell wiederholende Flottenvorlagen wurden damit begründet, "unseren Handel zu schützen. Im Frieden hat unser Handel, ....., des Schutzes einer Schlachtflotte nicht bedurft." - Wir erinnern uns, darüber dachte er einst etwas anders. Es war am 14. Dezember 1899 im Reichstag als er mit Eugen Richter um die Flottenvermehrung stritt. Jemand mit einer "starke(n) Waffe in der Hand", wer seine Überzeugung, wird anders behandelt als der "Waffenlose". England, fährt er fort, war die deutsche Flotte im Krieg zahlenmässig nicht gewachsen. Die Flotte konnte "keine ihrer Aufgaben lösen". Sie konnte weder unseren Handel schützen noch zur Verteidigung der Kolonien beitragen. Damit nicht genug. Nicht mal die Überführung der Truppen der feindlichen Länder auf die belgischen und französischen Schlachtfelder verhinderte sie. So war die Flottenrüstung völlig umsonst. "Man kann sehr zweifelhaft sein, ob es richtig war, durch den unbeschränkten U-Boot-Krieg uns die gewaltige wirtschaftliche und finanzielle Macht Amerikas zu offenem Feinde zu machen; die U-Boot-Waffe hatte aber grossen Erfolg, wenn auch nicht den erhofften und in bestimmter Aussicht gestellten Erfolg ...." Besser wäre gewesen, den Bau von U-Booten nicht so zögerlich und spät zu betreiben. Dann hätte "das Resultat des Weltkrieges ein wesentlich anderes" sein können. Deutschland leitete eine verfehlte Kolonialpolitik. Der Wunsch nach Kolonien erschien oberflächlich betrachtet wirtschaftlich verständlich. "Die Begründung aber, dass wir Kolonien haben müssten, um dorthin unseren Menschenüberfluss abzuführen und dem Vaterlande zu erhalten, war für ein Land wie Deutschland, welches jährlich 1 ¼ Million fremder Arbeiter einführte, um seine Bergwerke auszubauen, seine Fabriken zu betreiben und den deutschen Acker zu bestellen, tatsächlich unrichtig." "Es würde sich empfehlen, bei den Friedensverhandlungen zu versuchen, unsere Kolonien, teilweise wenigstens, gegen ein geschlossenes Kolonialgebiet einzutauschen." "Wollten wir erfolgreich Weltpolitik treiben, so durften wir uns bei der Annexion Bosniens und der Herzegowina nicht als Sturmbock Oesterreichs gegen Russland ausnutzen lassen." "Heute kann kein Zweifel mehr darüber sein, dass diese verfehlte Weltpolitik die Möglichkeit geschaffen hat, einen Ring von Feinden um uns zu schmieden, der schliesslich droht, zur Sklavenfessel für uns zu werden." Das System des multilateralen Bündnisgeflechts war die entscheidende Ursache für die unheilvolle Entwicklung zum Weltkrieg. Vom Völkerbund erwartet und verlangt er in einer Rede vom Oktober 1918, eine wirksame Verhinderung von Kriegen. Er plädiert dafür, dass die Kriegserklärung nur mit Zustimmung des Reichstages erfolgen darf. In einem parlamentarisch regierten Staat darf, was die Stellung der Regierung stärkt, das nicht anders sein. (Posa RT 23.10.1918, 6202) Deutschland darf seine nationalen Kräfte nicht überschätzen, lautet eine zentrale Aussage der Reichskronen-Rede. Deshalb muss es der Rüstungs-, Kolonial- und Außenpolitik Fesseln anlegen. Dass der Referent des Abends sich den Ursachen des Krieges, was zwangsläufig zur deutschen Flotten-, Welt- und Hegemonialpolitik führt, in der kaisertreuen Stadt Naumburg so forsch zuwandte, hatte die Mehrheit irm Großen Reichskronensaal vielleicht nicht erwartet. Aus übergeodneter Perspektive betrachtet, war es zunächst der rhetorische Versuch aus dem Niedergang, der Isolierung Deutschlands und Hoffnungslosigkeit auszubrechen. Ungeachtet dessen, werden einige Problemfelder sichtbar. [1. Kriegsschuldfrage] Im überlieferten Referat taucht die Kriegsschuldfrage nicht auf. Wahrscheinlich opferten die Redakteure diese Textpassage der Schere. Denn eine entsprechende Stelle findet sich im Manuskript der Posadowsky-Rede vom 14. Februar 1919 (82) als DNVP-Faktionsvorsitzender in der Nationalversammlung, wo es heißt:
[2. Überfordert] Daß mit den Kriegsplänen und der Flottenrüstung ü b e r f o r d e r t e Deutschland, findet nicht genügend Aufmerksamkeit. Zwar erörtert der Redner diese Frage im Zusammenhang mit der Kolonialpolitik, aber sie hätte es vertragen, insgesamt auf die Finanz-, Haushalt- und Geldpolitik des Staates erweitert zu werden. [3. Deutschlands Verhältnis zu ....] Posadowsky drehte an diesem Abend die alte Walze vom britischen Handelsneid, dem französischen Revanchestreben und russischen Panslawismus ab. Es ist das Vokabular von Friedrich Meinecke (1862-1954) im Aufsatz "Deutscher Friede und deutscher Krieg", veröffentlicht am 17. September 1914 in Die Hilfe: Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und geistige Bewegung, wo Sentenzen, wie "zügellose Leidenschaft des Panslavismus", "Rachelust der Franzosen" und "kalt berechenbare Krämerleidenschaft der Engländer" umherflattern. Wollte man das deutsche Verhältnis zu Frankreich und Russland im neuen Licht betrachten, könnte man, trotz Rücksichtnahme auf die Psychologie des Reichskronen-Publikums, beispielsweise auf die geopolitische Lage Deutschlands um 1871 eingehen, als es sich das Elsaß nahm und Rußland Rückendeckung gab. [4. England-Politik] Dass die Flottenrüstung den Wünschen des Kaisers diente, um England in die Neutralität zu zwingen, lässt der Referent beiseite und erfasst damit nicht genügend die Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen den Mittelmächten als Reaktion auf die deutsche Welt- und Hegemonialpolitik. "Die Entwicklung zum Weltkriege", erhärtet Paul Rohrbach in Woher es kam 1919, "geht in ihren Anfängen auf die von uns in den Jahren 1900 und 1901 getroffenen Entscheidungen gegenüber England zurück." [5. Ablehnung der Weltpolitik] "Ich habe oft bedauert," erklärte Posadowsky (RT 23.10.1918, 6202) im Oktober 1918 zur Weltpolitik, "dass der Reichstag von seinen Machtmitteln nicht entschiedeneren Gerbrauch gemacht hat auf den Gebieten, die die Grundlage bildeten für eine meines Erachtens vollkommen verfehlten Weltpolitik." - Ja. - Aber seinerzeit unterstützte er die Flottenrüstung, ja sogar international die Notwendigkeit der Darstellung einer überlegenen Waffengewalt, um Ansehen zu erringen und sie in den Dienst des Handels stellen zu können. Er ist auf dem Weg diesen Zweck von militärischer Gewalt zu ächten. Dies wird in den nächsten Jahren noch deutlicher in seinen Betrachtungen und Folgerungen zur den staatliche organisierten Feindbildern. [6. Verhängnisvolle Bündnismechanik] Manchmal blieb er in althergebrachten Schöpfungen der wilhelminischen Weltpolitik stecken. Dann wieder überschritt er sie deutlich, speziell in der Kritik der Bündnismechanik, wenn er einschätzt: Deutschlands Einlassungen gegenüber gegen Österreich-Ungarn im Juli / August 1914 waren nicht klug. Doch Serbien "sollte verschwinden", es stört in den Augen der deutschen Führung in Europa, womit zwangsläufig das Sicherheitsinteresse von Russland initialisiert.
Nicht alle Feuer konnte der DNVP-Redner, was in den Tagen der Revolution kaum jemand erwartete, mit einer zweistündigen Rede löschen. So war die Überraschung nicht gar zu groß, als sich tags darauf aus der Zuhörerschaft ein Deutschdemokrat mit einer
meldet. Er wirft, wie am 17. Januar im Naumburger Tageblatt zu lesen, der DNVP vor, dass sie bestimmte politische Abteilungen mit dem Schlagwort "Schutzzollfeinde" angreift und auf Versammlungen über Land Bauernfang betreibt. Dies ist deplatziert und weltfremd, weil die Bevölkerung darauf angewiesen ist, dass Lebensmittel und Rohstoffe in das Land fliessen. Um dies zu erhärten, verweist der unerwartete Diskussionspartner auf den Zusammenhang zur sozialen Frage: "Wir alle wissen, unser Brot reicht nicht bis zur nächsten Ernte und auch später nicht. Unsere Kranken können nur nach langen zeitraubenden Laufereien auf Grund eines ärztlichen Attestes eine weiße Semmel bekommen, dass Kind bekommt nur ganz wenig, der Säugling ungenügend Milch, Fett fehlt gänzlich. Der Krieg hat alle Handelsbeziehungen aufgelöst. Der Feind blockiert uns und die Entente hat`s Wort. Und da wagt es jemand, eine solche Frage aufzuwerfen. Ja, kennen denn diese Leute noch immer nicht die Not der Zeit? Wissen sie allein nicht, dass Hungerrevolten kommen müssen, wenn das Ausland nicht bald und reichlich hilft? Sind diese Leute selbst so satt, dass sie die Not ihres Volkes übersehen? Herr Graf! Man sagt ihnen nach, dass sie von jeher sich von vielen ihrer Standesgenossen vor allem dadurch ausgezeichnet hätten, dass sie ein Herz für das Volk und Verständnis für die Nöte derselben gehabt hätten, dass sie gewußt hätten, was die Stunde erfordert." Zum Schluss klärte es sich auf, der Referent gebrauchte die irreführende Formulierung von den "Schutzzollfeinden". Ungleich wichtiger als diese Kontroverse war, dass Posadowsky am 15. Januar 1919 in der Reichskrone zu Naumburg die deutsche Machtfrage formulierte:
Vier Tage später finden die ersten Wahlen zur Nationalversammlung statt. Für die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) stimmen national 10,3 Prozent und in Naumburg 21,8 Prozent der Wähler.
Neben der Machtfrage verdient ein zweites historisches Moment der Reichskronen-Rede Würdigung: Die Versammlungsteilnehmer hörten eine ehrliche und tiefgreifende Analyse zur Politik des wilhelminischen Kaiserreichs. Dies war nicht selbstverständlich. "Die Deutschen der Weimarer Republik scheuten sich," erinnert 1987 Wolfgang J. Mommsen (110) an die ansonsten im Ganzen ausbleibende Geschichtsbewältigung in Deutschland, "der eigenen jüngeren Vergangenheit mit offenem Visier entgegenzutreten und waren schon deshalb nicht in der Lage, kritisch mit den Fehlern des Kaiserreichs abzurechnen und daraus die entsprechenden Schlussfolgerungen zu ziehen". Wozu viele konservative Politiker weder willens noch fähig waren, Graf Posadowsky fand den Mut und schaffte es: Aus Anlaß der bevorstehenden Reichstagswahlen rechnete er in der Reichskrone mit der Welt-, Flotten- und Kolonialpolitik von Wilhelm II. (1859-1941) ab. Nicht in umfassender Weise, wer könnte das? Doch im Geist vereint mit dem reformfreundlichen konservativen Bürgertum, macht er sich auf den Weg in die Republik. Und darauf kam es in dieser Stunde der Geschichte an. Das wird kein einfacher Weg. Ihm ist klar, die Parteizersplitterung erlaubt es nicht, "eine klare grundsätzliche Politik durchzuführen". Zurzeit ist jede Partei gezwungen, wenn Deutschland nicht in einen geradezu zerrüttenden fortgesetzten Wechsel der Regierung stürzen soll, selbst unliebsame Regierungsbildungen zu stützen. "Eine Partei, die sich dieser Not der Tatsachen nicht fügen will, muss über eine Volksmehrheit verfügen, die zur Herstellung einer anderen Regierungsform gewillt ist; solange diese Voraussetzung fehlt, ist der rücksichtslose Kampf gegen jede Regierung, die den eigenen Parteiauffassungen widerspricht, mehr Wahl- als Staatspolitik." (Posa: Rechts oder links, 182 f.)
Oppositionsführer in der Nationalversammlung zurück Arthur Graf von Posadowsky-Wehner unterliegt am 11. Februar 1919 in der Wahl zum Reichspräsidenten dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert mit 49 gegen 277 Stimmen der Weimarer Koalition (SPD, Zentrumspartei, DDP). Drei Tage darauf hält er als DNVP-Fraktionssprecher im Nationaltheater zu Weimar, dem Tagungsort der Nationalversammlung, die Gegenrede.
Was kann, was muss der Bürger und Parlamentarier angesichts der tiefen politischen Krise des Konservatismus und desolaten Lage der bürgerlichen Parteien von ihm erwarten? Verheddert sich der Dreiundsiebzigjährige in programmatische Debatten? Oder ufert alles in Anwürfen oder personellen Streitereien aus? Die Parteien müssen, um das Land aus der Krise zu führen, jetzt ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis stellen, forderte am 17. Januar 1917 in Stuttgart Theodor Heuss vor der Deutschen Demokratischen Partei. Darauf ist die DNVP aber nicht vorbereitet. Was kann der Graf in dieser wahrlich historischen Situation vor der Weimarer Nationalversammlung leisten? Er beginnt: "Wir haben in den letzten vier Jahren Gewaltiges und Furchtbares erlebt, und wie steht es jetzt? Die staatliche und bürgerliche Ordnung ist auf das schwerste gestört und fortgesetzt gefährdet." Die Staatsfinanzen sind schwer in Unordnung. Das Verkehrswesen liegt danieder. Unsere Ernährung ist bedroht. Das Wirtschaftsleben ist gelähmt. Die Waffenstillstandsbedingungen lassen alle Gerechtigkeit vermissen. Als Staatsform muss sich die Demokratie in Deutschland erst bewähren. Unversehens tauschten die Sozialdemokraten 1919 beim Aufbau der Republik den Widerspruchsgeist zum Klassenstaat gegen den grenzenlosen Glauben an die heilende Wirkung der Legalität demokratischen Handelns. Daß bei einem Großteil der regierenden Linken hierzu kein ausreichendes Problembewusstsein bestand, gehört zu den tragischen Umständen des politischen Fortschritts dieser Jahre. Im alten System erblickt er weder einen Obrigkeitsstaat noch staatliche Gewaltherrschaft. Ja bitte, spricht der Oppositionsführer die Regierung freundlich an, es gibt keinen Staat, der auf eine Obrigkeit als Führungsschicht verzichten kann, bildet sie doch die "Grundlage jeder kultivierten Staatsverfassung". Aus dem Saal hört man jetzt Rufe wie: Kastenregierung, Obrigkeitsstaat, Junkerherrschaft. Flugs notiert er den Genossen auf der Regierungsbank den Merksatz ins Poesiealbum:
Bezogen auf ihre Karriere als Abgeordnete, mag er es getroffen haben, nicht aber mit Blick auf die Gesellschaft als Ganzes. "Die Regierung machte ausgiebig von ihrem Recht Gebrauch," skizziert 1987 John C. G. Röhl (147), "qualifizierte Kandidaten aus politischen oder anderen Gründen abzulehnen." ".... in der Praxis wurden mehr als die Hälfte aller Bürger aus Gründen, die nichts mit ihrer Befähigung zu tun hatten, ausgeschlossen." [Zweikampf Posadowsky-Juchacz zurück] Im angeblichen "Zustand der Freiheit", klagt er der Nationalversammlung, müssen wir "gewaltsame Eingriffe in die Rechtsordnung erleben. Fortgesetzt werden Gesetze verletzt, die Presse wird durch Gewalt unterdrückt, Versammlungen werden gesprengt, die freie Meinungsäußerung wird unterdrückt." Unter der neuen Freiheit registrieren die Bürger, beanstandet der Oppositionsführer, "gewaltsame Eingriffe in die Rechtssphäre". Reichspräsident Ebert sprach hier von "Kinderkrankheiten". "Es mag sein", lenkt er etwas ein, "aber diese Kinderkrankheit dauert nun schon drei Monate, und das finde ich etwas lang." (14.2.1919, 83) Ein typischer Einwurf, der erkennen läst, dass die Frage der Demokratie sich jetzt in der Einhaltung des Rechts und Pflege des Rechtsbewußtseins bewähren muss. Marie Juchacz lässt ihm die Angriffe nicht durchgehen und stellt die Frage, wo war den Pressefreiheit während des Krieges? Eine durchschlagende Wirkung erzielt sie damit nicht, schließlich gehört sie als SPD-Abgeordnete zur politischen Hintergrund-Abteilung des Kabinetts Scheidemann, bestehend aus Zentrum, Deutsche Demokratischer Partei, einem Parteilosen und SPD (also: 7 SPD, 3 Zentrum, 3 DDP, 1 Parteiloser). Keine Partei existiert und arbeitet ohne Ideologie. Den Konsequenzen muss die ParteiGenossin huldigen. Hingegen erkannte Posadowsky früh die Deformationskräfte der Parteien und entzog sich ihnen so gut er konnte. ". Was sind parlamentarische Reden wert, wenn nicht Staatsweisheit dahintersteht und ein sittliches Rechtsbewusstsein?", fasst er seine Erfahrungen am 27. Februar 1929 als Abgeordneter den Preußischen Landtag zusammen. In der Politik, dass ist seine Überzeugung, muss die Wahrheit unbedingt leitender Grundsatz sein. Ihm wird unheimlich, wenn er daran denkt, dass "parlamentarische Politiker" "aus wahltaktischen Gründen, häufig zu sehr auf wechselnde und irrende Volksbestimmungen zu hören" pflegen, "statt unter Umständen auf Gedeih und Verderb auch gegen den Strom anzugehen." (1932, 227) Wesentlich ungünstiger verläuft für Posa der Zweikampf in der Runde zum Junkertum. Sofort trumpft die SPD-Frau auf: "Was ist unter Junkerherrschaft zu verstehen? (Lachen bei den Soz.) Das weiß alle Welt (Sehr richtig!) ...." Ihre Frage deutet auf die Schwäche im Vortrag hin und läuft in der Anklage zusammen: "Der Einfluss der Junker war stets stärker, als er ihnen zahlenmäßig gebührte." (Juchacz) Als Sozialistin erwartet sie eine durchdachte Haltung zum Junkertum. Posadowsky pflegte mit ihm keinen geistig liederlichen Umgang. Ein Junker-Knecht wäre kaum in der Lage den Ersten Hauptsatz der Sozialpolitik zu formulieren. Er trat ihnen in der Frage des Zolltarifs auf den Hühneraugen rum, schilderte im April 1902 Franz Mehring in "Posadowskys Osterfahrt" sein Engagement. Warum verteidigt er sich nicht aktiv? Es entsteht der Eindruck, dass sich der Oppositionsführer kampflos dem Angriff von Marie Juchacz ergibt. Eine neue Runde im Zweikampf läutet Posa`s Frage ein: Warum musste Deutschland die Bedingungen des Waffenstillstandes annehmen?, worauf Frau Juchacz antwortet: "Weil dieser Krieg durch ihre Politik bis zum moralischen Zusammenbruch unseres Volkes geführt hat." Wahr ist, Posadowsky trat für den Siegfrieden ein. Würde er verwirklicht, kostete dies tausende Menschenopfer. Doch an der Politik bis zum moralischen Zusammenbruch, war die Sozialdemokratie, wie der Fall Paul Lensch zutage förderte, beteiligt und mitverantwortlich. Prompt verschluckt die SPD-Abgeordnete nun einige klärende Worte. Doch es ist bekannt, "Erst nach dem Ausbruch der russischen Februarrevolution griff Scheidemann unter dem Druck der in Bewegung geratenen Arbeiterschaft die russische Formel "Keine Annexion und Kontributionen" auf und propagiert sie nachdrücklich, daß sie von nun an zur Bezeichnung eines "Verzichts" diente." (Fritz Fischer 150) [Kriegsschuldfrage zurück] Dann biegt die Rede zur Kriegsschuldfrage ein. "Wir lehnen es .... ab," stellt er in unnachgiebiger Tonlage fest, "die Schuld des Krieges auf Deutschland zu schieben." "Dieser Krieg ist aus dem übelwollen unsere Feinde fast automatisch entstanden. Nur aus diesem verschiedenen Gründen konnte sich dieser Ring bilden, der jetzt allerdings droht, für uns zu einer wahren Sklavenfessel zu werden. Ich halte es aber für die größte Ungerechtigkeit und Lüge, wenn unsere Gegner fortgesetzt wiederholen: Deutschland hat den Krieg gewollt. Deutschland hat den Krieg nicht gewollt, weder die deutsche Regierung nicht das deutsche Volk. (Lebhafte Zustimmung rechts)" Ansonsten darf man im außenpolitischen Teil der Weimarer-Rede, den über die Aufgaben der Opposition weit hinausreichenden Versuch sehen, dass allgemeine deutsche Staatsbewußtsein zu stabilisieren. Wohl deshalb spendeten auch ab und an die Sozialdemokraten lebhaften Beifall, beispielsweise als er sagt:
[Exkurs: Spitzen beschneiden zurück] "Den Luxus," worauf Wilhelm Keil (1870-1968) besteht, "der bisher von einer kleinen Oberschicht unseres Volkes betrieben worden ist, kann sich unser verarmtes Volk in der Zukunft nicht mehr gestatten und nicht mehr ertragen." "Besonders auf dem Gebiet der Steuergesetzgebung werden wir Gelegenheit bekommen, sozialistische Gedanken zu vertreten," kündigt frohen Sinnes 1919 der SPD-Finanzexperte im Reichstag an. "Hier stehen wir vor geradezu gigantischen Aufgaben." Veränderungen auf diesem Gebiet waren unumgänglich, war doch die Kriegssteuerpolitik unbestreitbar "eine verfehlte, nicht nur, weil sie den Grundsätzen der Gerechtigkeit nicht entsprach, sondern weil mit der Schonung, die sie dem Besitz gewährte, eine kriegsverlängernde Wirkung verbunden war." Noch am selben Tag wie Posadowsky trat der SPD-Reichstagsabgeordnete an das Rednerpult und veranschaulichte zügig, wie sich das die SPD vorstellte:
[Dreiklassenwahlrecht zurück] Weiter fließt die Weimarer Rede des Fraktionsvorsitzenden der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und erreicht das Thema Demokratie. Offenbar fällt ihn der Abschied vom preußischen Dreiklassenwahlrecht nicht leicht, wenn er noch am 7. Oktober 1919 (5) vor der Nationalversammlung erklärt, dass die konstitutionelle Monarchie die beste und sicherste Staatsmaschine sei und rekapituliert:
Im Allgemeinen begründen die Konservativen die Ablehnung des gleichen und allgemeinen Wahlrechts mit der Verletzung des Leistungsprinzips und argumentieren:
Typisch für die Konservativen ist ihre Frage, ob das allgemeine und gleiche Wahlrecht wirklich den Volkswillen abbildet? Und wenn, ist es dann eine geeignete Grundlage für staatspolitische Entscheidungen? Thomas Mann warnt 1918 in den Betrachtungen eines Unpolitischen (394) vor dem demokratischen Votum: "Eine mechanisch demokratische Abstimmung im dritten Kriegsjahr würde mit kläglicher Wahrscheinlichkeit eine erdrückende Majorität zugunsten eines sofortigen und bedingungslosen, dass heißt ruinösen Frieden ergeben." Mitnichten verkörpert deshalb das Prinzip der Volksabstimmung (280 ff.) den Willen des Volkes. Als Ersatz für demokratische Idee fungiert hier die Bismarcksche Fürstenversammlung von 1870, eine Form von verstaatlichter Demokratie, wo es am Ende nur auf Eins ankam:
"Kein Volk eignet sich so wenig für die parlamentarische Regierungsform," behauptet Posadowsky 1920 in Der starke Mann (18),
Dies könnte den Eindruck erwecken, was aber nicht zutrifft, als wenn er der Demokratisierung und Parlamentarisierung der deutschen Gesellschaft distanziert oder ablehnend gegenüber steht. Zur Demokratie gehört der Wille und das Bewußtsein eines rechtsstaatlichen Umgangs mit dem politischen Gegner, wozu bekannte. Überdies äußern sich in anderen Zusammenhängen Züge seines demokratischen Bewußtseins. Allerdings verschwimmen In seinen Darlegungen, spontanen Äußerungen und Reden zum Thema Demokratie und Wahlrecht nach 1918 die aktuell politische Haltung öfter mit den parlamentarischen Erfahrungen der Kaiserzeit. Das erleichtert eine differenzierte Darstellung seiner Auffassungen nicht gerade. Doch erkennbar ist, dass er sich nach der Revolution auf den Hintergrund der Debatten zur Reform des Wahlrechts im Reichstag und im preußischen Abgeordnetenhaus zum neuen Wahlrecht durchringt und das Dreiklassenwahlrecht endgültig innerlich verabschiedet. [Hauptsache keine kommunistischen Experimente zurück] Bereits im Dezember `18 dünkt ihn, der "bevorstehende Friede droht uns mit fürchterlichen Prüfungen". Er meint damit nicht "Versailles", sondern eine kommunistische Steuergesetzgebung, eine Vorstellung, die ihn innerlich in Panik versetzen kann. Denn sie läuft seiner Überzeugung der Erfahrung zuwider:
Das "müsste schließlich den Niederbruch des Kulturlebens für alle Schichten der Gesellschaft herbeiführen". Man darf, warnt er, das Kapital nicht "wegsteuern". Andernfalls würde dies "schließlich den Niederbruch des Kulturlebens für alle Schichten der Gesellschaft herbeiführen". Aber das Kapital darf auch nicht flüchten und sich der nationalen Verantwortung entziehen. Die finanziellen Heilmittel liegen seiner Meinung nach in der Vereinfachung der Staatsregierung, "in der Streichung aller Ausgaben, die nicht auf erworbenen Rechten beruhen" (Weltwende 52). Vor 1918 herrschte nach seiner Ansicht nicht der Militarismus, doch ist er jetzt in Gestalt der Arbeiter- und Soldatenräte "in der weitesten Form zur Macht gelangt". Hauptsache, so seine Devise,
Die Arbeiter- und Soldatenräte, die "fortgesetzt in die lokale Verwaltung" eingreifen und zur "Desorganisation" beitragen, sind unerwünscht. Wir wollen keine Zustände wie in England, äußerte er bereits am 17. Januar 1896 der Reichstagssitzung. "Dort wollen die organisierten Arbeiter bestimmen, wen der Unternehmer zu beschäftigen hat. Das kann kein Vorbild für uns sein. Dann ist ja der Besitzer der Fabrik nicht mehr Eigenthümer der Fabrik, sondern die Fabrik ist Kollektiveigenthum." Die Arbeiter und Angestellten in größeren Betrieben solen auch ein Organ haben", das ihre Rechte in geordneter Weise vertritt. (Posa RT 7.10.1919, 2898) Das Betriebsrätegesetz ist vernünftig, doch dürfen die Arbeitnehmer nicht "in die Art des Betriebes selbst hineinsprechen können, dass ihnen die Bilanzen vorgelegt werden müssen." Maximal unbeliebt machte er sich bei den Arbeitern mit seiner Haltung zur Akkordarbeit und widersprach ihren Erwartungen: Sie kann "in Großbetrieben nicht entbehrt werden, und wenn man das Schlagwort geprägt hat: "Akkordarbeit- Mordarbeit", so trifft das für Deutschland nicht zu." (2895) Die Vergesellschaftung der Betriebe ist für den DNVP-Frontmann eine Frage, ob dadurch "die Produkte billiger und besser gestaltet" werden können. Es dürfe keine "unsinnigen Lohnsteigerungen" geben, weil das zur Inflation führt. Drohungen gegen das "arbeitslose Einkommen" sind volkswirtschaftlich gefährlich und zersetzend, denn die Betriebe benötigen dringend Kredite und Investitionen. Deshalb darf man das Kapital nicht wegsteuern.
Unter F ü h r u n g von Arthur Graf von Posadowsky-Wehner will die Fraktion der Deutschnationalen Volkspartei in der Nationalversammlung helfen, die wirtschaftliche Katastrophe abzuwenden. "Wir werden daher", sichert der Oppositionsführer zu, "an der Wiederaufrichtung des Vaterlandes sachlich und gewissenhaft mitarbeiten. Den gewaltsamen Umsturz haben wir jederzeit verurteilt und halten auch jetzt . an dieser Auffassung fest." Teile der DNVP-Führung, Mitglieder und ihre Multiplikatoren lassen sich davon nicht leiten. Im März 1920 organisieren sie den Kapp-Putsch oder beteiligen sich aktiv daran.
Am 5. November 1919 tagt in den Thaliasälen von Halle, Geiststraße 42, der 1. Landesparteitag der Deutschnationalen Volkspartei. Die Eröffnungsansprache hält Exzellenz Generalleutnant Lothar von Trotha. Neben Rektor Hermann aus Naumburg und Arthur Graf von Posadowsky-Wehner, der zu Verfassungsfragen spricht, sind weitere bekannte Persönlichkeiten als Referenten erschienen, zum Beispiel der Russland-Experte Professor Otto Hoetzsch (Russland als Gegner Deutschlands) und Kuno Graf von Westarp.
Posadowsky und die konservative Ideologie zurück Wer wollte sich nach Gaskrieg und Verdun dazu aufschwingen, den Staat als eine die Vernunft entfaltende Idee, der Recht von Unrecht scheiden kann, anzuschauen? Nach dem verlorenen Krieg bricht in Deutschland das System bürgerlicher Werte zusammen. Die wilhelminische Staatsidee, Kernbereich konservativen Denkens, ist im Ganzen moralisch abgeschrieben. An dessen Stelle schiebt sich das Völkische. Die Konservativen, ahnt Theodor Heuss 1919, haben uns über das neue Reich nichts mehr zu sagen. ".... und das Vaterländische zu einer Spielart der Parteimeinung zu machen, dürfte doch nach diesem Krieg nicht mehr erlaubt sein." (Heuss 19.1.1919, 870). Ein Irrtum, wie sich bald herausstellen wird. Aus der im Bürgertum verbreiteten Unsicherheit im Umgang mit der deutschen Kriegsniederlage und Wut auf den Versailler Vertrag entsteht und stabilisiert sich der Völkisch-soziale Block und die Deutschnationale Volkspartei Partei (DNVP), die von den Vaterländischen Verbänden unterstützt werden. Sind das im Verständnis von Posadowsky die neuen Konservativen? Oftmals tut man so, als ob die Frage problemlos zu beantworten wäre. Ebenso oft redet man aneinander vorbei. Um nicht Missverständnisse hochkommen zu lassen, ist es zweckmäßig, die Facetten, Wesensart und Werte des konservativen Weltbildes und Denkens kurz zu rekapitulieren:
Einige klassische Normen des konservativen Denkens, wie der Stolz auf die deutsche Nation oder das pietätvolle Verhältnis, verinnerlichte Posadowsky. Entscheidend ist jedoch, was er im Oktober 1919 in der Nationalversammlung ausführt: "Wir müssen es auch ablehnen, das wir immer mit der alten konservativen Partei identifiziert werden. . Meine Herren das lehnen wir ab. Ich habe nie der alten konservativen Partei angehört, und bin gegenwärtig Vorsitzender der Deutschnationalen Fraktion." (Posa RT 7.10.1919, 2898) Trotzdem ist damit sein konservativer Typus noch immer nicht hinreichend beschrieben. Eine Möglichkeit, und vielleicht die letzte überhaupt, diese Schwierigkeiten zu überwinden, bietet die Erarbeitung einer genetischen Definition. Zu diesem Zweck müssen vermittels eines kurzen Beobachtungsprotokolls die Aktivitäten der verschiedenen Richtungen und Schattierungen des Konservatismus, seine Werte, Ambitionen und politischen Ziele, beschrieben werden, um dann zu erkunden, welche Konzepte oder Impulse er überhaupt aufnimmt und woran er sich beteiligt? Auf welche Wertorientierungen stützt er sich und von welchen grenzt er sich ab? In der Arbeitsphase der Analyse verdichten sich die Ergebnisse - hoffentlich - zu einem begrifflichen Verständnis des konservativen Denkens. [Das Dritte Reich zurück] Einen Ansatz zur Überwindung der Identitätskrise des konservativen Denkens entwirft und popularisiert 1923 Arthur Moeller van den Bruck (1876-1925) mit der Idee des Dritten Reiches. Eudomisten und Opportunisten versicherten ihn zu seiner großen Verwunderung, dass dieses bereits aus den Trümmern des 9. November hervorgegangen ist. Warum, fragt er, sind dann die Parlamente lediglich Sprechart des politischen Lebens, statt Tatwort zu sein? Das kann also nicht sein! Und er zerpflückt im Brief an Heinrich von Gleichen vom Dezember 1922 diese Erzählung. Wer öffentlich politisch tätig sein will, der muss sich den Parteien anschließen. So schaffen diese Organisationen den Parteienmenschen und verleiben sich den politischen Menschen ein, weshalb Moeller van den Bruck sie weltanschaulich zertrümmern will. An ihre Stelle tritt die Idee vom Dritten Reich. Posadowsky lehnt die konservative Revolution ab, betrachtet indes die Arbeitsweise der Parteien kritisch, stärkt aber aus der Einsicht für die Konstituierung des Parlamentarismus ihre gesellschaftliche Stellung. Mit der Französischen Revolution kommt die Welt zum Sieg, schreibt 1972 (11) Armin Mohler, die der "konservativen Revolution" eigentliche Gegner ist, weil sie nicht "das Unveränderliche im Menschen" "in den Mittelpunkt stellt, sondern glaubt das Wesen des Menschen verändern zu können". Ein Anschluss an die Konservative Revolution durch Posadowsky ist insoweit ein kleines Stück vorstellbar, weil er die gesellschaftspolitisch radikalen Tendenzen der Französischen Revolution ablehnt. Sein Ziel ist die Unveränderlichkeit der Verhältnisse, sondern ihre soziale und ökonomische Entwicklung. Diese Menschen- und Gesellschaftsbild gründet auf ein dem konkreten ökonomischen Niveau der Produktivität der Arbeit angemessene stufenweise Höherentwicklung der sozialen Welt. Bei der Dienstbarmachung der Kräfte der Natur zum Besten der Menschheit misst er den Natur- und Technikwissenschaften eine herausragende Rolle zu. Die Höherentwicklung der Gesellschaft gilt ihm durch die Überzeugung von der Beständigkeit der Naturgesetze und der Akkumulation des natur- und technikwissenschaftlichen Wissens als verbürgt. [Erzieher der ganzen Menschheit zurück] In den "Betrachtungen eines Unpolitischen" (257) lockt Thomas Mann die Konservativen auf einen anderen Irrweg. Er behauptet, der Deutsche ist "kein Figurant, kein soziales oder politisches Tier im Sinne der Franzosen". Er ist ein "Charaktermensch" (Mann). "Die deutsche Nation kann keinen Charakter im Sinne der anderen Nationen haben, da sie sich durch die Literatur, durch Vernunftbildung zu einem Weltvolke generalisiert und geläutert hat,
Es ist eine höchst befremdliche konservative Weltbetrachtung am Ende des Weltkrieges, der Posadowsky die Verbeugung verweigert. [Völkisch-alldeutscher Konservatismus zurück] Die Synthese von kanonisierter Wehrhaftmachung, Forderung nach der Revision europäischer Verhältnisse und Verdammung des Westens bildet im Kraftfeld der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) um Georg Schiele in Naumburg eine weitere Abteilung der Konservativen in völkisch-alldeutscher Tracht. Sie ist politisch nicht konsens- und gesellschaftsfähig, charakterisiert sie im Jenaer Volksblatt vom 29. August 1928 Posadowsky als Politik der krassesten Widersprüche.
[Glühende Vaterländer zurück] Zusammen mit den Vaterländischen Verbänden und wilhelminischen Generälen feiert am 11. Mai 1924 der Stahlhelm in Halle zum Deutsche Tag die Einweihung des Moltke-Denkmals. Wir sind wieder wer!, lautet die Botschaft des Marschblocks der 100 000 für Europa auf der Rennbahn . Jetzt beginnt der nationale Befreiungskampf und Umbau "zu einer Festung nationaler Ordnung" (Naumburger Tageblatt). Überall schwarzweißrote Fahnen und Blumen, Reichswehruniformen, Spielleute, Kommandeure und Wilhelms Generäle. Ein Grossfeldversuch für weitere Aufmärsche. Der sozialpsychologische Kompressions-Effekts formt die Bürger zu einer gedanklich trägen und einsichtslosen Masse, der ihren individuellen Willen und die Fähigkeit zur Einsicht schwächt, zugleich aber ihre Suggestibilität als Masse steigert, bis die Vernunft-Kraft des Einzelnen bricht und der Rausch beginnt. Sie lieben nicht den Triebverzicht, lautet 1927 die Diagnose von Sigmund Freud in Die Zukunft einer Illusion (241). Unvermeidliche Argumente überzeugen sie nicht. Vielmehr bestärken sie einander im Gewährenlassen ihrer Zügellosigkeit. Wollte Posadowsky etwa daran teilnehmen? Natürlich nicht, denn er sympathisiert nicht mit den republikfeindlichen Umtrieben des Stahlhelms und lehnt dessen Ziele und Machtambitionen ab. Er will eine stabile europäische Ordnung schaffen und die Feindbilder zwischen den Nationen abbauen. [Nationalbolschewismus zurück] Eine weitere Variante des Konservatismus dieser Zeit war der Nationalbolschewismus, dessen Narben in Naumburg und Umgebung mit dem historischen Blick noch immer sichtbar sind.
Im Umfeld der Einweihung des Löwen-Denkmal zu Ehren der gefallenen Korpsstudenten am 16. Oktober 1926 unweit von Bad Kösen, waren nationalbolschewistische Töne zu hören. Von Schmerzen gepeinigt, bäumt sich der Steinerne Löwe brüllend gegen den Westen auf. - Unter den Ehrengästen, die zu diesem Anlass reichlich erschienen, war Posadowsky nicht zu sehen. Ziemlich unerwartet stand die antiwestliche Bewegung nach der deutschen Revolution 1918/19 vor der Frage des Klassenkampfes. Konnte er vielleicht ein Durchgangsstadium zum Neubau der Nation sein? "Mit oder gegen Marx zur Deutschen Nation?", lautet die zentrale Frage über die der III. Reichskongresses der Kampfgemeinschaft revolutionärer Nationalsozialisten (KGRNS) am 8./9. Oktober 1932 zum Treffen auf der Leuchtenburg bei Kahla verhandelte. Adolf Reichwein schlug mit dem nationalen Sozialismus die Brücke zu den Nationalrevolutionären, die letztlich eine nationalsozialistische Oppositionsbewegung um Strasser war. Auch in Naumburg an der Saale hörte man den Ruf der "Schwarzen Front". Ihre "antitotalitäre Haltung" wollte "der realen Interessenpolarität in der Gesellschaft durch Repräsentation der Ansprüche der Unterschicht Ausdruck" verleihen. Das Besondere war, analysierte 1960 Wolfgang Abendroth (183), dass sie nicht die Beherrschung anderer Völker durch ein imperialistisches Deutschland anstrebte. Vereint vom Geist unterdrückter Nationen, kamen Vertreter von 140 Ortsgruppen der NSDAP, SPD, KPD und Jungendorganisationen zur Leuchtenburg. Mit dem Nationalbolschewismus liebäugelten Mitglieder der streng nationalen Familie und des Stahlhelms, einige Völkische, Alldeutsche und Nationalkonservative aus dem Heer. Den "Blick nach Osten" richten Freikorps-Männer, Revolutionäre Nationalsozialisten oder der Leuchtenburg-Kreis (1932). Nicht jedoch Posadowsky! Der bolschewistische Umgang mit dem Eigentum in der Sowjetunion und das brutale Verbot der Religionsfreiheit waren ihm höchst Suspekt. Motive des Nationalbolschewismus finden sich im Oktober 1929 im Widerstand gegen die Unterjochung Deutschlands durch den Young-Plan. Es war eine strategische Idee von Georg Schiele, die in exklusiven Kreisen antiwestliche Stellungen revitalisierte.
[Reaktionär-konservativer Kulturkampf zurück] Im Frühjahr 1930 organisiert die NSDAP-Ortsgruppe Naumburg den "Kulturkampf am Domgymnasium". Die Bannerträger der heldischen Weltauffassung finden sich in Naumburg (zum Beispiel) im Nationalsozialistischen Schülerbund zusammen. Um den verderblichen Einfluss der großstädtischen Literatur zurückzudrängen, ist zum 23. März 1930 in den Ratskeller von Naumburg Parteigenosse Papenbrock aus Weimar zum Vortrag einbestellt. Pflichtgemäß wetterte Friedrich Uebelhoer, später NSDAP-Kreisleiter und Oberbürgermeister von Naumburg, gegen die schmutzigen Machwerke der Judenliteraten und den Marxismus. Ging es nach ihnen, sollte der Kampf um Macht bald beginnen. Noch floß genügend heldisches Blut durch die Adern der Deutschen. Der phallische einzelne Held sah sich gern in sturmumbrauster Schlacht und genoss im Rausch des Kampfes den Tod. Es begann, was wenige Jahre später sich zum allmächtigen Topos der nationalsozialistischen Erziehungsideologie mauserte, die Entpersönlichung des Schülers durch Standardisierung des staatlich erwünschten Charakterbildes, dem später als politischen Bürger das Aufgehen in der Masse ein inneres Bedürfnis ist. Das war absolut mit dem Welt- und Gesellschaftsbild und den von Graf Posadowsky bekundeten Erziehungszielen der Jugend unvereinbar.
1932 entdeckt Doktor Andreas Grieser (1868-1955) seine Fähigkeit,
verbinden zu können. Für Posadowsky heisst "konservativ" nicht, "die Interessen und Überlieferungen einer Gesellschaftsklasse dauernd festlegen, konservativ im echten und staatsmännischen Sinne heißt vielmehr: den Staat und die Gesellschaft entsprechend den Anforderungen und Bedürfnissen der Zeit organisch fortzuentwickeln, damit allen Klassen der Bevölkerung die Überzeugung erhalten bleibt, dass der geschichtlich gewordne Staat nicht nur eine innere Notwendigkeit, sondern auch die höchste Wohltat für alle Gesellschaftsklassen ist." (Grieser 1932, 6) Auf diese Weise übernimmt der Staat den Schutz vor der Revolution, womit sich eine zentrale und fundamentale Erwartung der Konservativen erfüllt. Es ist zu verstehen und zutreffend, wenn die SPD "Volksstimme" aus Magdeburg am 25. Oktober 1932 im Rückblick auf das Schaffen von Graf Posadowsky feststellt:
Abkehr von der deutschnationalen Politik
Krisenbewältigung zurück Jetzt müssen die Folgen des Krieges bewältigt werden. Die positiven Ergebnisse der Revolution müssen institutionell implantiert und in der Verwaltung umgesetzt werden. Die Reichstagswahlen vom 6. Juni 1920 nimmt Posadowsky erleichtert auf, da sich die Deutsche Volkspartei (Gustav Stresemann, Rudolf Heinze) entschließt, der neuen Regierungsform beizutreten. Dem zollt er Lob und Anerkennung. Den Drehpunkt der Regierungsgeschehen verkörpert das Zentrum. Wohltuend daran für ihn, die sie begleitende Abneigung gegen radikale Wirtschaftsexperimente. Die rechtsstehende Deutschnationale Volkspartei (DNVP), repetiert er in "Rechts oder links" (1920), ist in die Gruppe Regierungsbildung nicht einbezogen. Entscheidend ist, "nur wenn unsere innere Staatsverwaltung
wird der Wert unserer Banknoten und damit ihre Kaufkraft wieder steigen. Hier muss die Heilung beginnen." (Totes Rennen 12.6.1920) Mit der Deutschnationalen Volkspartei ist dies, erkennt Posadowsky, nicht realisierbar.
Gegen die antisemitische Aufheizung zurück Die Deutschnationale Volkspartei, der Graf Posadowsky von 1919 bis etwa 1920 angehörte, war stark von antisemitisch denkenden Politikern und Personen durchsetzt. Dagegen steht seine Erklärung vom 18. Januar 1912 auf einer Wählerversammlung im großen Volkshaussaal (Bild) zu Jena: "Wer wirklich auf christlichen Boden steht, der muß wahre Toleranz üben gegen jede Religion und jede Konfession ( .). Ich gestehe das ganz offen, dass ich deshalb ein Gegner der antisemitischen Agitation bin ( .)." Gegen die antisemitische Aufheizung der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) unternahm Doktor Max Naumann (1875-1939), 1922 bis 1932 Herausgeber der Zeitschrift Der nationaldeutsche Jude" eine bemerkenswerte Attacke. Im Dezember 1921 rief der von ihn geleitete Verband nationaldeutscher Juden zur Versammlung, wo nichtjüdische Deutsche aus allen Lagern eingeladen und sehr willkommen waren. Es erschienen unter anderen der deutschnationale Friedrich von Oppeln-Bronikowski (1873-1936), der sich energisch gegen den antisemitischen Rummel in der Partei wandte und scharfe Kritik an Ludendorff übte. Ebenso wollten einige andere die antisemitische Agitation nicht mitmachen, darunter der Abgeordnete Ritter, Clemens von Delbrück (1856-1921) und Arthur Graf Posadowsky-Wehner. Aber, instruiert am 10. Dezember 1921 der Vorwärts (SPD) seine Leser, "das geistige Wesen der Deutschnationalen wird .... nicht von Delbrück und Posadowsky präsentiert, sondern von [Reinhold] Wulle [1882-1950]."
Krise des konservativen Denkens zurück Infolge des verlorenen Krieges war der Untergang der wilhelminischen Staatsidee und Ansehensverlust konservativer Gesellschaftspolitik unabwendbar. Wer von ihren Politikern wollte sich nach dem Gaskrieg und Verdun dazu aufschwingen, den Staat als eine die Vernunft entfaltende Idee anzuschauen, der Recht von Unrecht unterscheiden konnte? War doch der "Staat als das Vernünftige" zur Maschine geworden, die nur noch mit dem Recht auf den Erhalt des Ganzen klagend, den Mord und Totschlag organisierte, was des einzelnen Opfers und die Vernichtung einschloss. Das war die reale Existenz des Staates als die "Wirklichkeit der sittlichen Idee" (Hegel). Ehre, Treue, Nation und Staat geraten schwer ins Wanken. Untertanengeist, Etikette oder Standesdünkel gelten bald als Gesten von Gestern. Viele Nationalkonservative, erklärt Gustav Stresemann im April 1919 in "Zur Lage der Nation", überwinden die wilhelminische Denkweise nicht und lehnen oftmals das demokratische Weltzeitalter ab. Nicht Posadowsky. Eine Hürde, die er ohne zu reißen überspringt. Trotzdem schaut man, was sein Verhältnis von Demokratie und Staat betrifft, nach dem Zweiten Weltkrieg anders, kritisch auf ihn. Bis heute warten wichtige, durch ihre Arbeit anerkannte, namhafte Institutionen und Publikationsorgane mit dem Fehlurteil vom "Gegner der republikanischen Staatsordnung" auf.
Die liberale Wende zurück Demokratie und Liberalismus bedingen und setzen einander voraus, grenzen sich deutlich voneinander ab, bilden einen Widerspruch in sich. Kommentieren wir es mit Gustav Radbruch Rechtstheorie, dann heißt das: "Nach [klassischer] demokratischer Auffassung stellt .... der Einzelne seine vorstaatliche Freiheit restlos zur Disposition des Staatswillens, des Mehrheitswillens, um als Entgelt dafür nur die Möglichkeit zurückzuerhalten, sich an der Bildung dieses Mehrheitswillens zu beteiligen." Hingegen verlangt der Liberalismus für den Einzelwillen die Möglichkeit, sich unter Umständen gegen den Mehrheitswillen zu behaupten. (Vgl. Radbruch 67) Exakt dieses Anliegen verfolgt Posadowsky, wenn er nach der Revolution 1918/19 dem sprunghaft wachsenden Bedürfnis nach demokratischer Mit- und Selbstbestimmung beim reformfreudigen Staatsbürger, Geltung verschaffen will. "Sie sind unfähig, den Begriff der Nation mit der Freiheit zu vereinigen," wirft Thomas Mann den Deutschen in einem Vortrag am 29. Mai 1945 vor, "was immer wieder dazu führte, dass ihr Freiheitsdrang in Unfreiheit endete." So war es nicht. Es gab diese Versuche. Einen unternahm Arthur Graf von Posadowsky-Wehner mit der Hinwendung zum liberal-konservativen Gesellschaftskonzept modernen Typs. Das erfolgte in Teilschritten, beginnend während seiner Tätigkeit als Reichstagsabgeordneter, intensiver, als er die Deutschnationale Volkspartei nach dem Kapp-Putsch (1920) verlässt, gedrängt und inspiriert von den aktuellen Ereignissen: Versailler Vertrag (1919), Wahlen zur Nationalversammlung (Januar 1919), Kapp-Putsch (1920), Ermordung von Matthias Erzberger (26. August 1921), Streikbewegung (1923), Ruhrkrise (1923), Hyperinflation (1923) nebst Aufwertungsgesetzgebung und Fürstenentscheid (1926). Erste Überlegungen, Regungen und Ideen sind in dieser Richtung noch während seiner Tätigkeit als Reichstagsabgeordneter auszumachen. Intensiver werden diese Bemühungen, als er 1920 nach dem Kapp-Putsch die Deutschnationale Volkspartei verlässt. Den Zenit erreicht sein republikanisches Engagement im politischen Ringen um eine volkswirtschaftlich vernünftige Geldpolitik, denn die Aufwertungsgesetze "sind ja nichts anderes als Ausführungsverordnungen mächtiger wirtschaftlicher Gruppen" (Posadowsky PLT 27.2. 1929, 4195) Freiheit, Republik, Demokratie, Nation und Verfassungsstaat bilden das Fundament seiner Gesellschafts- und Staatstheorie, dass alle Bürger in einem gemeinschaftlich zu schaffenden Staatswesen integriert und die
achtet und wahrt. In der Eigentumsfrage stützt er sich nach 1918 auf rechtspolitische Normen und gesellschaftspolitische Vorstellungen des kontinentaleuropäischen Liberalismus: Die Freiheit des Individuums forderte die Sicherung des Eigentums und gleichzeitig seine Begrenzung im Interesse der Entwicklung des (bäuerlichen) Mittelstandes und Begrenzung der "häßlichen Geldaristokratie" (Rotteck). Hier ordnet sich ideologische Kollision mit Minister Hans Schlange-Schöningen (1886-1960) am 23. Januar 1932 im Preußischen Landtag zur Unverletzlich des Privateigentums ein. Degtaisls dazu unten im Abschnitt zu Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Eigentums?) Er will der Unterdrückung
des Bürgers durch den Staat und die Regierung vorbauen und wirksam
begegnen. Ebenso sieht er im Terror der Mehrheit gegen die Minderheit
Gefahren. Es sind Momente, die in der deutschen Demokratietheorie und
-praxis oft eine neben- und untergeordnete Rolle spielen, wohl aber aus
der utilitaristischen Lehre des John Stuart Mill in Über die Freiheit
(1859) hergeleitet werden können. Die in dieser Frage von ihn vertretenen
Viele Gleichgesinnte aus der Kaiserzeit können oder wollen ihm da nicht nacheifern. Warum sie sich abwenden oder einfach nur zurückbleiben, ist oftmals nicht klar, weil die Gründe aus den vorliegenden Quellen nicht extrahierbar sind. Ob die liberale Wende der Grund war oder ob sie sich schlicht schon an seinem sozialpolitischen Reformeifer im Interesse von Werkmann und Werkfrau störten oder gar abgestoßen fühlten, ist oft nicht entscheidbar. Wenn er gezielt gegen die Inflations- und Aufwertungspolitik ins Feld zieht, gegen verschiedene Facetten einer auffällig unvernünftigen Politik protestiert, sie auf parlamentarischen Wege angreift, so bedeutet dies - was bisher oft übersehen - die Erneuerung liberaler Prinzipien und ihrer Philosophie. Ein nicht geringer Teil seiner persönlichen Schwierigkeiten nach 1919 rühren daher, dass eben diese als Handlungsorientierung ihre Geltung verlieren oder von der politischen Öffentlichkeit nicht genügend Anerkennung erfahren.
Weltwende zurück 1920 veröffentlicht der Walter Hädecke Verlag in Stuttgart sein Buch "Weltwende". Eine Aufsatzsammlung zu aktuellen und drängenden politischen Fragen, dass mit philosophischem Impetus verfaßt und, wo es paßt, heftige Schläge gegen den Zeitgeist führt. Kontinuität und Umbruch, Bewahrung und Reformeifer ringen miteinander. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs ordneten viele sein politisches Denken einfachheitshalber in die Schublade Konservativ ein, was damals die allgemeine Ablehnung der parlamentarischen Demokratie bedeutete und mit dem Vorwurf "Reaktionär" verschwamm. Das widerspricht nicht nur seiner Staats- und Verfassungstheorie. Bereits während der Revolutions- und Umbruchzeit unterstützt er das Konzept der Massendemokratie, die mit der klar und öffentlich formulierten Wertschätzung der "handarbeitenden Massen" (Posadowsky) verkettet. Seine Lehre von Staat und Recht stützt sich auf geistesgeschichtlich erworbene Grundsätze der liberalen Staatstheorie, der Trennung von exekutiver und legislativer Macht und den Verfassungsstaat. Das sagt sich so leicht. War es denn nicht aber so, wie wir es aus vielen seiner Äußerungen bereits erfahren mussten, dass sein Verhältnis zu Preußen recht traditionell war, also in Richtung Heinrich von Treitschke tendierte, das herrliche Staatsideal, dem alles zuströmt. Es ist der Glaube verbreitet, heißt es noch 1918 im Aufsatz "Schicksalsstunden" (64), dass die preußische Regierung und der preußische Landtag "seit Jahrzehnten hinter den Aufgaben der Zeit zurückgeblieben", worauf das innere Recht der Forderung gegründet, die preußische Staatsverwaltung grundsätzlich umzubauen und insbesondere den Landtag auf breitere Grundlage zu stellen. Er nennt es "Glaube", nicht notwendige "Aufgabe". Daraus könnte man schließen, dass er den institutionellen staatlichen Wandel scheut, was aber nicht zutrifft.
Reparaturbedarf der parlamentarischen Demokratie zurück Preußen steht Ende 1918 vor der dringenden Aufgabe das Dreiklassenwahlrechts zu überwinden und das System der demokratischen Legitimierung der Regierung zu installieren Entscheidend ist, dass das Wahlrecht seine "nationale Aufgabe" erfüllt. Selbst die Gegner müssen anerkennen, notiert Posadowsky am 1. März 1919 im Manuskript zur Innere(n) Reichspolitik (73), dass "unter der Herrschaft dieses Wahlrechts" zu einer gewaltigen Kulturarbeit kam. Dass das Dreiklassenwahlrecht große Gruppen von Bürgern von der Mitbestimmung ausschloss, die Wahlkreisaufteilung und Berechnung der Sitze interessengebunden war, dazu will er sich hier nicht äußern, mahnt aber als Fraktionsführer der Deutschnationalen Partei am 7. Oktober 1919 (2898) im Reichstag in der Nationalversammlung Verbesserungen am republikanisch-demokratischen System an. Das geschah zu verschiedenen Gelegenheiten bereits auch vor 1918. Die überzogene nationalistische Erziehung und ihre Folgen kamen dabei nicht ausreichend zur Sprache. Die Bildungspolitik scheint in traditionell-konservativen Anschauungsweisen zu verharren. Allerdings, dies möchte ich selbstkritisch anmerken, sind meine Studien dazu aber nicht ausreichend. Anders verhält es sich mit seinen R e p e r a t u r v o r s c h l ä g e für die parlamentarische Demokratie. Über einen längeren Zeitraum konnte die Entwicklung seiner Ideen und Vorschläge verfolgt werden. Typisch nun, wie er jetzt im Oktober 1919 gedenkt, hier heranzugehen:
Seine folgenden R e p e r a t u r v o r s c h l ä g e für die parlamentarische Demokratiedie tragen konstruktiven Charakter und sind einer weiterführenden Diskussion unbedingt Wert: 1899 fielen in einer Generaldebatte des Reichstags die Worte vom "starken Mann". "Wenn ein solcher starke Mann in Deutschland existirte," erklärt Posadowsky, "so wünschte ich, daß er in diesem Hause recht bald zum Vorschein käme (große Heiterkeit). . Dieser starke Mann würde nämlich sehr bald die Erfahrung machen, dass man eine Partei, wenn sie einer Regierung auch noch so unsympathisch ist, in einem Rechtsstaate nur behandeln kann auf Grund der bestehenden Gesetze (sehr richtig!); und daß man Gesetze in einem konstitutionellen Staate nur machen kann mit der Volksvertretung (sehr richtig!) .." (Posa RT 13.12.1899, 3350) Politische Vorstellungen, wie "wir müssen einen starken Mann haben!", "und dieser muss dann Sozialdemokratie an der Gurgel fassen", lehnte er strikt ab und erlag in den zwanziger Jahren - nicht wie viele andere - dem Führer-Kult. Nicht uninteressant sind seine Bekenntnisse und Erfahrungen zum Parlamentarismus in Vorbereitung der Reichstagswahlen am 12. Januar 1912 im Raum Bielefeld. Stimmungsmache, Sprüche klopfen und Kampfrhetorik, was das Wahlvolk so liebte, war nicht nach seinem Geschmack. Effekthascherei mochte er ebenso wenig wie die Absonderung nach Volksgunst haschende Gemeinplätze. Von den üblichen Wahlkampfszenarien der richtigen Signale hielt er nicht viel. Nachdenkswert sind folgende Aussagen zur Wirksamkeit der üblichen Vorträge im Reichstag:
Auf die Innere Reichspolitik schaut er im Aufsatz vom 1. März 1910 zurück. Er berichtet darüber, dass bei den Verhandlungen zum Wahlrecht Stimmungen spürbar, die dem föderativen Geist nicht zuträglich. Gegensätze und widerstreitende Interessen sind im Reich reichlich vorhanden. Ein zu starkes partikuläres Selbstinteresse, wie etwa bei den Verhandlungen über die Schifffahrtsabgaben, warnt er, könnte die bereits vorhandenen Reibungsflächen vergrößern. Noch bedenklicher ist die Stimmung zur Änderung des preußischen Wahlrechts. Immerhin haben die auf Grundlage dieses Wahlrechts gewählten Körperschaften, "noch stets die Mittel gewährt", "welche zur Verteidigung unseres Vaterlandes zu Land und zu Wasser notwendig waren", weshalb seine Gegner endlich anerkennen sollen, -verlangt er - dass unter der Herrschaft des bisherigen Wahlrechts "in Deutschland auf gesetzlichem und wirtschaftlichem Gebiete eine ungeheure Kulturarbeit geleistet wurde". Etwas unerwartet kommt, wie unkritisch hier über das vom Reichstag organisierte System zur Finanzierung der Flottenrüstung und die Synthese von Militär- und Haushaltspolitik hinweggegangen wird. Und die Finanzpolitik im Dienste des Krieges? - 1913 Wehrbeitrag, 1916 Kriegssteuer und 1918 außerordentliche Kriegsabgabe. Bei der Auflösung des Reichstags im Winter 1906, verweist er in die "Innere Reichspolitik" (1910), bewährte sich die Stabilität und Brauchbarkeit des Wahlsystems. Was dazu führte war nicht wirklich das Versagen der Mittel zur nationalen Verteidigung. Ihm scheint deshalb zweifelhaft, wenn man das Reichstagswahlrecht als eine für Deutschland verfehlte und schädliche Einrichtung darstellt. Die Reformer, wendet er ein, sind wahrscheinlich kaum in der Lage "ihre Gegnerschaft in gesetzgeberische Beschlüsse zu übertragen". "Zu all
diesen symptomatischen Äußerungen und verschleierten Stimmungen,"
schildert die Innere Reichspolitik, "kommt
noch die bekannte Erklärung des Reichstages, dass der König
von Preußen
." Es war aber nicht "die Erklärung"
des Reichstages, sondern eine Äußerung des Reichstagsabgeordneten
am 29. Januar 1910
"Wer den gesamten Inhalt der Verhandlung und insbesondere jener Rede vorurteilfrei von der Hitze des politischen Kampfes unbeeinflusst liest," kommentiert Posadowsky, "muss zugestehen, daß die Äußerung nur ein Beispiel für den unbedingten Gehorsam des Soldaten gegenüber der Allerhöchsten Kommandogewalt geben sollte, und daß es eine arge Übertreibung ist, in jener Äußerung eine Aufforderung zum Verfassungsbruch zu erblicken. Trotzdem ist ein solch drastisches Beispiel schon deshalb höchst gefährlich, weil es, wenn auch nur theoretisch, die Möglichkeit zulässt, dass der höchste Vertreter von Recht und Gesetz einen Befehl erteilen könnte, der gegen die Grundverfassung des deutschen Reiches verstieße." (Posa 01.03.1910, 72 bis 76) Der Parlamentarismus wurde oft missbraucht. Es gab genügend Gegner der Sozialgesetzgebung, die sich, um ihrem Standpunkt Geltung zu verschaffen, im Reichstag unlauterer Mittel und Methoden bedienten. "Die fortschreitende Belastung durch die Sozialpolitik hat vielmehr geheime Gegner, als man denkt. Glauben Sie nicht," zitiert ihn 1925 Siegfried Aufhäuser (1884-1969), "wenn die schönsten sozialpolitischen Anträge gestellt werden, dass man deshalb auch immer den sehr energischen Willen hat, dass sich diese Anträge zu Gesetzen verdichten sollen. Es wird manches getan aus taktischen Gründen und nicht aus dem tief innerlichen Gefühl der Pflicht heraus, die wir gegen unsere Mitmenschen, insbesondere gegen unsere wirtschaftlichen Schwachen Nebenmenschen, haben." Das
parlamentarische System beruht auf der Parteiendemokratie. Sie ist durch
ein überbordendes Parteiinteresse in Form "maßloseste[r]
und finanziell unverantwortliche[r] Wünsche" gefährdet. Auf
dem 20. Evangelisch-Sozialen Kongress vom 1. bis 3. Juni 1909 in
Heilbronn kritisiert er die Personalrekrutierung. Er beobachtet: "Nicht
die Befähigtsten und arbeitsfreudigsten, sondern die finanziell am
besten repräsentieren, könnten in Zukunft gewählt werden."
Diesen Luxus "mit ihrem theatralischen Aufwand geborgter Requisiten"
ist für weite Kreise, zu einer fixen Idee geworden. Als einen schweren
Nachteil demokratischer Geflogenheiten erlebte er die "Freundlichkeit".
"Glauben sie mir," bezeugt er am 8. März 1909 auf
der Tagung der Gesellschaft für soziale Reform, "daß nicht
alle Anträge, und wenn sie noch so schön klingen, immer ernst
gemeint sind. (....) Es ist auf keiner Seite soviel Heuchelei als bei
einer gewissen politischen Freundlichkeit. Manches wird getan aus taktischen
Gründen und nicht aus sittlichem, tiefem Gefühl der Pflicht
gegenüber den Volksgenossen." (Zitiert nach Hoch RT 25.02.1927,
9246) Im Rahmen der liberalen Erneuerung der Gesellschaft und der im Grundsatz demokratisch verstandenen Weltwende, entfaltet er fast einen mythischen Hang zur Modernen, bleibt aber trotzdem ein Konservativer. Viele irritiert das, ihnen ist unerklärlich, wie ein Konservativer das nur tun kann. Er kann! Die Wandlung ist anstrengend und begleitet von der Zuwendung zu neuen Arbeitsfeldern der Finanz-, Geld- und Verfassungspolitik. Ihm liegt die Förderung und Stabilisierung der ökonomischen Lage des wirtschaftlich selbständigen Mittelstandes am Herzen, der schwer unter den Inflations- und Aufwertungsgesetzen leidet. Er fordert Rechtsgleichheit, Selbstbestimmung, Koalitionsfreiheit, Herrschaft des Gesetzes (rule of law), Sicherung des Eigentums, Machtbegrenzung und den Verfassungsstaat. Für verschiedene Komponenten liegen bereits Reparaturanforderung vor, zum Beispiel: Kontrolle übermächtiger wirtschaftlicher Gruppen, keine Begünstigung der Schuldner durch die Inflations- und Aufwertungsgesetze und die Abschaffung von ungerechten und unsittlichen Gesetzen. Es sticht die harte Konfrontation mit der Eigentumsfrage hervor, deren Erörterung in den Oberabschnitt "Die anstrengende Republik" verlegt wird, was darauf hindeutet, dass sie kein temporäres Problem der Deutschen Revolution und der Reichstagswahlen vom Januar 1919 war und sich schließlich nicht irgendwann von selbst erledigte. Im Gegenteil, mit der Inflations- und Aufwertungspolitik brandete sie erst richtig auf. Auf dem Weg von Recht und Gesetz sucht Posadowsky nach Möglichkeiten sie im Sinne liberaler Grundsätze und Werte gerecht und gleichzeitig volkswirtschaftlich effektiv zu gestalten.
Die
Zeit verlangt Das Getöse des politischen, militärischen und wirtschaftlichen Zusammenbruchs verzieht sich langsam. In Zeitungen liesst man und aus Versammlungen hört man jetzt öfter den Ruf nach einem Führer. Der Wunsch, nach einem weitblickenden und selbstsicheren Staatsmann, der über die Kraft verfügt, eigene Wege zu gehen, mag bei flüchtiger Beurteilung verständlich sein. Nur ist das oft nicht gemeint. Geboten wird eine verdorbene Frucht des wilhelminischen Militarismus. Oder ein Residuum der krankhaften Verarbeitung von Fronterlebnissen. Noch nicht in dem Umfang wie Ende der 20er Jahre, aber immerhin gesellschaftlich akkreditiert, weiter popularisiert durch Parteien und die Vaterländischen Verbände, präsentiert der Führerkult zunächst als Lösung für das künftige deutsche Staatsleben an: Ein willensstarker Staatsmann könnte die staatliche Vollstreckungsgewalt wiederherstellen und so den richtigen Weg zum Wiederaufbau weisen. Er soll auf Grundlage der Gesetze handeln, die in einem konstitutionellen Staatswesen nur mit Hilfe einer Volksvertretung entstehen sollen. Das klingt noch nicht so nach Diktator. Trotzdem warnt Posadowsky am 16. April 1920 vor solchen Vorstellungen im Aufsatz "Der starke Mann":
Darin verwoben sind "Wahnvorstellung vor der Macht einer Regierung und von staatsrechtlichen Möglichkeiten". Im Umgang mit der Staatsmacht bedarf es mehr Augenmass. Überhöhte Erwartungen an den Staat helfen nicht weiter. Die Bürger dürfen den Staat nicht mit Idealen und überhöhten Erwartungen überfrachten:
Hierin spiegeln sich die Erfahrungen eines erfahrenen Politikers, die durchaus, sagen wir um etwa 1928, in um das Feld der demokratischen Legalisten eine grosse Rolle spielen werden. Posadowsky lehnt das Konzept des "starken Mann" für die Neuordnung des Staatswesens ab.
Kapp-Lüttwitz Putsch zurück das größte Unglück, das Deutschland überhaupt treffen konnte (Ernst Heilmann, 1920) DNVP-Mitglied Wolfgang Kapp (1858-1922) putscht im März 1920 zusammen mit Walther Freiherr von Lüttwitz (1859-1942) gegen die Reichsregierung. Andere Deutschnationale taten heimlich mit oder bezogen taktische Positionen (vgl. Bernd 2004, 364). Der im Buch "Weltwende" (113 ff.) erschienene Aufsatz "Der starke Mann" analysiert die Irrtümer, Fehler und Spekulationen der Anführer des Kapp-Putsches, was schon von enormer politischer Tragweite ist. "Dieser Putsch von rechts ist nach meiner Überzeugung das größte Unglück, das Deutschland überhaupt treffen konnte", sagt der Sozialdemokrat Ernst Heilmann (1881-1940) am 13. März 1920 im Gespräch mit den Vorsitzenden der Deutschnationalen Volkspartei Herrn Minister a. D. Oskar Hergt und legt sich so in der historischen Einordnung fest, die später Allgemeingültigkeit erlangen sollte. Kapp war nicht Der starke Mann als den er sich verstand, so beginnt Graf von Posadowsky die politische Abrechnung mit dem Putsch. "Er hat indes übersehen," hält er dem Rädelsführer vom 13. März vor, "dass starke Zuversicht sich im öffentlichen Leben auf politische Erkenntnis aufbauen muss." Diese Voraussetzung fehlte dem Putsch vollkommen. Kapp beachtete nicht, dass Deutschland kein Einheitsstaat ist, sondern föderativen Charakter trägt. Selbst wenn der "Gewaltstreich" in der Hauptstadt gelungen, so war damit kein entscheidender Erfolg im übrigen Deutschland erreicht, speziell nicht im Westen und Süden. "Infolgedessen nahm das Unternehmen nicht die Gestalt einer Volkserhebung gegen die bestehende Regierung an, sondern sank zu einem politischen Abenteuer herunter." Es ".... zeugte ebenso sehr von mangelndem Verständnis der politischen Lage wie von irriger Einschätzung des eigenen politischen Schwergewichts." (Der starke Mann 114-115) Graf von Posadowsky hielt einen Aufstand gegen die Verfassung und ihre Missachtung für unmöglich. Noch am 7. Oktober 1919 behauptet er in der Nationalversammlung zu:
Er irrte sich. Der DNVP-Fraktionsvorsitzende der Nationalversammlung Graf von Posadowsky beteiligte sich nicht am Putsch. Für ihn gab es keine andere Möglichkeit. Andernfalls müsste er seine Überzeugung vom republikanischen Verfassungsstaat aufgeben. Er hatte am 7. Oktober 1919 in der Nationalversammlung gewissermassen das Versprechen gegeben auf dem Weg zur Republik fortzuschreiten und bettet dies damals in die historische Replik vom "18. Brumaire". Posadowsky war grundsätzlich gegen den Umsturz und Einsatz der Armee zu innenpolitischen Zwecken. Ein Heer, "das nicht unbedingt ein zuverlässiges Werkzeug in der Hand der Regierung ist, bedeutet eine Gefahr für jede Regierung" (16.4.1920). Bereits am 28. Mai 1906 (3569) artikulierte er diese staatspolitische Grundüberzeugung vor dem Reichstag:
Er ist schon im Juni 1920 abgesägt worden, lässt am 19. Dezember 1921 der Vorwärts aus Berlin kurz fallen. In alter konservativer Unart sahen die Strippenzieher in der Partei nur, was man verlieren konnte, nicht aber was es mit Arthur Graf von Posadowsky-Wehner an Attributen für eine moderne konservative Partei zu gewinnen gab: parlamentarisch, demokratisch, kooperativ, mittelstandsorientiert, arbeiterfreundlich, rechts- und staatsbewusst auf Grundlage der Verfassung und kritisch gegenüber luxurierenden Konsumexzessen.
Fürstenentscheid zurück
Am 20. Juni 1926 findet in Deutschland der Volksentscheid
über die entschädigungslose statt. "Die deutschen Fürsten haben die Rechte deutscher Staatsbürger und begründen ihre Ansprüche auf Herausgabe ihres Privateigentums mit den Vorschriften desselben bürgerlichen Rechts." Darauf gedanklich aufbauend, befürwortet Posadowsky ihre Enteignung nicht, weil es mit seinem Verständnis von Recht und Gerechtigkeit in der Gesellschaft unvereinbar ist. "Aus politischen und wirtschaftlichen Gründen darf niemals das Recht des privaten Eigentums ausgeschaltet werden. .... Es wäre auch sittlich verwerflich, aus persönlicher Verbitterung für die Enteignung des Fürstenvermögens zu stimmen, weil man selbst Unrecht erlitten hat. Sparer und Rentner sollten deshalb grundsätzlich der Abstimmung am 20. Juni [1926] fernbleiben ...." (V&R 229)
Wider der Prinzipien- und Grundsatzlosigkeit zurück Posadowsky bricht absolut mit der DNVP-Politik. Die Trennung beginnt mit dem Kapp-Putsch im März 1920 und endet vermutlich nach einer Phase des Übergangs 1924 mit der massiven Kritik an der Geldpolitik die zur Hyperinflation führte und Aufwertungsfrage. Vermutlich, denn noch reichen die aufgefundenen Dokumente nicht aus, um den Zeitraum genauer bestimmen zu können. Seine grundsätzliche Ablehnung der DNVP steht damit nicht Frage, wie seine Kritik an deren Grundsatzlosigkeit, aus der das "Jenaer Volksblatt" am 29. August 1928 zitiert, beweist. Mittlerweile deckt die DNVP ein großes Themenfeld ab und versucht, ihre Massenbasis zu erweitern. Der Reichstagsabgeordnete Walther Lambach (1885-1945) mobilisiert das volkskonservative Potential, wendet sich ab von dem extrem rechten Hugenberg-Kurs, und versucht, die Partei für den republikanischen Weg zu öffnen. Dies nimmt Posadowsky zum Anlass, die krassesten logischen Widersprüche der Deutschnationalen Partei (DNVP) bloß zu legen:
Man kann nicht flammende Reden gegen das Dawesabkommen halten, durch welches der Vertrag von Versailles bestätigt wird, und demnächst bei der Abstimmung über dieses feindliche Abkommen zur wirtschaftlichen und finanziellen Verelendung des Volkes sich zum Teil der Abstimmung enthalten und zum anderen Teil für das mit durchschlagenden Gründen bisher bekämpfte Abkommen stimmen. Man kann nicht den enteigneten Gläubigern vor der Wahl zurufen: "Denkt an das euch widerfahrene Unrecht; tretet ein für euer gutes Recht!" Und dann einen Canossa-Gang unternehmen und in der Regierung für ein Gesetz stimmen, dessen Aufwertungsquote zum großen Teil geringer ist wie der Betrag der für richtig erklärten Zinsen, also eine entschädigungslose Enteignung." Man kann sich nicht zu konservativ-monarchistischen Kundgebungen bekennen und sich gleichzeitig, um in die Regierung zu gelangen, den Richtlinien der früheren Regierung des Reichskanzlers Marx fügen." (Posadowsky 29.8.1928) Die von der DNVP im unvorstellbaren Ausmaß praktizierte Grundsatz- und Prinzipienlosigkeit erlebt und begreift er politisch und menschlich als unerträglich. Sie ist höchst manipulativ und mit dem Bild vom selbsttätigen, vernünftigen, gesetzesbewusst handelnden und sozial-empathischen Staatsbürger unvereinbar. In dieser Frage besteht zwischen ihm und Hugo Heimann (1859-1951) ein bemerkenswerter Gleichklang. Im "Der Kampf um die Aufwertung" (54) analysiert 1925 der SPD-Reichstagsabgeordnete die Politik des Betrugs:
Die anstrengende Republik
Keine Illusionen! zurück Es steht viel auf dem Spiel. Die wirtschaftliche Lage der Weimarer Republik verbessert sich nach dem Ende der Hyperinflation, ist aber nicht stabil. Arm und Reich driften auseinander. Was sagt man den Bürgern? Weckt man bei ihnen Hoffnungen? Schon, - doch auf keinen Fall wieder mit Illusionen! Das lehnt Posadowsky ab. Schon einmal wurde 1914 damit Schindluder getrieben und die Massen in verbrecherischer Weise irregeführt. "Absichtliche Täuschung und gutgläubiger Irrtum hat schon zu lange geschadet", blickt er auf diese Zeit zurück. "Das deutsche Volk muss erkennen, was ist, um sich aus dieser Erkenntnis heraus ein nüchternes Bild politisches Bild und wirtschaftliches Urteil [!] zu bilden und sein Privatleben zu regeln." (V&R 227)
Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Eigentums? zurück Gemäß liberal politischer Anschauung kann der Bürger über sein Eigentum nach Gutdünken entscheiden und verfügen. Anders war es in Zeiten der Hyperinflation und Aufwertungspolitik. Da verlieren viele ihren Besitz oder machen Verluste. Um was die Besitzer hier gebracht werden, ist oft nicht weniger als die Lebensgrundlage ihrer Familie. Deshalb erwartet Posadowsky in diesen Tagen (siehe PLT 23.1.1932, 23886) von den verantwortlichen Politikern, dass der Schutz des Eigentums auf alle Volksschichten, nicht nur auf das eigene angewendet wird. Davon wollen einige nichts mehr wissen. "Jetzt haben wir sogar erlebt," berichtet er Anfang 1932 dem Preußischen Landtag, "dass ein aktiver Minister, Herr Minister Schlange [1886-1960], nach Zeitungsmeldungen erklärt hat: Man rede von der Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Eigentums; wer glaube das heute noch, wer könnte diesen Grundsatz noch aufstellen, - das wären christliche Spitzfindigkeiten." Der Reichsminister ohne Geschäftsbereich und Reichskommissar für die Osthilfe gibt das Prinzip des politischen Liberalismus den Schutz des Eigentums auf. "Ein Minister, der in einem geordneten Staatswesen eine solche Erklärung abgibt, der den Begriff des Eigentums, an dem der größte Teil unseres Volkes doch noch hängt, fachlich erschüttert, eine Regierung, die es erträgt, daß ein Minister eine solche Erklärung abgibt, erschüttert allerdings die Grundlagen des Eigentums und ihr eigenes Ansehen aufs schwerste. Das sind die Anschauungen, die unmittelbar in den bolschewistischen Staat führen." (....)
Verantwortung der Eliten zurück
Er übersieht nicht die sozialen Verwerfungen als Folge des Gegensatzes von Arm und Reich, was die gedeihliche Entwicklung der Gesellschaft behindert. "Wenn er vom Materialismus der besitzenden Klasse sprach," worauf 1907 die Volksstimme aus Magdeburg hinweist, "wenn er erklärte, dass der Besitz, immer eine Annehmlichkeit, selten ein Verdienst und niemals eine Tugend sei." Posadowsky nimmt die Produktionsmittel-Besitzenden, die Oberschicht und Eliten für die Gestaltung und Förderung eines gedeihlichen Staatswesens in Verantwortung. Nur in einem Land, lautet seine Überzeugung, wo die Gebildeten die Führung übernehmen, erhält die Zukunft eine Chance. Die Elite muss die Initiative übernehmen. Ihren Führungsanspruch in der Gesellschaft muss sie durch ihr persönliches und öffentliches Verhalten rechtfertigen. Das korrespondiert nicht mit seinen Erfahrungen: "Leider steht die Lebensführung weiter Kreise der Oberschicht im verletzendem Gegensatz zu dieser Forderung sowie zu dem schweren Schicksal ihrer notleidenden Mitbürger und des Vaterlandes." (V&R 228)
Bürgersinn und Pflicht zurück Der Staat braucht nach Überzeugung von Graf Posadowsky dringend ein beherrschendes Nationalbewusstsein, spartanische Einfachheit der Sitten, edle Selbstlosigkeit und unerschütterliche Pflichttreue der Volksmassen. Das bedeutet, "dass im republikanischen Staatswesen die Pflichten des einzelnen Staatsbürgers erheblich höher sind als in der Monarchie, wo die monarchische Regierung als selbständige Machtquelle der gesetzgebenden Versammlung gegenübersteht und das Recht hat, Gesetzesentwürfe, welche ihr bedenklich erscheinen, abzulehnen." Der Typus des modernen Staatsbürgers ist bei Posadowsky aktiv, engagiert, urteilsfähig und empathisch gegenüber seiner sozialen Welt. Der Antiheld ist der unpolitische Bürger. Vorzugsweise beschränkt er sich bei den Staatsgeschäften darauf, die Zeitung zu lesen, womit er meint, seine Pflicht erfüllt zu haben. Diesem Typus Bürger liegt eine selbstständige geistige Prüfung der politischen Ereignisse fern. Infolgedessen findet man selbst bei Personen, die nach ihrer Lebensstellung als "gebildet" gelten, tut Posadowsky seine Erfahrungen kund, ein überraschendes Maß an politischer Unkenntnis, Urteilslosigkeit und Gleichgültigkeit. Ein grausen, dieser "bescheidene Mensch". ".... wo sie von der Gesetzgebung oder den Ereignissen selbst empfindlich betroffen werden," pflegen sie "in herbster Form ihr Urteil über diese politischen und wirtschaftlichen Folgeerscheinungen abzugeben, zu deren Vermeidung oder Beseitigung sie selbst durch ihre öffentliche Tätigkeit nichts getan haben." (V&R 76). Die Masse dieser Schwächlinge zeichnen sich durch Untätigkeit und Trägheit aus, sehnen von anderen Herkules-Leistungen herbei. Das Volk ist in seiner Gesamtheit für die Führung der Staatsgeschäfte verantwortlich. Die erste Bürgerpflicht heißt deshalb, Abgabe der Wahlstimme. Wer nicht zur Wahl geht ist ein "politischer Deserteur" und vernachlässigt in unentschuldbare Weise die vaterländische Pflicht. Man kann "das Gefühl der politischen Verantwortlichkeit und Reife eines Volkes" an Hand der Beteiligung an den öffentlichen Wahlen beurteilen (V&R 73). "Weite Kreise scheinen aber diese veränderte Grundlage des öffentlichen Lebens gegenüber der konstitutionellen Monarchie noch nicht erkannt zu haben .... Das höchste Recht und die wichtigste Pflicht jedes Staatsbürgers ist die Abgabe seiner Wahlstimme .... " (NBT 25.4.1925) Es ist eine Forderung, die von praktischer Bedeutung und den demokratischen Prozess der Konstituierung des allgemeinen Willens erfasst. Durch die "eigenmächtige Vollziehung des Staates von Gesetzen" bringt die Republik "den gesetzgebenden Despotismus hervor". Anders formuliert: In der Demokratie trennt der Gesetzgeber sich vom Vollzug der Gesetze zum Preis, dass die Exekutive sich potentiell in Widerspruch zum allgemeinen (Volks-) Willen setzt und die Repräsentanz verliert. Insoweit ist das parlamentarische Präsenzprinzip nicht oder nur schwach erfüllt ist. Um das notwendige Maß an Identität darüber aufzubauen, bedarf es der hohen Wahlbeteiligung. "Alle Regierungsform", "die nicht repräsentativ ist," lehrt Immanuel Kant in "Zum ewigen Frieden" (1795/1981, 427), "ist eigentlich eine Unform ...." Die Kommunikation der Öffentlichkeit übernimmt im Demokratie-Konzept von Posadowsky eine sinnstiftende und gestaltende Kraft. "Ein jeder pflegt im öffentlichen Leben soviel Recht zu haben, wie er vertritt. Das gilt vor allem in einem parlamentarischen Staatswesen, in welchem die Entscheidung aller öffentlichen Angelegenheiten tatsächlich bei den unverantwortlichen Volksvertretern liegt und die verfassungsmäßig verantwortlichen Minister sich dieser Entscheidung zu fügen oder auf ihr Amt zu verzichten haben." (V&R 228)
Die Popularität der neuen Staatsform (Graf Posadowsky, 1930) zurück Carl von Ossietzky (1889-1938) freut sich, dass das Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold den Camelots der Rechtsparteien die Straße streitig macht. Das ist für deutsche Verhältnisse, schreibt er im September 1924 in den "Tagebüchern", allerhand. Nur es wird dies nicht ausreichen, denn: "Unsere Republik ist noch kein Gegenstand des Massenbewußtseins, sondern eine Verfassungsurkunde und ein Amtsbetrieb." Deshalb darf man es nicht bei der Abhaltung "Republikanischer Tage" bewenden lassen. "Wer aus der Geschichte vor fünf Jahren gelernt hat," schlussfolgert der Herausgeber der Weltbühne, "weiß es, dass nicht die Völkischen, die Monarchisten die eigentliche Gefahr bilden, sondern die Inhaltslosigkeit und Ideenlosigkeit des Begriffs deutsche Republik, und daß es niemandem Gelingen will, diesen Begriff lebendig zu machen."
Jetzt stimmt Graf von Posadowsky eine neue Melodie an, setzt einen Kontrapunkt: Worauf kann sich die neue Ordnung stützen? - Was macht sie attraktiv? - Und, wie kann sie ihre Konflikte lösen?
muss darauf gegründet werden," antwortet er 1930, "daß der Staat ein Staat des unbedingten Rechts gegen alle Parteien des Reichstags und alle Volksschichten in gleicher Weise ist, sie muss damit begründet werden, daß das Recht auch im Privatleben mit pünktlicher Genauigkeit durchgesetzt und geschützt wird, daß das Volk das Vertrauen hat: wir leben in einem Rechtsstaat, der nicht regiert wird von wechselnder Politik, sondern nur von dem Buchstaben des Gesetzes und den Geboten des Rechts. Ein Land das in seinen Parteien so zerfallen ist wie das deutsche Volk, kann nur durch das Vertrauen geeint werden, daß wir in einem Staate leben, wo das Recht über der Wirtschaft und über allen politischen Interessen steht." (Posa PLT 19.12.1930, 16638)
Rechtsbewusstsein wider Durchbrechungstheorie zurück Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit verkörpern im staatspolitischen Denkens von Posadowsky-Wehner zentrale Kategorien und organisieren die Leitideen "Macht" und "Demokratie". Sie sind unerläßlich für die Schaffung eines gerechten Staates, dem der Bürger vertrauen kann. Auf Grundlage seiner Erfahrungen in der deutschen Revolution 1918/19 und als Oppositionsführer in der Nationalversammlung will er an die Durchsetzung dem Allgemeinwohl verpflichtender Normen und Ordnungsprinzipien ohne Rechtsstaatlichkeit nicht glauben. Den Kapp-Putsch lehnt er ab, weil dieser ein Affront gegen sein Rechtsgefühl und mit seinen rechtstheoretischen Grundsetzen zum Staatsrecht unvereinbar war.
Die Inflations- und Aufwertungsgesetze, zum Beispiel das Urteil des Reichsgerichts vom 28. November 1923, Dritte Steuernotverordnung vom 14. Februar 1924, Bankengesetz vom 30. August 1924, versetzten die Betroffen in Unruhe und Sorgen. "Als man die Aufwertungsgesetzgebung beschloss, die ungerechteste und unsittlichste Gesetzgebung des ganzen Reichsgesetzblattes, da hat man nichts von denen gewusst, die um das Erbe ihrer Eltern gebracht worden sind, um andere Kreis zu bereichern ...." (Posa PLT 27.2.1929, 4194 f.). Mit "genialen Feinsinnigkeiten" hat man alles getan, "um die Partei der Schuldner zu begünstigen". So brachte man den Mittelstand um die Früchte seiner Arbeit und die Kinder "um das Erbe ihrer Eltern", "um andere Kreis zu bereichern ...." Posadowsky (PLT 19.12.1930) erkennt,
wächst und gedeiht, wie der "Staat ein Staat des unbedingten Rechtes gegen alle Parteien des Reichstages und alle Berufsschichten in gleicher Weise ist". Auch im Privatrecht muss das Recht mit pünktlicher Genauigkeit durchgesetzt und geschützt werden. Während einer Debatte im Preußischen Landtag fragt Posadowsky den Justizminister, ob ein Gesetz beschlossen werden darf, dass gegen die Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung verstösst. In seiner schriftlichen Antwort eröffnet der Minister zwei Möglichkeiten: Erstens. Mit einer Zweidrittelmehrheit der gesetzlichen Körperschaft kann die Verfassung geändert werden. Zweitens könnte als Lösung die sogenannte
in Anwendung kommen. Empört weist dies Posadowsky
vor dem Preußischen Landtag mit Bezug auf Artikel 76 der Reichsverfassung als glatten Verfassungsbruch zurück. "Ich verstehe es nicht," stellt er konsterniert und im Ton tiefer Enttäuschung fest, "dass die Mehrheit des Reichstages ein solch verfassungswidriges Verfahren wiederholt gebilligt hat. Das gilt für die Aufwertungsgesetze und für die Kürzung der Beamtengelder als wohlerworbene Rechte." Auch im Rahmen der Geldpolitik ist dies mehrfach geschehen. Als Beweis zitiert er aus der Rede von Finanzminister Doktor Luther am 23. August 1924 vor dem Reichstag:
Ein Privatmann, der künstliches Geld macht, reicht Posa am 23. Januar 1932 bei seinem Auftritt im Preußischen Landtag empört nach, begeht ein Münzvergehen und ist nach dem Strafrecht ein Verbrecher. Mit künstlichem Geld darf man keine Schulden tilgen, "deshalb sind die sogenannten Aufwertungsgesetze null und nichtig". "Als die Reichsregierung die Aufwertungsgesetzte erließ, wo sie hundertaussende um ihr Hab und Gut brachte unter Ausschaltung des § 607 des Bürgerlichen Gesetzbuches, was die Rückzahlung von Schulden in gleichem Wert fordert, hatte sie dies Zartgefühl nicht. Aber jetzt, wo sichs darum handelt
die die Inflation im In- und Auslande künstlich herbeigeführt und dann zu ihrer Bereicherung benutzt haben, da tritt die Reichsregierung vor diese Spekulanten. Man sieht ja ganz klar: man soll nicht wissen,
"Es genügt nicht", fasst Graf von Posadowsky-Wehner 1932 seine Erfahrungen zusammen, "dass die gesetzgebenden Körperschaften fortgesetzt je nach den bestehenden Mehrheitsverhältnissen Gesetze beschließen und die Regierung aus politischen Gründen denselben willfahrt. Gesetze müssen sich durch jahrelange Anwendung im Rechtsbewusstsein des Volkes einbürgern, um tatsächlichen Gesetzeswert zu erlangen; durch die Veröffentlichungen in den Gesetzblättern wird die Rechtskraft nur urkundlich festgestellt, aber kein Rechtsbewusstsein geschaffen." (V&R 72)
Zum 80. Geburtstag gratulierten ihm: Reichspräsident Paul von Hindenburg, Reichskanzler Doktor Hans Luther, Reichswirtschaftsminister Albert Neuhaus, General der Infanterie Friedrich Sixt von Armin, Domherr von Naumburg und Großadmiral Hans von Köster, der Vizepräsident des Reichstages Doktor Jakob Riesser, der Ministerpräsident des Freistaates Preußen Otto Braun, der Bund der Domschüler, die Direktion des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg und andere.
Krieg und Frieden zurück
Am 24. August 1924 wird an der westlichsten Seite der Nordwand im Kreuzgang des Naumburger Doms zu Ehren der im Ersten Weltkrieg gefallenen Kameraden ein Gedenkstein enthüllt. 148 Namen sind hier eingemeißelt. Zwei, Ewald und Würzig, fügt man später noch hinzu. "Von den 16 Abiturienten von Ostern 1912 finden sich sieben auf der Tafel wieder, von 15 Kriegsbegeisterten, die es im August 1914 nicht abwarten konnten, in den Krieg zu ziehen, sind acht Namen in den Stein gehauen," ermittelte Julia Ziegler (2009) in einer Studie über die Kriegsgefallenen des Naumburger Domgymnasiums. Auf der langen Ehrenliste steht der Name
Er fiel in Flandern am 26. Oktober 1917 im Alter von 25 Jahren. Sein Vater Doktor Ludwig Hollaender war Oberlehrer am Domgymnasium. Mutter Julie Hollaender lebte nach dem Tode ihres Mannes noch etwa zwanzig Jahre in der Grochlitzer Straße 18. Seinen Bruder Doktor Otto Hollaender verfolgten die Nationalsozialisten. An 57. Stelle in der Liste Es starben im Weltkriege den Tod fürs Vaterland von den ehemaligen Schülern des Domgymnasiums steht der Name Gerhard Hemprich. Sohn des grossartigen Lehrers und Jugendpflegers Karl Hemprich, geboren am 17. Dezember 1867, der 1908 aus Freyburg an der Unstrut kam und die Knabenschule (Georgenschule) als Rektor übernahm. 1913 wechselt er als Bezirksjugendpfleger an das Königlicher Seminar-Oberlehrer von Merseburg und leitet bei Kriegsausbruch die Mobilmachung der Jugend. Was und wie alles zu geschehen hat, auf welchen gesetzlichen Grundlagen, wie dies organisiert wird, was die Bezirks-, Kreis- und Ortsausschüsse für Jugendpflege zu tun haben, legt Karl Hemprich 1 9 1 4 auf 16 Seiten Format A 5 unter dem Titel
dar. Ein Jahr später zerfleischt die Kriegsbestie seinen Sohn Gerhard, eines der vier Kinder aus der Ehe mit Gertrud, geborene Wächter. Der Primaner, blond, blauäugig, hochgewachsen, gesund und immer heiter, hatte sich freiwillig zum Infanterieregiment 67 nach Metz gemeldet. Ein anderer Sohn von Gertrud und Karl Hemprich, Siegfried, starb früh. Ihr Töchterchen Kätchen raffte im Alter von acht Jahren eine unheilbare Erkrankung dahin. "Diese Wunde hat sich nie wieder geschlossen." Aufopferung und Einfühlungsvermögen des Jugendpflegers haben hier ihre Quelle. (Vgl. Weicker 45-47) Am Sonntag, den 24. August 1924 um ½ 9 Uhr finden sich alle Domschüler auf dem Schulhof ein. Eine Stunde später sitzen sie brav in der Marienkirche und hören die Predigt mit der Botschaft an die Jugend von Pfarrer Mühe:
Nach dem Gottesdienst ziehen Schüler, Lehrer und Gäste im geschlossenen Zug zum Denkmal in den Kreuzgang des Doms um, wo dann bald die Worte über Deutschland von einer sittlichen Weltmacht, in des Wortes edelster Bedeutung zu hören sind. War der Einmarsch der deutschen Truppen 1914 in Belgien nicht selbst schon ein sittlicher Grenzdurchbruch? Der Ort ist feierlich geschmückt. Vor der Tafel aus Krensheimer Kalkstein wachen je zwei Offiziere von der Marine und den Feldgrauen, Angehörige des Bundes Alter Naumburger Domschüler (BAND). Auf ein Zeichen hin entfernen sie die Hülle. Zuvor hielt der Architekt des Denkmals, Herr Graumüller aus Saaleck, eine kurze Ansprache. Er dankte dem Bildhauer Josef Heise für das Gesamtwerk und Kunstmaler Professor Hugo Gugg (1878-1956) für den überkrönten Aufsatz der Steintafel, die den Kopf eines jugendlichen Kämpfers mit Stahlhelm darstellt. Dann hebt der Vorsitzende vom BAND zur Ansprache an. Dies ist eine Stätte der Trauer, des Dankes und des Trostes, gedenkt Professor Flemming der Toten. Aber dies ist kein Denkmal, das mahnen soll, wie es Julia Ziegler (2009) treffend formuliert, sondern es soll eine Erinnerung an die Kämpfenden sein.
Dann werden die Namen der im Ersten Weltkrieg gefallenen 150 Domschüler feierlich verlesen. Anschließend spricht Arthur Adolf Graf von Posadowsky-Wehner Freiherr von Postelwitz zur Einweihung der Gedenktafel über den Krieg, seine Folgen und die persönliche Verantwortung des Bürgers. Er hebt zur Rede an:
Warum musste eine "sittliche Weltmacht wie Deutschland" untergehen? Warum fand sich ein "Weltbund ungeheurer Übermacht gegen uns" zusammen?, fragt er. Wie konnte das Geschehen? Im feierlichen Unterton hebt der Dechant des protestantischen Domkapitels zur Festrede an:
"So möge" dieser Gedenkstein, fährt die Rede fort,
Eine Metapher, die die deutschnationalen, völkischen und alldeutschen Vordenker ebenfalls, voran bei Ehrungen, Kranzniederlegungen oder in Feierstunden, wirkungsvoll aufsagen. Im September 1933 gießen sie der Stahlhelm-Studentenring "Langemarck" und die Stadtverwaltung in den Beton des Langemarck-Denkmals. Doch Posadowsky ist k e i n Vorkämpfer des Stahlhelms und geopolitischer Revisionist. "Man dient seinem Volke nicht," warnt er, "wenn man es über seine eigenen Eigenschaften schmeichelnd täuscht und andere Völker einseitig herabsetzt." (V&R 227) Und wie man die Worte am Gedenkstein immer interpretiert, wir sollten nicht vergessen, in Totalität bemühte er sich um die ökonomische und politische Stabilisierung der Weimarer Republik, mahnte stets die Herrschaft des Gesetzes (Rechtsstaatlichkeit) an, wandte sich als Politiker den Erwartungen und Sorgen der Unterschicht zu, verteidigte die Mittelschicht gegen die staatliche Enteignung des privaten Geldvermögens und stritt für Rechtsgleichheit und -sicherheit. Im Lichte der Reziprozität der Feinbilder stand er den englischen, französischen und russischen nationalistischen literarischen und politischen Ideen kritisch gegenüber, weil sie vor dem Weltkrieg darauf bedacht, im Ausland eine starke deutschfeindliche Abneigung hervorzurufen. Im Kapitel "Über die Drei geheimen Ursachen der Verschwörung von England gegen Deutschland" wurde seine Ansichten unter Rückgriff auf den Aufsatz "Englischer Nebel" aus dem Jahre 1916 bereits erörtert. Daß Großbritannien der Krieg nicht unwillkommen war, legt er am 27. Juni 1918 in Reaktion auf die bereits dargestellte Kühlmann-Episode dar. Bevor Sigmund Freud 1938 die Bewusstseinsspaltung im medizinischen Fortschrittsbericht über "Die Ichspaltung im Abwehrvorgang" beschrieb, diagnostizierte sie 1920 Arthur Graf Posadowsky-Wehner im Aufsatz "Mr. Pecksniff" (23) beim freiheitsliebenden Engländer, der für sich, nicht aber für die bürgerliche Freiheit anderer Völker "die gleiche Rücksicht" empfindet. Deutschland hat sich mit seiner "verfehlten Weltpolitik" (Posadowsky) viele Feinde gemacht. Das weiß er und stellt dies überhaupt nicht Frage. Es war, was gut erkennbar, ein zentraler Kritikpunkt der Reichskronen-Rede vom 15. Januar 1919. Ihm ist also gegenwärtig, Deutschland muss sich zügeln und Grenzen auferlegen. Eine neue Weltpolitik, davon ist er nicht abzubringen, wäre sein Ruin. "Nur Selbsterkenntnis und Selbstbeschränkung kann uns wieder zu alten Höhen führen." "Das deutsche Volk sollte sich aber in dieser ernsten Zeit gewissenhaft prüfen . ob es die politische, wirtschaftliche und soziale Selbstbeschränkung geübt hat, die zur Ausgleichung widerstrebender Richtung und zur inneren Festigung eines auf der gesamten Volkskraft des ausgebauten Staates unbedingt notwendig sind." (Posadowsky 24.8.1924) Ist das außenpolitisch gewendet vielleicht die Bismarck-Schule? - Verzicht auf territoriale Forderungen, keine expansionistischen Bestrebungen, keine europäischen Kriege und Beteiligung an überseeischer Kolonialpolitik. Und wenn schon, in Euphorie sollten wir darüber nicht verfallen, denn der erste Reichskanzler hinterließ uns, beispielsweis in der Nationalitätenpolitik, nicht zu tilgende Hypotheken. Aber Selbsterkenntnis und Selbstbeschränkung bieten unter den Bedingungen der 20er Jahre Ansätze zur Friedenspolitik. Auf jeden Fall kontert Posadowsky die Naumburger Wilhelmisten (Kolonialverein, Alldeutsche, militante Kriegervereine) und Revisionisten (Völkische, Nationalsozialisten, Stahlhelm). Major a. D. Rothmaler hält am 23. Februar 1933 vor dem Geschichtsverein zum Thema "Was Deutsch-Südwest uns gab und was der Feind uns nahm" einen Vortrag. Er schildert welchen Vorteil dieses Land für "das Volk ohne Raum" hat und verweist auf die Rohstoffe, Diamanten und Eisen. Die Kolonie liefert uns reiche Bodenschätze. Der Referent ist ein ehemaliger Offizier der kaiserlichen Schutztruppe in Deutsch-Südwest Afrika. Er führt den Stahlhelm "Gauverband Naumburg" (Georgenberg 7) an. (NBT 23.2.1933) Also auch mit dem Kolonialverein kommt Posadowsky politisch nicht überein, denn er verhielt sich längst kritisch und ablehnend gegenüber der deutschen Kolonialpolitik. Je mehr das Volk im Verlaufe des Krieges zu immer höheren Leistungen aufgerufen war, erkennt Posadowsky-Wehner (V&R 40), fordert das immer größere Opfer von ihm. Selbstlose Menschen treten ans Licht, die Helden, sie geben das gute Beispiel. Der Krieg fordert vom Bürger das Opfer seiner Individualität und souveräner Rechte, was sukzessive eine Enthumanisierung aller Verhältnisse bedingt. Vor der Gedenktafel an der Nordwand im Kreuzgang des Naumburger Doms lebt jetzt wieder die Moral des heroischen Zeitalters auf, wenn Posadowsky aus dem um 1800 entstanden siebenstrophigen Wechselgesang des Vorspiels zur Trilogie Wallenstein, Ein dramatisches Gedicht von Schiller, den Vers zitiert:
Es ist eine gesellschaftliche Moralauffassung, die im Kontext des Dreißigjährigen Krieges steht und nicht zur Überwindung zur Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts beiträgt. Die Dialektik der Aufklärung (91) persifliert: "Wer stirbt, ist gleichgültig, es kommt aufs Verhältnis der Vorfälle zu den Verpflichtungen der Kompanie an." Und doch sollten wir uns s o n i c h t aus dem Gespräch mit Graf von Posadowsky über die Einweihung der Steintafel zu Ehren der Gefallenen Domschüler im Ersten Weltkrieg verabschieden. Zwei Momente seines politischen Denkens sind noch zu würdigen. Erstens, als er im Oktober 1918 im Reichstag sein Bekenntnis zum Frieden erhärtet: "Es wäre freilich ein Ziel, aufs innigste zu wünschen, daß es in Zukunft keine Kriege mehr gibt, daß jedes Volk friedlich seiner Kulturarbeit nachgehen kann, und daß die ungeheuren Summen, die für die Kriegsleistungen ausgegeben werden, für Kulturzwecke der Völker verwendet können". (Posa RT 23.10.1918, 6202) Zweitens. Er warnte [a] öfter vor dem Missbrauch staatlicher Autorität, trat [b] überhöhten Vollmachten staatlicher Zentralgewalt unter Umgehung der Parteien und föderativer Einheiten entgegen und erkannte [c] die destruktive Rolle von Feindbildern in den zwischenstaatlichen Beziehungen. Es sind dies bekannte realgeschichtliche Bewegungsformen, die Kriege provozieren, verursachen oder begleiten. Sigmund Freud erörtert dies feinsinnig im September 1932 in einem Brief an Albert Einstein, der das erste Mal 1933 unter dem Titel Warum Krieg? Pourquoi la guerre? Why War? veröffentlicht wird. Erstaunlich ist die Parallelität und frappierende Kohärenz, die zwischen der friedenspolitischen Gesellschaftskritik von Graf Posadowsky und den Friedensideen von Sigmund Freud und Albert Einstein bestehen.
Vordenker der staatsbürgerlich-christlichen Erziehung zurück Als Dechant des protestantischen Domkapitels Rechtsritter des Johanniterordens übernimmt Arthur Graf von Posadowsky-Wehner für die Domschule in der staatsbürgerlichen Erziehung der Jugend eine Vordenkerrolle. Vom 29. August bis 1. September 1930 feiert die Domschule das neunhunderste Jahr ihres Bestehens, woran Vertreter der höchsten Staatsbehörden, der Kirche und benachbarten Universitäten als Gäste teilnahmen. "Ich entsinne mich noch gut an die 900-Jahr-Feier der Schule im Sommer 1930," schreibt der Zeitzeuge Hans-Gert Kirsche (2006), "die mit großem Pomp begangen wurde. Als Vierjähriger sah ich aus einem Fenster unserer Wohnung am Bismarckplatz (der jetzt nicht mehr so heißt) den Festzug unter mir vorbeiziehen, in dem mein Bruder unter den Sextanern und mein Vater unter den Abiturienten des Jahrgangs 1907 mitmarschierten. Rührend und zugleich imponierend das Defilee dieser unzähligen dickbäuchigen, glatzköpfigen oder grauhaarigen alten Herren, die aus aller Welt gekommen waren, um mit der blauen Schülermütze auf dem Kopf das Jubiläum ihrer alten Schule zu feiern." Viele hundert Schüler und Gäste reisen Ende August 1930 nach Naumburg. Vor Beginn der Feierstunde müssen die Teilnehmer von der Aula in die Marienkirche am Dom umziehen. Auf dem Festakt
zum 900-jährigen Jubiläum hält der 85-jährige Dechant Arthur Graf von Posadowsky-Wehner die Festrede. Sie kreist um die sittliche und ethische Erziehung der Jugend, deren Ziel er am 2. April 1918 in Dresden auf dem Christlich-Sozialen Kongress so absteckte: "Wir sollten uns enger an das eigene Vaterland anschliessen und unsere Heimat höher schätzen lernen, die Jugend zu glühendem Staatsbewusstsein, zu Sparsamkeit, Sittenstrenge, Tüchtigkeit erziehen."
"Das selbstlose Staatsgefühl ist es," betont er, "welches zur Größe eines Volkes führt, erhaben über den Streit der Parteien. Die höchste Aufgabe der Schule ist es deshalb, dieses Staatsgefühl in den Herzen der Jugend zu entwickeln . Die Schule soll nicht nur wissenschaftlich lehren, ihre hohe Pflicht ist, sittlich zu erziehen." Von dieser Aufgabe hegt er programmatische Vorstellungen. "Religiöses Gefühl, Achtung vor dem Rechte der anderen, strenge Selbstbeschränkung, sachliches und damit gerechtes Urteil über den Menschen und Zustände, körperliche Selbstzucht, das sind die Aufgaben der ethischen Erziehung, welche der Schule neben der Bahn der Wissenschaft obliegen." (Zitiert nach Büchner 1933, 28) Der von Arthur Graf von Posadowsky-Wehner präsentierte Wertekanon der schulischen Erziehung gilt bei den Nationalsozialisten als nicht erstrebenswert, worin sich der Unterschied und Gegensatz zwischen wertkonservativer und nationalsozialistischer Denkweise spiegelt. Das Projekt einer "weltanschaulichen Erziehungsgemeinschaft", die Baldur von Schirach in "Hitler Jugend. Idee und Gestalt" (1934) mit dem Rückgriff auf Kameradschaftlichkeit und Gemeinschaft aus der Gründerzeit der HJ um 1929/30 herleitet, lehnt Posadowsky strikt ab.
29.
November 1925 Am 29. November 1925 dürfen die Bürger der Provinz Sachsen die Sitze im Preußischen Provinziallandtag verteilen. Die letzte Nominierung der Kandidaten fand 1921 zusammen mit den Wahlen zum Preußischen Landtag statt. Schon deshalb, vermutet die lokale Presse, war damals die Beteiligung besser. Indes nahmen diesmal nach ihrer Schätzung nur etwa die Hälfte der Bürger ihr Wahlrecht an Anspruch.
Posadowsky-Wehner zieht für die "Sparer" in den Provinziallandtag ein.
Reichspartei für Volksrecht und Aufwertung (VRP) zurück Ende Juni 1925 publizierte Posadowsky in der deutschnationalen Presse mehrere Aufsätze zum Aufwertungsgesetz, dass am 16. Juli 1925 im Deutschen Reichstag zur Abstimmung stand. Ihm war klar: "Es ist ein Grundfehler der Aufwertungsgesetzgebung, dass sie die rechtlichen, sozialen und politischen Gesichtspunkte völlig außer Acht gelassen hat. Von staatsmännischem Geist spürt man in ihr keinen Hauch." (Nach Keil 1925) Dies auszusprechen, fällt ihm nicht leicht. Denn er leidet unter diesen Verhältnissen, an dessen Horizont abgrundtiefe Gefahren für die zivilisierte staatliche Existenz der Bürger lauern. Seine Kritik an der Hyperinflation und Aufwertungsgesetzgebung rief alte und neue Gegner auf den Plan. Einer war Carl Severing (1875-1952), der die Bielefelder Niederlage, die ihn Posadowsky zu den Reichstagswahlen 1912 beibrachte, nur schwer verwandt. Am 15. Oktober 1925 meldet er sich im "Vorwärts", Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, zu Wort, und verbreitet folgende Geschichte: "Jetzt aber, in diesen Sommertag, sind Ihre politischen Freunde, meine Herren von der Deutschnationalen Volkspartei, an mich herangetreten bzw. an die Herren meines Ministeriums mit dem Ersuchen diesen Landrat recht bald abzuberufen. (Lebhafte rufe: Hört! Hört! links)" Das hatte etwas Ungeheuerliches: "Es war ja vor allem die Deutschnationale Partei," wie SPD-Experte Hugo Heimann eben in diesem Moment in Der Kampf um die Aufwertung (1925, 54) klar stellte, "die durch ihr Tun und Lassen das ganze Unglück verschuldet hatte." Die Reichspartei für Volksrecht und Aufwertung (VRP) war eine Splitterpartei. In weiten Teilen der Öffentlichkeit entstand der Eindruck, als ob die Sozialdemokraten ihr gegenüber Wahlrechtsbeschränkungen befürworten. Ja mehr noch, teilt Wilhelm Keil 1928 im "Vorwärts" (Berlin) mit, aus zahlreichen Zuschriften ist abzulesen, dass im Lande die Meinung herrscht, "als sei die Sozialdemokratie eifrig bemüht, die sogenannten Splitterparteien durch neue gesetzliche Vorschriften zu erdrosseln." "Niemand aber denkt daran," betont der Sozialdemokrat, "durch Änderung der Verfassung oder des Wahlgesetzes die Bildung neuer Parteien oder die Entwicklung bestehender kleiner Parteien zu unterbinden." Wilhelm Keil (1870-1968), einst Landtagsabgeordneter der zweiten Kammer der Württembergischen Landstände und nach 1918 SPD-Abgeordneter in der Nationalversammlung und im Reichstag, befaßte sich tiefgründig mit der Entstehung, Entwicklung und Folgen der Hyperinflation. Nach seiner Auffassung, hatte die Sozialdemokratie keinen Grund, den Kampf gegen die Splitterparteien aufzunehmen. Das Auftreten verarmter Sparer und Gläubiger als besondere Partei, muss man deshalb trotzdem nicht unterstützen. Aber wir haben kein Recht, die Entwicklung dieser Parteien zu unterbinden. Besser wäre, schlägt Wilhelm Keil vor, wenn die Bürger in Parteien aktiv werden, die seither für ihre Interessen eingetreten sind. Aber das Vertrauen in die Parteien ist schwer gestört. Das Bild, was sie abgeben, bleibt oft unter den Erwartungen der Bürger. Zum Beispiel, wenn während der Debatte über das Gesetz zur Aufwertung der Hypotheken am 13. Juli 1925 im Reichstag nicht mehr als ein Dutzend Abgeordnete ständig anwesend waren, kommen ernste Fragen zur Arbeitsweise der Parlamentarier auf. Unter anderen redeten Genosse Keil (SPD), Dr. Korsch (KPD) und Dr. Best. Es war unmöglich irgendwelche Verbesserungen durchzusetzen. Ein SPD-Antrag wurde mit 177 gegen 224 Stimmen abgelehnt. Dass die Deutschnationale Fraktion dem Aufwertungskompromiss zustimmen könnte, erschien Posadowsky unmöglich, weil dies im schärfsten Gegensatz zu ihren bisherigen Forderungen und Versprechungen stand. Um den 16. Oktober 1926 berichten die Zeitungen, dass die verschiedenen Sparergruppen die Reichspartei für Volksrecht und Aufwertung (VRP) ins Leben gerufen haben. Ihr Führer ist Arthur Graf von Posadowsky-Wehner aus Naumburg. Die Partei trotzt der Regierung, weil das Gesetz über die Aufwertung von Hypotheken und anderen Ansprüchen vom 16. Juli 1925 einen Vermögensverlust bis zu 97 Prozent brachte. Am
tagen die VRP-Anhänger im Preußischen Hof. Der zweite Vorsitzende der Ortsgruppe des Sparer- und Hypothekengläubiger-Verbandes eröffnet die Versammlung und begrüsst Arthur Graf von Posadowsky-Wehner mit den Worten "der Kampf, den er führe, habe sich gerichtet gegen Regierung und Volksvertreter, die ihr Volk entrechtet und enteignet hätten; nicht ein Knechtsstaat, sondern ein Rechtsstaat müsse erst wieder geschafft werden ...." Dann gab er die Auflösung der Ortsgruppe bekannt. Anschliessend hält der Gast einen ansprechenden und inhaltsreichen Vortrag, von dem die Passage überliefert: "Der Ausfall der Zinsen, welche die Gläubiger zu beanspruchen hätten, ziehe jetzt der Staat in Form einer Hauszinssteuer ein, darunter hätten Wirtschaft, Mittelstand, Hausbesitzer und Mieter zu leiden." Dann erläutert er die Notwendigkeit der Gründung der Reichspartei für Volksrecht und Aufwertung (VRP). Nach längerer Aussprache über die Richtlinien der Partei, wurden diese für gut befunden und einstimmig beschlossen einzutreten für:
Die Anwesenden delegieren Graf von Posadowsky-Wehner vom 22. bis 23. Oktober 1927 zum Parteitag nach Stuttgart.
Bei den preußischen Landtagwahlen am 20. Mai 1928 erringt die Volksrechtspartei zwei Mandate. Eins nimmt Posadowsky wahr.
Obwohl sich die Reichspartei für Volksrecht und Aufwertung ein halbes Jahr nach seinem Tod in Hitlers Arme wirft, darf man nicht sagen, dass Arthur Graf von Posadowsky-Wehner dem nationalsozialistischen Herrschaftsmodell irgendwie nahegestanden hat. Nicht die Diktatur war sein Ziel, sondern der Volksstaat, der die faire Beteiligung aller Klassen und Schichten an der Machtausübung garantiert.
Haushaltskrise
in Preußen Als Abgeordneter des Preußischen Landtags unterbreitet Posadowsky zur Überwindung der Wirtschafts-, Staats- und Haushaltskrise 1929/32 zur Verwaltung, Förderungspolitik und Haushalts-Einsparungen Vorschläge. Angesichts der desolaten und sich weiter verschlechternden finanziellen Lage der meisten Kommunen, tat er sich schwer, dafür salbungsvolle Worte zu finden. "Man muß im Gegenteil dem Volke sagen: Die Grundlage des Haushalts sind gesunde Finanzen, und diese Finanzen müssen selbst mit den Opfern des Volkes in Ordnung gebracht werden." (Posa PLT 19.12.1930, 16637) Die Haushaltskrise ist nur durch Sparsamkeit, effektiven Mitteleinsatz und Disziplin zu überwinden. Man konnte sich noch unbeliebter machen, wenn man gegen die (manchmal unsinnigen) sozialen Subventionen polemisierte. Etwas wütig stösst er heraus: "Mit einer Subventionspolitik wird das Geld des Steuerzahlers in einen Abgrund geworfen, der nicht mehr ausfüllen ist." Im Land Preußen stiegen die Personalausgaben 1929 um 49,5 Millionen Mark und der Haushaltsfehlbetrag erhöht sich auf 88,5 Millionen Mark. "Das ist viel für den Staat Preußen", erläutert Posadowsky seinen Kollegen am 13. Dezember 1929 im preußischen Landtag. "Es ist dringend notwendig, dass unsere Verwaltung wesentlich vereinfacht wird. Wir können die sehr aufgebauschte Verwaltung, wie sie nach der Revolution entstanden ist, finanziell nicht mehr länger tragen." (Posa PLT 23.1.1932, 23886) Verärgert darüber, das "drei Finanzminister hintereinander" "eine Senkung der Steuern versprochen" haben, äussert er am 10. Dezember 1930 (16638) in der Debatte des preußischen Landtags: "Wie die Herren Finanzminister diese Erklärung abgeben konnten, das kann ich nicht verstehen. Denn daß in einem Lande, das solche Reparationslasten zu tragen hat und durch die wirtschaftliche Krise so traurig darniederliegt, es nicht möglich sein würde, eine ernstliche Senkung der Steuern herbeizuführen, das ist klar." Scharfe Kritik übte er an den Monstergehältern der Oberbürger- und Bürgermeister. Zwei von ihnen ließen in einem Ort mit 22 000 Einwohnern die Gewerbesteuern erhöhen, damit sie ihre Gehälter anheben konnten. (Posa PLT 15.12.1928, 1628) Statt der versprochenen Steuersenkung bekamen die Bürger eine fünfprozentige Erhöhung der Einkommensteuer, die Ledigensteuer, die Bürgersteuer und die Beamten-Steuer (in Form der Verkürzung der Beamtenbesoldung) (Posa PLT 10.12.1930, 16638).
Zur Bekämpfung der "Verbrecherseuche" forderte er eine starke Polizeitruppe. Als Gegenfinanzierung könnte nach seiner Ansicht der Ausbau der Akademien unterbleiben. Genussmittel wie Alkohol und Tabak, was ebenfalls nicht populär war anzukündigen, sollen stärker besteuert werden. Vor der Absenkung der wichtigen Steuern, ist aus finanzpolitischen Gründen zu warnen. Als notwendiger denn je, begreift er das Weiterbestehen einer selbständigen Kirche und die Wahrung der Religionsfreiheit. In der natürlichen Autorität der Institution und Persönlichkeit erblickt er notwendiges Moment der sozialen Erziehung und vernünftigen staatlichen Herrschaft. Ein unbequemer Gedanke, den nicht alle verstehen.
Im
Streit um eine wirtschaftspolitisch "Der 85-jährige Aufwertler Graf Posadowsky sah in der Inflation und deren Urhebern wie Stinnes usw. die Grundursache für die Verelendung des Volkes und forderte allen Ernstes einen Untersuchungsausschuss damit die Schuldigen endlich zur Rechenschaft gezogen werden können." (Vorwärts, Berlin, 31. Januar 1931)
1928 delegiert die Reichspartei für Volksrecht und Aufwertung Posadowsky als Abgeordneten in den Preußischen Landtag. Er konzentriert sich auf die Aufarbeitung der Hyperinflation und Aufwertungspolitik. Dieses
fordert er am 10. Oktober 1930, muss genau untersucht werden. Sein Ziel ist eine rechtsstaatliche, wirtschaftspolitisch verantwortungsvolle und sozial gerechte Geldpolitik. Dazu ist es nach seiner festen Überzeugung notwendig, die ideologische Verschleierung der betreffenden Vorgänge zu enttarnen und die Ursachen der Hyperinflation aufzuklären. Konsequent hält er am 15. Dezember 1928 vor dem Preußischen Landtag an folgender Prämisse fest:
"Zuruf links: Sie müssen nach rechts sehen! Das sitzen die Kerle! - Gegenruf: Er guckt ja nach rechts; Ihr müsst nur die Stellung nehmen! - Heiterkeit."
Aus Anlass seines 85. Geburtstages erwies ihn der Rechtsausschuss des Preußischen Landtags eine ehrende Geste. Er beschloss, dass Staatsministerium möge untersuchen, "welche Elemente und Personen die Inflation hervorgerufen haben". Das war endlich eine Entgegnung auf die freche Lüge, dass die Inflation einfach gekommen sei. Hierauf warteten alle brennend, die in ihr eine kalte und verbrecherische Tat sahen. "Aber es ist leider nicht anzunehmen, dass die Annahme des Antrags eine andere Bedeutung hat als ein Blumenstrauß, der am selben Tag auf dem Platz des Jubilars gelegt wurde. Eine Höflichkeit. Der Staatsgerichtshof ist kein Untersuchungsausschuss, - er wäre für diese Frage nicht zuständig, selbst wenn sie ihn überraschenderweise interessierte". (Tagebuch 1930) Tief bewegt trägt er am 18. Oktober 1930 dem Preußischen Landtag vor:
Zu diesem Zweck ergeht an das Hohe Haus der Antrag, schleunigst ein Gesetz zu verabschieden, durch welches der Staatsgerichtshof, beauftragt wird zu untersuchen, ob und welche ausländische Stellen und welche amtliche Personen und ob Privatpersonen im Inland auf die planmäßige Steigerung des Dollarpreises gegenüber der deutschen Mark hingewirkt und damit planmäßig die deutsche Währung zerrüttet haben. Ein Jahr vergeht und die Regierung antwortete noch immer nicht darauf. Dann bittet er persönlich den preußischen Ministerpräsidenten um eine Erklärung. Am 23. Januar 1932 tagt wieder der Preußische Landtag. Und wieder keine Antwort! Erneut rollt Posadowsky die Sache im Plenum auf und rüttelt verzweifelt am Gewissen der Abgeordneten:
Was meint er mit "Finanzkräften des Auslandes"? Wenig Monate nach dem im November 1918 in einem Eisenwahnwaggon auf einer Lichtung im Wald von Compiègne der französische Marshall Ferdinand Foch den Deutschen die Bedingungen des Waffenstillstandes aushändigte, stürzte die Mark im Kurs gegenüber dem Dollar ab. Jetzt wurde das Ausmaß der Kriegswirtschaft und -inflation sichtbar. Sofort erhöhen sich die Verbraucherpreise und die Reallöhne sinken. Eine Stützung der Mark unterblieb, was bei der Aufklärung und politischen Bewältigung der Hyperinflation eine große Rolle spielen wird.
Die Hyperinflation 1923 bewirkte "eine ungeheure Umverteilung der deutschen Vermögen zu Lasten der Geldsparer und Geldbesitzer und zugunsten der Sachwertbesitzer". Posadowsky versuchte, die für nachfolgende Generationen in Ausmaß und Tiefe nicht zu erahnende Bitterkeit, den Betroffenen zu helfen. Er widmete sich der Aufklärung der Inflationsverbrechen, forschte nach den Verantwortlichen und unterbreitete Vorschläge zur Aufwertungspolitik.
Darüber sprach er erneut am 19. Dezember 1930 im preußischen Landtag. Zunächst reagiert er auf die Rede des Finanzministers Hermann Höpker-Aschoff (DDP, DStP) und erweist ihn mit folgenden Worten seine Referenz: "Wir haben von dem Herrn Finanzminister eine sehr klare Rede über die Lage unserer Finanzen gehört. Ich bedauere den gegenwärtigen Herrn Finanzminister, der offenbar redlich bemüht ist, Ordnung in unsere Finanzen zu bringen - dafür sollten wir ihm dankbar sein - (Sehr gut! bei der D. Staatsp.), daß er diese verfahrene Finanzverwaltung übernommen hat. Es kann nicht genug daran erinnert werden, daß nach der Stabilisierung der Mark im Reich, in den Ländern und in den Gemeinden sehr leichtfertig gewirtschaftet hat. Unsere jetzige traurige Finanzlage hängt mit dieser leichtfertigen Wirtschaft früherer Finanzminister [unter anderen Ernst von Richter (DVP), Otto Braun (SPD)] und mit der leichtfertigen Wirtschaft innerhalb der Gemeinden und Länder zusammen. Bei der Stabilisierung der Mark wußte man bereits ganz genau, welche fürchterlichen Reparationslasten wir zu tragen haben würden. Da mußte man mit den Groschen wirtschaften; aber was hat man getan?" Mit voller Hand hat man das Geld ausgegeben." (Posa 19.12.1930, 16636f.) In weiteren, anderen Teil der Rede befasst sich Posadowsky mit der Aufklärung der Inflationsverbrechen. Für eine derart ernste, tiefgreifende staatspolitische Rede waren die äußeren Umstände denkbar ungünstig.
An diesem Tag lehnt das Parlament, indem die preußische Regierung über eine Mehrheit von zehn Stimmen verfügt,
der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) gegen Otto Braun (1872-1955), SPD, und Innenminister Carl Severing (1852-1952), SPD, wegen ihrer Stellungnahme zum Erich-Maria-Remarque-Film "Im Westen nichts Neues" mit einer Mehrheit von 42 Stimmen ab. Das organisierte Zwischenspiel der DNVP (17,5 Prozent!), freudig von den Nationalsozialisten orchestriert, platze in die Haushaltsdebatte hinein.
Posadowsky spricht: "Die Vorgänge der Inflationszeit sind eine der Ursachen unseres Unglücks; die Folge davon ist die unselige Aufwertungsgesetzgebung gewesen, welche die Gläubiger, Hundertausende von Menschen, um Hab und Gut gebracht hat; diese Vorgänge und die Ursache der uns auferlegten fürchterlichen Reparationen, weil die Vertreter des deutschen Reiches, in London gewagt haben, zu erklären:
Daraufhin, daß die amtlichen Personen unseren Feinden das erklärt haben, wurden Deutschland die maßlosen Reparationen auferlegt." Eine ernste Sache, "die wir bis zum Jahre 1985 ertragen sollen . " (Posa PLT 19.12,1930, 16635 bis 16636) Eine andere Quelle gibt diese Stelle der Rede so wieder: "Das Verlangen einer Untersuchung, welche verbrecherischen Elemente die Inflation hervorgerufen haben, sei vom Reichskanzler kalt abgelehnt worden. Damit stellte sich der Reichskanzler vor die verbrecherischen Elemente. (Rufe links: Vor Hugenberg!) Ich könnte viele Namen nennen, vor allem Stinnes, der alles an sich gerissen und damit ein Riesenvermögen gemacht hat." (Schluss-Sitzung 19.12.1930)
Posadowsky fährt in seiner am 19. Dezember 1920 fort: Der deutsche Reichskanzler lies verlauten, dass er nicht die Absicht hat, dies untersuchen zu lassen. "Damit stellt sich der Herr Reichskanzler und die Reichsregierung vor die verbrecherischen Elemente, die die Inflation dazu herbeigeführt und benutzt haben, ungeheuere Vermögen zu erwerben. (Zuruf links: Hugenberg!) Und wie begründet der Herr Reichskanzler diese Antwort? "Weil in diesem Falle eine rechtliche Handhabe zur Anrufung des Staatsgerichtshofes fehlschlug." Mir ist das unbegreiflich, wie der Herr Reichskanzler eine solche Antwort erteilen konnte; in unserem Antrag steht ausdrücklich: wir beantragen, daß ein Gesetz erlassen wird, das den Staatsgerichtshof mit der Untersuchung der Urheber der Inflation beauftragt. Wenn sie die Gesetzessammlung vor dem Kriege und in der Nachkriegszeit vergleichen, dann erkennen Sie, wie heute das Mittel der Gesetzgebung benutzt wird, und für alle möglichen Kleinigkeiten Verordnungen herbeizuführen. In dieser wichtigen Sache aber lehnt man die Schaffung eines Sondergesetzes ab! . wir wollten eben durch unseren Antrag die Zuständigkeit des Staatsgerichtshofes auf dem Wege eines Sondergesetzes schaffen. Über alle möglichen örtlichen Angelegenheiten werden Untersuchungen angestellt, und hier lehnt der Reichskanzler eine Untersuchung ab. Das ist charakteristisch! Er sagt weiter: "Außerdem wäre es sehr zweifelhaft, ob eine solche Untersuchung einen solchen Erfolg haben würde." Hat man sich denn bisher, wenn Ereignis untersucht, eine Schuld festgestellt werden sollte, vorher gefragt, ob die Untersuchung einen Erfolg haben würde? Das wird doch davon abhängen, ob diese Untersuchung nicht im politischen Sinne geführt wird, sondern sachlich, ob die richtigen Zeugen eidlich vernommen werden, und diese vereidigten Zeugen nicht einen Meineid schwören, sondern die Wahrheit sagen. Ein solcher Einwand ist nur ein Verlegenheitseinwand. Schließlich sagt der Herr Reichskanzler: Man würde vergebliche Hoffnungen bei den Geschädigten erwecken. Welche Zartheit des Gefühls! Das erinnert mich daran, dass vor einiger Zeit ein Herr meine Hilfe in Anspruch nahm, dem auch eine Zeitung zur Verfügung steht, weil ein Gut, das er besaß, gegen vollständige Entschädigung für Siedlungszwecke enteignet wurde. Dieser Herr schrieb an mich: Wie kann man mir mein Eigentum nehmen!" "Bei manchen Menschen fängt eben das Rechtsgefühl erst an," rekapituliert Graf von Posadowsky seine Erfahrungen, "wenn es sich um ihre eigenen Rechte handelt. (Sehr richtig!)" (Posa, PLT 19.12,1930, 16635 bis 16636) Große Teile der meinungsbildenden Presse taten alles, um die Rede in ihrer Bedeutung zu schmälern. Die sozialdemokratische "Volksstimme" aus Magdeburg stellte sie zwei Tage später unter die Überschrift:
Devot und ziemlich lustlos fällt der Kommentar aus: "Zunächst begründete er lang und breit einen Antrag, der eine Untersuchung über die Ursachen der Inflation fordert. Dann aber erkennt er das ehrliche Bemühen des Finanzministers an, die Staatsfinanzen in Ordnung zu bringen . " (Landtag in Ferien 21.12.1930)
Intervention und Subvention zurück Staatliche Subventionen für die Wirtschaft sind in der Weimarer Republik ein politisches Dauerthema. Was soll, was darf der Staat tun? Den Fürsten die Millionen hinterherwerfen oder sie für den Siedlungsbau der Arbeiter einsetzen? "Die Regierung bemüht sich die Wirtschaft durch fortgesetzte Eingriffe in das Privateigentum zu helfen," moniert Posadowsky, "aber wo sie auf der einen Seite hilft, das schadet und zerstört sie auf der anderen Seite." (Posa PLT 23.1.1932, 23886) "Ein Staat, der auf Kosten der Steuerzahler fortgesetzt ungeheure Subventionen und Bürgschaften für privatwirtschaftliche Unternehmungen gewährt, verlässt den wirtschaftlichen Grundsatz, dass jeder das Risiko seines Unternehmens tragen muss, wenn nicht der Staat Gefahr laufen soll, in den Strudel des wirtschaftlichen Lebens in einem Maße zu geraten, dass die Grundlage jedes geordneten Staates, geordnete Finanzen, aufs schwerste erschüttert wird." (V&R 213)
Die aktuelle Wirtschaftspolitik betrachtet er skeptisch, weil der Staat der Industrie Kredite, zum Beispiel 1921 den Junkers Werken 21 Millionen Goldmark für den Flugzeugbau in Russland, gewährt. Als das Geld nicht reicht, kommt es zum Krach. Das Reich hilft 1925 noch einmal. Aber das Werk gerät erneut in Schwierigkeiten . Der Vorsitzende der Deutschnationalen Volkspartei Alfred Hugenberg (1855-1951) unterbreitet am 22. Dezember 1930 im Reichstag den Vorschlag für ein Großsubventionsprogramm der Agrarier. Die gesamte Landwirtschaft soll für zahlungsunfähig erklärt und die Großagrarier 3 bis 4 Milliarden Mark geschenkt bekommen (VS 24.12.1930). Die Landwirtschaft ist im Rahmen der Aufwertungsgesetzgebung und entgegen der Order von Paragraph 607 des Bürgerlichen Gesetzbuches zu 75 Prozent auf Kosten ihrer unglücklichen Gläubiger entlastet. 1932, soll die Zinslast der Landwirtschaft mit Staatshilfe, also wiederum auf Kosten der Steuerzahler erheblich gesenkt werden. (Vgl. V&R 91)
Im Reichshaushalt haben wir 771 Millionen Mark Defizit, referiert am 19. Dezember 1930 Posadowsky vor dem preußischen Landtag: "Die Regierung hat jetzt einen Umbau der Steuern durch Notverordnung vorgenommen; es ist traurig, dass der Parlamentarismus im Reichstage so versagt hat, dass eine Notverordnung ergehen musste, um die Ordnung der Finanzen des Reiches zu sichern." In dieser Situation sollte man, lautet seine Einschätzung, sparen, keine Steuersenkungen vornehmen oder gar das ganze Steuersystem umbauen. Denn: "Wenn sich unsere wirtschaftlichen Verhältnisse weiter so verschlechtern, wenn die Arbeitslosigkeit weiter wächst, dann wird der Umbau der Steuern in Gefahr kommen zusammenzubrechen." (Posa PLT 19.12.1930, 16642) "Wir müssen endlich einmal dem Gedanken nähertreten, aus der mittelalterlichen deutschen Burg ein Haus für das lebende Geschlecht und für seine wirtschaftlichen Bedürfnisse zu bauen." (Ebenda) Mit der Methode des rechnenden Finanzpolitikers stößt Posadowsky öfter nicht auf Gegenliebe. Am 23. Januar 1932 debattiert der Preußische Landtag über die Spar- und Reichsnotverordnungen. Abermals stehen die Subventionen in Kritik. "Die Städte", argumentiert er, "können nicht einerseits, weil sie notleidend sind, Staatshilfe in Anspruch nehmen und andererseits Subventionen an Theater zahlen ..... ein großer Teil theatralischen Aufführungen dient nicht der seelischen und geistigen Bildung, sondern oberflächlichem Zeitvertreib." Schon einmal, in der Landtagsdebatte am 19. April 1929, war von ihm zu hören:
"Es ist dringend notwendig, daß unserer Verwaltung wesentlich vereinfacht wird. Wir können diese aufgebauschte Verwaltung, wie sie nach der Revolution entstanden ist, finanziell nicht mehr länger tragen." (Posa PLT 23.1.1932, 23886)
Aber
man hörte kaum die Sätze, Erst am 8. Juni 1928 sah der Vorwärts in Berlin eine widerwärtige und beschämende Szene. Den Anlass bot die Konstituierung des neugewählten Preußischen Landtags. Es begann feierlich. Vor der Sitzung fanden in der Hedwigskirche und im Dom Gottesdienste statt. Anschließend traten die Abgeordneten im Gebäude des Preußischen Landtages in der Prinz-Albrecht-Strasse (Niederkirchnerstraße) zur ersten Sitzung zusammen. Eröffnet wurde sie, berichtet am Tag darauf der Sozialdemokratische Pressedienst, durch den ehemaligen kaiserlichen Staatssekretär und Vizekanzler Posadowsky-Wehner "mit einem klugen Bekenntnis zur Republik".
Leider waren die äußeren Umstände nicht dazu angetan, um dies von Seiten der Parlamentarier würdigen zu können. Der Alterspräsident erlaubte sich, ihnen ans Herz zu legen, den Rechtsstaat zu schützen und zu verteidigen, ihn vor jeder Art der Vergewaltigung zu bewahren. Zum gelungenen Staatsleben gehört bekanntlich auch etwas Kompromissbereitschaft, weshalb von ihm die Aufforderung erging, es möge doch jeder sich in einem natürlich gegebenen Maß mit der Staatsordnung abfinden, egal ob der Aufbau des Staates seiner innerlichen Auffassung Rechnung trage oder nicht. Das war für die parlamentarisch-kommunistischen Linke zuviel des Guten. "Schon während der Rede des 84-jährigen Posadowsky, der doch wahrhaftig keiner Partei wehtun konnte, gefielen sich einige Kommunisten darin, mit sinnlosen Zwischenrufen und Gebrüll die Stimme des Alten zu übertönen." (Vorwärts) Ihre Fraktion besaß im neugewählten Landtag 56 Mandatsträger, damit zwölf mehr als in der vorhergehenden Sitzungsperiode. Unmittelbar nach den ersten Worten stießen sie gegen Posadowsky die wildesten Schimpfworte aus: "Nieder mit der Regierung!", "Arbeitermörder!", "Amnestie!". Alles mit der kalten Ruhe, registrierte die Vossische Zeitung, die beinahe auf eine lange Vorübung schließen lassen könnte. Als die Kommunisten die Freilassung zweier ihrer Abgeordneten, die vom Reichsgericht wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu Festungshaft verurteilt waren, beantragten, heizte sich die Stimmung schnell weiter auf. Über einen entsprechenden Antrag wollte die Fraktion ihre Teilnahme erwirken. Das Reglement verlangte dazu unbedingt die Zustimmung aller Abgeordneten, was jedoch Doktor Ponsick von der Christlich-Nationalen Bauernpartei wenig interessierte. Er dachte nicht daran, dies zu unterstützen, weshalb es so weiter ging: "Ein paar kommunistische Abgeordnete unter Führung des Abgeordneten Gohlke spazierten in aller Ruhe auf die rechte Seite des Hauses herüber, holten sich Ponsick heraus und schlugen ihm langsam aber gründlich die geballte Faust ins Gesicht." (LVZ 9.6.1928) "Eine ganz andere Frage ist aber die", auf deren Beantwortung der Vorwärts (Berlin) drängt, "ob das Faustrecht mit der verstärkten kommunistischen Fraktion seinen Einzug ins Parlament halten darf." Bei der Stimmungsmache zur Eröffnungssitzung, tat sich der kommunistische Abgeordnete Wilhelm Kaspar (1892-1985) hervor. So wie die Dinge liegen, muß daran erinnert werden, dass, während er einst noch beim tief reaktionären Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband, der den Streikenden im März 1920 in den Rücken gefallen war, herumtollte, sich der Graf mit dem Verfassungsstaat gegen die Kapp-Lüttwitz Leute aufwarf. Als Staatssekretär des Reichsschatzamtes und Inneren gestaltet er vom liberal-konservativen Standpunkt die ökonomischen Lebensfragen der arbeitenden Klasse und erreichte über die Sozialgesetzgebung historische Fortschritte. Ihm schlechterdings vorzuwerfen, dass er jetzt nicht auf die Barrikade klettert und die revolutionäre Sozialpolitik vollendet, löst den Verstand völlig von den Verhältnissen ab.
Als er von den Rechten und Pflichten des Bürgers sprach, drohten seine Worte im Saal endgültig im Krach und Lärm unterzugehen. Fünf Jahre später verhallen in Deutschland wieder ungehört Stimmen, die quälenden Schreie von bürgerlich Oppositionellen, Sozialdemokraten, Gewerkschaftern, Anarchisten und Kommunisten, die in den Kellern der SA-Feldpolizei misshandelt und gefoltert werden.
Diese
Politik ist nicht mehr erträglich zurück Zum 8. Dezember 1931 ergeht die Vierte Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens. Posadowsky betrachtet ihrem Inhalt nach mit den Rechten der Verfassung als unvereinbar. Dazu legt er am 16. Februar 1932 in der Debatte des Preußischen Landtags ausführlich seine ablehnende Haltung dar. Das Fundament hierfür bildet sein Faible für das Rechtsbewusstsein, der Widerstand gegen die verfassungsrechtliche Durchbrechungstheorie und sein Bekenntnis zu den liberalen Rechtsstaatsprinzipien. Zudem erlaubt ihn seine Position im System der Parteien des Preußischen Landtags ein weitgehend unabhängiges Urteil. In der Begründung stützt er sich dabei auf Artikel 48 der Verfassung über die Regelung zur "Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung". Gewiss, der Reichspräsident kann erforderlichenfalls "mit Hilfe der bewaffneten Macht" einschreiten. Ja, argumentiert Posadowsky, wenn wirklich eine "unmittelbare Störung der öffentlichen Ordnung vorliegt", dann schon. Doch die gegenwärtigen Massnahmen der Notverordnung können daraus nicht abgeleitet werden oder begründet werden. Ihm ist "unbegreiflich", dass der Staat in das Zinsrecht eingreifen kann, eben wie verordnet: Kürzung des Zinsdienstes um 2 Prozent, womit das Gläubigerkapital um den vierten Teil gekürzt wurde. (Vgl. PLT 16.2.1932, 24108) "Das ist ja das schlimmste an allem, daß bei der Regierung, die in allen ihren Teilen die volle Verantwortung für diese Notverordnung trägt, so geringes staatsrechtliches und wirtschaftliches Verständnis und so wenig bürgerliches Gerechtigkeitsverständnis besteht." (Posa PLT 16.2.1932, 24110) Streit hierum gab es auch anderen Ortes. In der Besprechung des Reichkanzlers am 15. Juni 1931, 12 Uhr, mit Gewerkschaftsvertretern erheben einige Teilnehmer gegen die Politik der Notverordnungen ernste staatsrechtliche Einwände. "Die Notverordnung enthalte" Dinge, bringt ein Beteiligter zum Ausdruck, die nicht zu verteidigen seien." Der Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), Herr Theodor Leipart, erklärte in dieser Beratung, "daß er trotz des Gehörten, das für ihn kaum Neues gebracht habe, nicht davon überzeugt sei, daß die Notverordnung unabänderlich sei. Die Gewerkschaften seien vielmehr überzeugt, daß die praktische Durchführung der Notverordnung ins Chaos führe." Der Gewerkschaftsmann fürchtet (a) die gefährliche Volksstimmung, (b) einen Rechtsrutsch und (c) die sozialen Folgen. Graf von Posadowsky macht vor dem Preußischen Landtag vor allem verfassungs- und staatsrechtliche Einwände gegen die Notverordnungen geltend. "Nein, meine Herren von der Regierung," reibt er ihnen am 16. Februar 1932 unter die Nase, "man kann einen Verfassungsstaat, von dem man behauptet, dass er der freieste Staat der Welt sei, und ein Volk mit mehr als tausendjähriger Kultur nicht mit solchen Notverordnungen regieren." Um seiner Empörung die notwendige Wucht zu verleihen, zitiert er die englische "Times" mit den Worten: "Die jüngste Notverordnung stelle Eingriffe in die bisherigen Rechtsverhältnisse insbesondere privatrechtlicher Art dar, wie sie bisher außerhalb der Sowjetrepublik noch nicht dagewesen seien." Das Notverordnungsrecht wurde missbraucht, um Gesetze durchzubringen, die mit der öffentlichen Ordnung nichts zu tun haben. "Diese Politik ist nicht mehr erträglich, und ich [Posadowsky] hoffe, daß, falls der Reichstag seine Pflicht nicht tut, das deutsche Volk sie tun und seine Stimme mächtig erheben wird, wie das jetzt schon vielfach geschieht." (Alles Posa PLT 16.2.1932, 24108)
Sein Herz schlug für Deutschland! zurück Am 23. Oktober 1932 stirbt Arthur Graf von Posadowsky-Wehner in Naumburg im Alter von achtundachtzig Jahren.
Sein Herz schlug für ein modernes Deutschland. Ein respektables Staatsbegräbnis, wie man hörte, soll es gewesen sein. J e t z t, ja jetzt trauern sie auf seinem letzten Weg um ihn. Doch wo waren s i e, als es darauf ankam, der bürgerlich-nationalen Politik eine demokratische und volkwirtschaftlich reale Reformperspektive zu geben? Da hießen ihre Helden und Sympathieträger Max Jüttner (1, 2, 3), Theodor Duesterberg (1, 2, 3), Franz Seldte (Stahlhelm), Kamerad Löwe (Stahlhelm), Georg Schiele (DNVP), nach 1930 Friedrich Uebelhoer, NSDAP-Ortsgruppe, und 1932 Doktor Wolfgang Schöbel, Vorsitzender des Kreisvereins der Deutschnationalen Volkspartei. Warum hakten sich die Bürger damals nicht bei Graf von Posadowsky unter? W a r u m? In Naumburg existiert eine beachtliche deutschnationale Wählerschaft. Der Wahlaufruf der Deutschnationalen Volkspartei am 25. November 1924 im "Naumburger Tageblatt" bietet dem "versinkenden Mittelstand" seinen Schutz an. Deutschnationale und der mächtige Bund der Frontsoldaten, der Stahlhelm, kooperieren eng.
Der Extremismus der Mitte fasst im Alltag in den verschiedensten Erscheinungsformen immer mehr Fuss. Die Führungsfunktionen im Stahlhelm, in den Ortsgruppen der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei (NSDAP) und der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) oder im Kolonialbund, nehmen exponierte Vertreter des städtischen Mittelstandes wahr. Sie organisieren das Nazitum, stürmen am 8. / 9. Juli 1932 den Spechsart-Konsum. Von ihnen geht die Bücherverbrennung in den Abendstunden des 1. Juli 1933 aus. Im April 1933 organisiert das Aktionskomitee zur Abwehr der jüdischen Gräuel und Boykotthetze die Judenhetzte. Träger ist ist der organisierte wirtschaftliche Mittelstand. Ebenso verhält es sich den politischen Ambitionen des Hausbesitzer-Vereins, der sich an den Nationalsozialsten orientiert und 1933 voll und ganz auf ihre Seite springt. Die Propagandarbeit zur vaterländischen Kriegsliteratur, wie die Arbeit am Mythos vom Sieger von Tannenberg, organisiert der intellektuelle Mittelstand dem städtischen Geschichtsverein, der ebenso die Sehnsucht nach den deutschen Kolonien wachhielt. Es sind die versteckten, kaum erkannten, radikalen Momente des städtischen Mittelstandes.
Naumburg steht im Ruf einer Beamtenstadt. "In verschiedenen Volksschichten und Parteien macht sich eine geradezu", registriert 1932 Posadowsky in Volk und Regierung im neuen Reich (V&R 89), "feindliche Stimmung gegen das Berufsbeamtentum geltend." Das Schlagwort vom "aufgeblähten Beamtenheer", das von den Steuern der Bürger lebt, ist in aller Munde. Die wirtschaftliche Lage der Beamten hat sich nicht verbessert, "sondern in bedenklichem Maße verschlechtert; der Index der Lebenshaltungskosten ist seit dem Kriege um mehr als 50 Prozent gestiegen." Es zeigt sich eine "Zerrüttung des Berufsbeamtentums". (V&R 89, 90) Eine Ursache für diese Lage, verortet der Abgeordnete des Preussischen Landtages, in der ungeheuren Vermehrung der Beamtenstellen, die seit Einführung der republikanischen Staatsform Mode geworden. Die politischen und sozialen Fragen der Beamten kannte Graf von Posadowsky gut und genoß in diesen Kreisen hohes Ansehen. Am 15. März 1928 wird das Ortskartell des Naumburger Beamtenbundes mit Justizinspektor Brennecke als 1. Vorsitzenden gegründet. National war die Organisation seit 8. Oktober 1926 als Zusammenschluss von 1,1 Millionen deutscher Beamten tätig. erscheinen war einige Ehrengäste, der Präsidenten des Oberlandesgerichts Naumburg Werner (*1868). Staatsminister a. D. Dr. Arthur Graf von Posadowsky-Wehner hielt in Anwesenheit der Ehrengäste, eine eindrucksvolle Rede. Parallel dazu, also ebenfalls am 15. März, findet 8 Uhr abends im Hotel "Zum schwarzen Roß" eine Tagung des Demokratischen Juristenbundes statt. Der Vorsitzende des Landesarbeitsgerichts Ludwig Bendix (1877-1954) hält einen Vortrag über "Die irrationalen Kräfte in der Strafrechtspflege". Ein zufälliges Zusammentreffen beider Veranstaltungen erscheint unwahrscheinlich. Leider gelang es nicht, die Zusammenhänge zu erschliessen.
Es ist die Zeit der knappen Kassen. Posadowsky nimmt hierzu eine klare Haltung ein:
Das fordert vom Volk Opfer, sagte er, was ihn keine Freunde, aber viel Ablehnung einbrachte. In der Rede am 19. Dezember 1930 (16640) vor dem Preußischen Landtag fährt er mit der Kritik an der leichtfertigen Wirtschaftsweise einiger Kommunen fort:
Hier muss endlich, fordert er (Posa PLT 19.12.1930, 16638), die Regierung eingreifen. So macht man sich nicht beliebt. Die Beamten der Stadt engagierten sich politisch wenig auf Posadowsky´s Seite.
"Schon vor dem September 1930 waren die Beamten in der NSDAP-Mitgliedschaft klar überrepräsentiert ". (Mommsen 164) Von der "bewegenden Kraft des Staatsschiffes" (Posadowsky) sind im September 1939 laut Mitteilung von Oberbürgermeister Oskar Schaffernicht vom 14. März 1946 in der Stadtverwaltung Naumburg 91,6 Prozent der Beamten Mitglied der NSDAP. Posadowsky wendet sich nach dem Kapp-Putsch endgültig von den Deutschnationalen ab. Dieser Umstand und seine liberal-demokratische Haltung verbunden mit der Orientierung auf eine strenge Haushaltsdisziplin, die auch die Gehaltsvorstellungen der Beamten in einem anderen Licht erschienen liess, findet unter den Staatsdienern, die sich im Allgemeinen nicht am modernen liberal-konservativen Reformdenken orientierten, keinen Rückhalt. In der Rede zur Einweihung der Gedenktafel im Naumburger Dom am 24. August 1924 setzt Posadowsky kritische Akzente zum Westen, verwirft aber nicht dessen Fortschrittskonzept. Den Fehler der "Kabelabschneider" von 1914 will der ehemalige Handelspolitiker nicht wiederholen. Für ihn war kaum vorstellbar, was Thomas Mann 1918 in den "Betrachtungen eines Unpolitischen" (1918) anzettelte, die deutsche Kultur von der Politik des Westens und seiner zersetzenden Kultur abzuschirmen. Die politische Sprache von Graf von Posadowsky ist sachlich, korrekt und vielfältig, analytisch orientiert, anspruchsvoll und durchschlagskräftig. Aber sie passte nicht zur herrschenden politischen Mode: Hetze gegen die Juden, moralisch überbordendes Deutschtum, Vitalisierung der Feinbilder von 14/18, Produktion antiwestlicher Stimmungen, selbstverliebter, aggressiver deutscher Nationalismus, offene und versteckte, intensive Diskreditierung der Demokratie, Verdammung der Friedensaktivisten, Sozialisten und Kommunisten.
Revisionisten und Europas Ordner dünken sich nach dem Sieg der 8. Armee von Russland unter dem Oberbefehl von Paul von Hindenburg in der Umfassungsschlacht vom 26. bis 30. August 1914 südlich von Allenstein ihrer Unbesiegbarkeit. Das Überlegenheitsdenken gegen den Osten wächst in der Nachkriegszeit über den Geschichtsunterricht der Schulen tief in das Weltbild der jungen Menschen hinein. "Nichts formt so entscheidend seine politische, seine individuelle und sittliche Einstellung zum Leben wie die Art, in der er Geschichte gelernt und begriffen hat." (Stefan Zweig 1939, 230)
Posadowsky`s sittlich-christlicher Verhaltenscodex von antisemitischer und -rassistischer Dignität kollidiert Ende der zwanziger Jahre zunehmend mit dem Rassenwahn der extremen Rechten. Dazu kam noch die Überschätzung Deutschlands wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, die sie oft als peinliche Kraftmeierei zelebrierte. Wiederholt setzt sich Posa mit der Entstehung, der schrecklichen und tragischen Wirkung von Feindbildern in der Literatur, Kunst und Politik auseinander, weshalb ihn eine Fortschreibung oder Vitalisierung des Feindbildes 14/18 nicht in den Sinn kam, sondern den Zweck verfolgte, den Bürgern die Lust an der staatlichen Aggression zu nehmen. All dies war überhaupt nicht nach Art der streng nationalen Familie, die Arthur Graf von Posadowsky-Wehner nicht ästimierte.
Und die Linke? Was tat sie? Etwa so:
Das reichte vor allem für den Kommunikationsabbruch. Außerordentlich erschwerend kam hinzu, dass sie oftmals nicht zwischen "konservativ" und "reaktionär" unterscheiden wollte. Chancen eines politischen Dialogs verkümmern. Wer traute damals den Dechanten des Domkapitels zu - etwas trivial formuliert - links gesprächsbereit zu sein? Niemand. Allmählich nähern wir uns den noch unentdeckten, folgenreichen und tragischen Momenten der Stadtgeschichte. Eigentlich brauchten ihn die Linken mit seinem Wissen und den Erfahrungen auf dem Gebiet der Sozial-, Haushalts-, Rechts- und Geldpolitik. Und in der Frage der Verteilung und Schwerpunkte staatlicher Investitionen, Fördermaßnahmen und Unterstützungen zugunsten der breiten Masse, konnten sie - wenn sie wollten - voneinander lernen.
Posa definierte die Wohnungsfrage, was das Herz eines jeden Linken höherschlagen lassen musste, als die wichtigste politische Frage überhaupt! Aber nein, sie verschmähten ihn, obwohl sein Konzept von bemerkenswert ganzheitlicher Programmatik, mit fast sozialrevolutionären Intentionen aufwartete. Das war nicht immer so. Nicht immer stieß er auf soviel Voreingenommenheit. Stöbern wir in der "Arbeiter-Zeitung" herum, da finden wir beispielsweise in der Ausgabe vom 22. Juni 1911 eine interessante Mitteilung: Das Zentralorgan der österreichischen Sozialdemokratie würdigt seine progressive Haltung und Vorschläge zur Lösung der Wohnungsfrage auf dem zweiten Deutschen Wohnungskongress in Leipzig. Zehn Jahre später ist das völlig anders. In den Augen der Linken, machte er den Fehler, was er in der Tat als unbedingt notwendig erachtete, privates Kapital zur Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem heranzuziehen.
Im linken politischen Spektrum gab es viele, viele Vorurteile über ihn. Gerüchte, Meldungen mit erratischen Kontext und oberflächliche Zeitungskommentare beeinflussten seine politische Reputation negativ. Es war 1898, da entbrannte, nach dessen Veröffentlichung im Januar 1898 im "Vorwärts", um das geheime Rundschreiben vom 11. Dezember 1897, das Graf Posadowsky an die Regierungen der deutschen Einzelstaaten versandte, eine heftige öffentliche Debatte über die Kneblung des Koalitionsrechts. Hunderte, von der SPD organisierte, Protestaktionen und Versammlungen fanden statt. Die vom 21. Februar 1898 in Potsdam Sanssouci mit Hermann Molkenbuhr (*1851) ragt besonders heraus. Er sprach über das Vereinigungsrecht der Arbeiter, dass den Unternehmern verhasst. Hinter dem Erlass des Grafen Posadowsky vom 11. Dezember 1897, mutmaßte er, steht der Centralverband deutscher Industrieller (CdI). Die Arbeiterinnen und Arbeiter dürfen nicht tolerieren, dass die Unternehmer versuchen, den staatlichen Untertanengeist auf ihre Mitarbeiter zu übertragen. Sein Auftritt war recht öffentlichkeitswirksam. Nicht nur wegen der 1 200 Teilnehmer. Es machte die Schärfe seiner Worte und Vorwürfe gegenüber Graf von Posadowsky, die lange nachhallten. So war er denn derjenige, der das Koalitionsrecht knebelte. Damals, es war im Krieg, als er provisorisch den Landrat in Elbingen vertrat, geisterten Gerüchte über deutschnationale Verschwörer umher, die in enger Fühlung mit Offiziere standen. Angeblich unterstützte sie Posadowsky. Und er, protestiert 1922 die "Freiheit" (Berlin), " . wird trotz allen Verlangens der arbeitenden Bevölkerung nicht seines Amts enthoben. Er macht aus seiner antirepublikanischen Gesinnung höchstens ein Hehl, wenn der frommgläubige Oberpräsident Siehr oder der Minister ihn besucht. Sonst ist er kaisertreu bis auf die Knochen." Der Wahrheitsgehalt dieser Nachrichten konnte bisher nicht aufgeklärt und mögliche Zusammenhänge nicht verifiziert werden.
Wie können sie nur vergessen, fragt am 16. Februar 1906 Der Gewerkverein Nr. 7, dass "der Herr Staatssekretär in so mannhaften Worten für die volle Berechtigung derjenigen Arbeiterbewegung eintritt, die auf den Boden der heutigen Staats- und Wirtschaftsordnung, also innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, ihre Ziele, eine höherer geistige und wirtschaftliche Lage für die Arbeiter zu erkämpfen, verfolgte." Sie konnten! Speziell Bilder und Karikaturen bleiben oft lange im politischen Gedächtnis haften, besonders die, die den Eindruck vermitteln, dass er ein Arbeiterfeind und Reaktionär war. Das war er natürlich nicht. Wohl bestand 1899 im Reichstag durchaus die Aussicht, "daß in das Strafgesetzbuch sehr scharfe Bestimmungen gegen [sogenannten] Terrorismus jeder Art aufgenommen würden". Schälte sich nicht aber im Kapitel "Posadowsky hat die Schlacht verloren" bei der Untersuchung der Vorwürfe zum Rundschreiben vom 11. Dezember 1897 die Erkenntnis heraus, daß er zumndest nicht der Scharfmacher war? Mehr noch, das Koalitionsrecht des Arbeiters abschaffen, der gewichtigste aller politischen Vorwürfe von seitens der Linken, was ihm bis zum Ende seiner Tage anhing, wollte er nicht. Es waren Anträge auf Aufhebung des Verbots, wonach politische Vereine nicht miteinander in Verbindung treten dürfen, zu erwarten. In dieser Situation trägt Graf Posadowsky in Anwesenheit von Reichskanzler Fürst Hohenlohe am 14. November 1899 im Reichskanzlerpalais vor:
Auf Ablehnung stieß er bei den Linken, wenn er, wie am 15. Dezember 1928 (1620) im Preussischen Landtag geschehen, Benito Mussolini (1883-1945) zitiert. Es handelte sich hierbei um Aussagen zur Rüstung und Sicherheitslage in Europa. Ihn deshalb aber in die Nähe des Faschismus zu rücken, setzt voraus, dass man die politische Welt oberflächlich betrachtet, das heisst, einseitig, willkürlich, also unmethodisch, und selektiv, was erkenntnistheoretisch beurteilt, völlig unakzeptabel ist. Eine derartige Kritik beschädigt den humanistischen Geist von Graf Posadowsky. Sie ist nicht wahrhaftig, unterbindet oder zerstört den politischen Dialog. Die Prinzipien der Sozialpolitik von Graf Posadowsky sind denen des Nationalsozialismus entgegengerichtet. Er strebte die Verbesserung der materiellen und kulturellen Lebensbedingungen von Werkmann und -frau an, nicht aber ihre politische Entmündigung. Die sozialdarwinistische Ethik verabscheute er und verurteilte die Deklassierung von Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen.
Eine durchgreifende Wirkung im Verhältnis der Linken, speziell der kommunistischen Linken, zu Posadowsky, haben die Konflikte zu Religion und Kirche. Als Abgeordneter des Preußischen Landtages plädierte er 1931 für die Selbständigkeit der Religionsgemeinschaften zur Regelung ihrer inneren Angelegenheiten und für eine freie, starke, selbständige Kirche. Darüber dachte die kommunistische Linke völlig anders. Ihr Schlachtruf lautete: "Heraus aus der Kirche!" Antiklerikale Affekte gingen in Naumburg von einer religionspolitisch initiierten Wohnungsräumung, den Debatten um das Langemarck-Denkmal und dem starken Hang der Kirchenmitarbeiter zu der unter dem ideologischen Einfluß von Georg Schiele stehenden Deutschnationalen Volkspartei aus. Es ist nicht unrealistisch anzunehmen, dass diese Stimmungen und sie begleitende negative Emotionen sich auf Posadowsky, obwohl von ganz anderer politischer Natur wie die Führer der völkisch-deutschnationalen Volkspartei der Ortsgruppe Naumburg, übertragen haben.
Rechtssicherheit gilt ihm als unerlässliche Vorbedingung für die Freiheit, was aufhorchen lassen sollte, speziell die kommunistische Linke, die im Alltag vielen Schikanen ausgesetzt war. Tat es aber nicht. Für sie war er wohl ehr ein Reaktionär. Gewiss trennte sie, was schwerlich zu übersehen ist, in der Kirchen-, Schul- und Bildungspolitik sowie in der und Kriegsschuldfrage tiefgreifende Wertekonflikte. Vielleicht waren die Gräben in der Kriegsschuldfrage gar nicht so groß wie in der Öffentlichkeit oft angenommen? In der Bildungspolitik sicher schon. Bereits bei seiner Einsetzung als Staatssekretär des Reichsschatzamtes erfolgte, beobachtete damals das Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands der Vorwärts (25.8.1893), dass er "trefflich in die leitenden Kreise hinein" hineinpasst. "In den Verhandlungen der dritten ordentlichen Generalsynode im November-Dezember 1891 bekannte" er sich "als begeisterter Anhänger der konfessionellen Volksschule" "und warnte dringend vor einer "Überschraubung" der Ziele unserer Seminarien, weil sonst die Schulkinder viel mehr lernten, als ihnen gut sei." Trotzdem gab es gesellschaftspolitische Interferenzen zu Aufgaben, die eine koordinierte Gestaltung im Sinne des Fortschritts ermöglichten; die Stichworte hierfür heissen: Reform, Republik, Kampf um gerechte Verhältnisse, Rechtssicherheit, Demokratie als Mitbestimmung, Geldwertstabilität, Kontinuität der Sozialpolitik, Wohnungen für die Unterklasse und Ablehnung der Notverordnungen.
Ungeheuer große menschliche und politische Potenzen für die Republik blieben ungenutzt, weil ein Ensemble von traditionellen Meinungsmachern aus SPD, Reichsbanner, sozialistischen Sportvereinen, KPD, Gewerkschaften und Kulturkartell in Naumburg die Bündnisfrage in der Sphäre der Progression konstruierte, hiervon Momente der Anpassung, Erhaltung und Verfall abtrennte, und damit die Einheit des historischen Prozesses zerstörte. Andernfalls wäre die Handlungsnot als zwingend erkannt. Hinzukamen eine Reihe handfester organisatorischer Probleme, ideologische Partei- und Karriereinteressen, die das nicht zuliessen und in Denkverbote kulminierten. Und dann war da noch eine Urangst. "Es ist ein politisches Gesetz - das sollten auch wir uns merken -," warnt August Bebel 1907 auf dem SPD-Parteitag in Essen, "dass, wenn Parteien zusammenkommen, die nicht zusammengehören, ist es immer die Linke, die dabei einbüßt, die die Opfer an ihrer Überzeugung bringen muss, nicht aber die Rechte." (Bebel SPD-Parteitag 1907, 320) Was mag noch alles zwischen ihnen gestanden haben? Vor allem die verstümmelten Impressionen aus früheren Kämpfen und den daran gehefteten Kommentaren der Parteiführer und Prominenten. Das war nicht so schnell vergessen, wie es später oft angenommen wurde. "Der Herr Staatssekretär Graf v. Posadowsky ist der Vater des bestehenden Zolltarifs," gedenkt seiner Leistung am 12. April 1913 (4715) Martin Segitz (SPD) im Parlament, "der dem Reiche hunderte von Millionen Mehrerträge an Zöllen gebracht hat, die in die Futterkrippe des Molochs fließen. Hätten wir diese Milliarden auf anderen Wege aufbringen müssen, dann wären wir längst zu Besitzsteuern gelangt " Es ging noch heftiger. Die Berufung in das Reichsamt des Innern verdiente er sich, propagierten sozialdemokratische Kreise, weil er dem Volke zu immer "mehr Steuern aufgeholfen" habe. In ihrer Wut schimpften sie ihn Vater des Brotwuchers, der staatlichen Massenausplünderung, 12 000-Mark-Graf, Sklave des Herrn Bueck und des Centralverbandes deutscher Industrieller (CdI). Wer nach der Wende 1918/19 zur parlamentarischen Demokratie darauf hoffte, dass seine Tätigkeit nun unbefangen und allseitig beleuchtet, wurde enttäuscht. Der Mühe, den historischen Hintergrund auszuleuchten, unterzogen sich die meisten Bürger nicht.
"Mit Wächtern der kapitalistischen Kassenschränke diskutieren wir weder in der Nationalversammlung, noch über die Nationalversammlung", formuliert am 20. November 1918 Rosa Luxemburg die politische Linie in der Roten Fahne. So lebten die hergebrachten Narrative oftmals in verstümmelter und dogmatisierter Form ihr Eigenleben fort. Beispielsweise wirft ihn 1930 eine beliebte Arbeiterzeitung aus Zeitz in Verboten - Verweigert - Abgelehnt vor, dass ihm "die Errungenschaften der Republik arg im Magen" liegen. Den Anlass hierfür bot die ausbleibende Unterstützung für eine größere Veranstaltung in der Stadt Naumburg, was die Sozialdemokraten sehr ärgerte. So machte nun die Nachricht des Zeitzer Volksboten seine Runde und wiegte alle, die eh schon alles zu wissen glaubten, in der Gewissheit: Er ist ein Gegner der Republik. Die inkriminierte Information der Durchsage ist aber irreführend, und wie sich noch herausstellt, keine Lappalie, sondern eine Tendenz, die den Triumph der nationalistischen Bewegung in der Stadt Naumburg an der Saale begünstigte. Posadowsky`s demokratischer Wille bildete sich nicht erst nach 1918. "Ich für meine Person bedauere," offenbart er am 7. Februar 1906 dem Reichstag, "daß kein Arbeitervertreter im preußischen Landtag vorhanden ist. Ich bedauere auch die Politik mancher Abgeordneter im Landtag." Als Ministerieller zeigte er demokratische Neigungen, nimmt Schwierigkeiten und Ungemach auf sich, wenn er die staatlichen Aufgaben, durch Einbeziehung des Parlaments und der Parteien zu lösen sucht.
Wie ernst es ihm mit dem Aufbau einer demokratischen Gesellschaft ist, demonstriert er nach 1918 mit seiner Staats- und Rechtstheorie, den Beiträgen zur demokratisch-sozialen Wohnungspolitik und persönlichen Einsatz für eine volkwirtschaftlich vernünftige Geldpolitik, der prinzipiellen Wertschätzung der Öffentlichkeit als Meinungsbildner im Vorfeld der parlamentarischen Herrschaft des Volkes und strikten Ablehnung der Notverordnungen. Gesetze die verfassungswidrig, sind nicht statthaft und müssen bekämpft werden. Seine Haltung und sein Bekenntnis zur Weimarer Republik stützen sich auf eine sachliche, begründete und konstruktive Kritik des parlamentarischen Systems, der Rechtsprechung und Rechtspflege. Sorge bereiten ihn Tendenzen der repräsentativen Demokratie, welche die Auswahl von fähigen politischen Personals behindern. Er ist überzeugt davon, dass eine nicht ausreichende Wohnungsgesetzgebung zur Befriedigung der vitalen Interessen der Unterschichten die Gesellschaft in gefährlicher Weise spaltet. Tendenzen der Verdorbenheit des Parteilebens sind ihm suspekt.
Am 13. Dezember 1929 würdigt er die historische Leistung der Linken im preußischen Landtag:
Nicht allen, nichtsdestoweniger aber den fundamentalen Forderungen der Arbeiterbewegung trat er achtungs- und verständnisvoll gegenüber. Zwar führte er phasenweise einen energischen ideologischen Kampf gegen die Linken und ihre Parteien. Niemals wollte oder würde er je den Streit mit ihnen vor den Toren der Gefängnisse, Zuchthäuser und Konzentrationslager austragen. Demokratie nach Kassenlage, lehnte er ab! All das bleibt von der Progressions-Linken unreflektiert und unbeantwortet. Der Ball wird nicht zurückgespielt. Und doch war er der Linken ein fairer, menschlich und moralisch anständiger Gegner. Von diesem Politiker-Format sah die deutsche Geschichte nicht viele.
Das
nationale Erbe
zurück
Der Deutschland-Plan + Ende der Einkreisungs-Doktrin + eine volkswirtschaftlich vernünftige Geldpolitik + Posadowsky-Codex + Identität und Sozialstaat + Offenheit, Wahrheit, Öffentlichkeit, Fairness
Gemessen an den Bedürfnissen der Gesellschaft, nimmt Posadowsky zu wichtigen Fragen der Zeit eine fortschrittliche und moderne Haltung ein. Für alle, die nicht dem Aberglauben verfallen, dass man dies nur als Sozialdemokrat, Politiker der Mitte oder Linkspolitiker kann und soll, entsteht daraus kein Problem. Viele Konservative befürchteten, wie Thomas Mann in den "Betrachtungen eines Unpolitischen" (1918) prophezeit, dass der geistige Krieg mit den westlichen Literaten, die das Wörterbuch der französischen Revolution hüten, verloren geht und Deutschland zum westlichen Demokratismus konzediert. Zwar war Posadowsky das Missionarsart des US-Präsidenten Woodrow Wilson (1856-1924) nicht geheuer, litt aber nicht unter den bei deutschnationalen verbreiteten Okkupations- und Verlustängsten.
Als Alternative entwirft er nach der Revolution aus unterschiedlichen Anlässen und in mehreren Etappen eine Sammlung von Ideen und Vorschlägen zur Zukunft der deutschen Nation, den Deutschland-Plan. Er mobilisiert nicht den militärisch, aggressiven Nationalismus, sondern unterscheidet genau zwischen dem gefährlichen, militanten, rassistisch aufgeladenen Nationalismus, den er ablehnt, und der Notwendigkeit einer kulturvollen deutschen nationalen Identität. Graf Posadowsky folgt dem rechtspolitischen Grundsatz von Gustav Radbruch § 28 Das Völkerrecht (184f.), wonach das Rechtsprinzip des souveränen Staates den Einschluss durch das Völkerrecht und den Völkerbund bedarf. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die "Souveränität" "als allgemeines Rechtsprinzip" sich selbst vernichtet. Der kann sie nur entgehen, wenn der Mensch nicht als Rechtssubjekt in den Staat eintritt, sondern vom Staat nach dem Maßstab der Menschenrechte zum Rechtssubjekt erhoben wird. Auf diesen rechtspolitisch und völkerrechtlichen Grundlagen kann und will Posadowsky nicht auf den Nationalstaat verzichten. Denn nur in der nationalen Gemeinschaft ist der Einzelne kulturschöpferisch (Radbruch § 28, 185). Besteht denn überhaupt, so stand für ihn die Frage, die Hoffnung auf die
Sein Deutschland-Plan kennzeichnet vier geo- und gesellschaftspolitische Tendenzen: 1.) Endlich wird Deutschland aus der Einkreisungsdoktrin und der schicksalhaften Ost-West-Mittellage entlassen, die bereits zu lange das Bewusstsein von der Bedrohung und damit den inneren Zwang der "Wehrhaftigkeit " angestachelt hatten. 2.) Zurückhaltend und etwas zweifelnd verfolgt er nach dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 die Geburt des unabhängigen Polens. Deutschland musste ihm Westpreußen, das Memelgebiet, die Stadt Danzig, Posen und Ostoberschlesien abtreten. Es waren dies allles Gebiete mit einem hohen Anteil an deutscher Bevölkerung. Ein Grund, warum ihn das Schicksal des Deutschtums große Sorgen bereitete, ohne der Losung anzuhängen, "deutsch muss wieder werden, was deutsch einst war". Und es ist nicht affiziert vom 14. Kapitel der "Blick nach dem Land im Osten" aus "Mein Kampf" von Adolf Hitler. Posadowsky`s Deutschland-Plan besinnt sich auf die legitimen nationalen und europäischen Interessen, ohne andere Staaten in ihren Sicherheitsbelangen geringzuschätzen oder zu ignorieren. 3.) Im Ergebnis von Studien zum Völkerbund, zur Polen-Frage, der Entstehung staatspolitisch relevanter Feindbilder und Zukunft des Deutschtums gewinnt Posadowsky die Einsicht, dass Deutschland das Vertrauen der Staaten und ihren Respekt nicht durch eine Neue Weltpolitik gewinnen kann, wohl durch "Bescheidene Lebensführung und höchste Arbeitsleistung, Verschwinden der geschichtlich verhängnisvollen Betonung der sogenannten berechtigten Stammeseigentümlichkeiten." (Tage-Buch 1922) Umgeschrieben, aggregiert mit anderen Aussagen von ihm, lautet die Formel:
Dieses Gesellschaftsprojekt ruht auf dem Fundament einer demokratisch-republikanischen Verfassung, deren Durchbrechung Posadowsky in jeder Form und aus jeden Anlass kompromisslos ablehnt. Der übergroße Teil des bürgerlichen Lagers in Naumburg entschied sich bei Landtags- und Reichstagswahlen anders, deutlich, eigentlich massiv dagegen, nämlich für die Politik des Stahlhelms, der militanten Kriegerverbände und Kolonialgesellschaft, also Deutschnational in der alldeutschen, völkischen Diktion von Georg Schiele, dessen Ziel es war, die Verfassung der Weimarer Republik, also letztlich den Staat, zu delegitimieren.
Posadowsky´s politischer Widerwille gegenüber dem Ortsverein der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und den Nationalsozialismus wird im Frühjahr 1932 erneut sinnfällig. Aus Anlass der Preußenwahl am 24. April 1932 spricht das Mitglied der DNVP-Fraktion im Preußischen Landtag Frau Katharina Hertwig (1878-1953) am 5. April 1932 auf der öffentlichen DNVP-Versammlung von Naumburg. Gespannt warten im Ratskellersaal alle, was sie zu sagen hat: "Es müsse ein konservativer Kern vorhanden sein; diesen bilde die DNVP. Sie müsse mit dem Nationalsozialismus zusammen ein neues besseres System aufbauen, das Alte müsse stürzen . " "Mit den Nationalsozialisten marschieren die Deutschnationalen deshalb in der nationalistischen Auffassung auf dem demselben Wege ." Posadowsky marschiert hier nicht mit! Den "konservativen Kern" definiert er völlig anders, nämlich im Sinne von Rechtsbewußtsein, der Achtung von Gesetzen und der Verfassung, der Wahrung, Entfaltung und Nutzung der politischer Rechte. Das schließt ein Umsturzverhalten, wie ihn Geschäftsführerin des DNVP-Landesverbandes Merseburg mit Sitz in Halle anklingen lässt, aus.
Nach all den verheerenden ökonomischen Krisen und Kriegen, dem sich zuspitzenden Gegensatz zwischen Arm und Reich, entstand in Deutschland das gesellschaftliche Bedürfnis nach einer historisch neuen Identität. Der Sozialstaat auf Basis einer technisch-ökonomisch leistungsfähigen Volkswirtschaft kann ein wichtiger Schritt auf diesem Weg sein. In ihm stehen die Bürger aller Klassen und Schichten gleichberechtigt und anerkannt unter der Herrschaft des Gesetzes eines liberal, humanen und auf gesetzlicher Grundlage tätigen Staates, der soziale Lebenschancen für alle sichert. Synchron dazu, auf dem konkreten historischen Niveau der Produktivkräfte, muss er immer wieder neu auf gerechte Verhältnisse im Arbeitsleben, Bildungs-, Schul- und Gesundheitssystem sowie in der Wohnungs- und Geldwirtschaft d r ä n g e n. Nah bei den Nöten der Menschen engagiert sich der 80-jährige weiter für eine gerechte und volkswirtschaftlich vernünftige Geldpolitik. Als Parlamentarier beeindruckt er durch eine hohe Strategiefähigkeit im Feld der Inflations-, Aufwertungs- und Geldpolitik und Resilienz gegen Anfeindungen. Mit hoher Tiefenschärfe stritt und bekämpfte er, nachzulesen in der Rede vom 27. Februar 1929 vor dem Preußischen Landtag, die Verantwortungslosigkeit der Aufwertungsgesetzgebung, die das Vertrauen vieler Bürger in die Institutionen des Staates von Grund auf zerstörte.
Die Entfaltung der öffentlichen Meinung im Vor-Raum des Parlaments begreift er als die natürliche Umgebung der neuen Demokratie. Der öffentlichen Meinung und ihrer neuen, demokratischen Rolle in der Politik misst er große Wertschätzung zu. Sie muss sich im Sinne der öffentlichen Belange und Interessen organisieren, formieren und artikulieren, was nicht immer auf Gegenliebe stößt. Er erwartet:
Gegenüber der Unpolitischen verspürt er heftige Abneigungen. "Diese politisch und wirtschaftlich wertlose Masse verschuldet es, wenn die überwiegende Volksmeinung durch rührige und skrupellose Berufspolitiker entstellt oder unterdrückt wird." (V&R 228)
Der Posadowsky-Codex zurück In der posadowsky`schen Rechtspolitik und Lehre vom Staat schrumpft die Demokratie nicht auf eine Lehre von den Institutionen - Parlament, Verfassungsgericht, Wahlrecht, Wahlkreisgestaltung - zusammen. Vielmehr baut die fortgeschrittene repräsentative Demokratie auf ein Repertoire klar definierter sozialer Verhaltensweisen auf, die für den Erhalt des Grundvertrauens des Bürgers gegenüber den Abgeordneten und staatlichen Institutionen zur Gewährung von Recht und Sicherheit unverzichtbar sind. Bedingt durch die Wahrnehmung einer Doppelrolle, was Ernst Fraenkel 1960 (330/331) eingehend darstellt, erwarten den Parlamentarier und Abgeordneten dabei ernste Schwierigkeiten. Bürger und Politiker stehen vor einer komplizierten, dennoch prinzipiell lösbaren Aufgabe:
Das sind zuerst Offenheit, Achtung der Öffentlichkeit, Fairness, Wahrhaftigkeit, ohne die Demokratie nicht ins Leben treten kann. Für die demokratische Gesellschaft und ihren Staat ist die alltägliche, worauf der Graf allergrößten Wert legt und was er in Reden und Aufsätzen immer wieder artikuliert, die unkomplizierte Achtung der Rechtsnormen von existentieller Bedeutung. Der Posadowsky-Codex verpflichtet den Bürger, die Rechte des Anderen zu achten, ihn nicht zu verletzen, stets um ein sachliches und gerechtes Urteil über Personen, Zustände und Verhältnisse zu ringen, dabei körperliche Selbstzucht und strenge Selbstbeschränkung zu üben, und im öffentlichen Raum zwischen Staat und Bürger ein demokratisches Staatsgefühl und hohes Rechtsbewusstsein zu kommunizieren. [zurück zum Entrée]
Das bedeutet n i c h t den Verzicht auf den Streit im Dialog und die Polemik oder gar die Einschränkung der Meinungsfreiheit! Der Sinn der Regeln erfüllt sich nicht in der (Über-) Professionalisierung der freien Rede oder Schaffung des neuen, perfekten Kommunikators. Es ist das Ziel, den in der deutschen Politik habituell angelegten Hochmuth und die oft anzutreffende nationale Besserwisserei und den Größenwahn zu überwinden. Wiederholt warnt er vor den Folgen der deutschen Überheblichkeit, die nicht selten mit der Überschätzung der nationalen Kräfte und der Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft assoziiert. Das bescherte Deutschland mehrere "Schicksals- stunden" (17.3.1918) - die letzte als "Krieg mit dem größten Teil der Welt". Eingebunden in die Weltkultur, sind die Unterschiede der Geschichte und Lebensweise anderer Völker und Staaten zu achten. Die Erziehung mittels Gewalt ist zu ächten. Das gesellschaftliche Leben soll bis in die Familien hinein frei von Unterdrückung, Androhung oder Einsatz von Gewalt sein.
E r wählte nicht den Weg in die faschistische Diktatur zurück Ob der Getreidehalunken, Schieber, Mädchen- und Frauenhändler, Schuhwucherer, Nahrungsmittelfälscher, Kursjäger, Kriegstreiber und -gewinnler, konnte der Anständige oft verzagen. Und trotzdem, Staat, die Regierung und das Parlament dürfen niemals die politische Idee der Gerechtigkeit aufgeben. "Das Ziel, auf das jede Regierung hinarbeiten muss, ist die Gerechtigkeit; sie ist das Ziel, das die Menschen sich setzen, wenn sie sich zusammenschließen." So formuliert 1831 Alexis de Tocqueville 1831 Über die Demokratie in Amerika (158) den Imperativ der demokratischen Gesellschaftspolitik. "Denn Recht ist nur, was den Sinn hat Gerechtigkeit zu sein," definiert sie Gustav Radbruch im § 26 der Rechtsphilosophie.
Gewiss traf Posadowsky einst als Staatssekretär auf dem Gebiet der Zoll- und Handelspolitik politische Entscheidungen oder fixierte normative Grenzen der Sozialgesetzgebung, die sozialökonomisch ambivalente Auswirkungen zeitigten. Das war so. Und ist im Staatsgeschäft und in der Klassengesellschaft unvermeidlich.
mediatisiert 1928 Jonathan Peachum, der Besitzer des Unternehmens "Bettlers Freund" in Soho, seine Selbstanklage in Brecht`s "Dreigroschenoper". Graf Posadowsky müht sich redlich, den Maßstab der Gerechtigkeit und die Würde des Bürgers in den verschiedenen Politikfeldern Anerkennung zu verschaffen. Als Staatssekretär des Reichsschatzamtes und Reichsamtes des Inneren gestaltete er maßgeblich die Arbeiterschutz- und Sozialgesetzgebung mit. Historisch betrachtet war das Konzept der Sozialpolitik als Kulturaufgabe fortschrittlich und wegweisend. Objektiv kam sie den Interessen, auch wenn sie zu Recht nicht ohne Kritik blieb, der sozialdemokratischen Opposition entgegen. Getragen vom wirtschaftlichen Fortschritt der Nation leben viele Sozialgesetze aus der Ära Posadowsky von 1893 bis 1907 über die Epochen fort, verbesserten qualitativ die Lebensbedingungen und Gesundheitslage der werktätigen Klassen, verlängerten die Lebenserwartung Bürger.
Nach 1918 verwendet er sich für die Massendemokratie, womit die Beteiligung der Arbeiter und Arbeiterinnen an staatlichen Entscheidungen gemeint ist. Rechtspolitisch gegen den Kapp-Putsch eingestellt, im Einsatz - wörtlich! - für die Popularität der Demokratie, führt er den parlamentarischen Kampf für das Rechtsstaatsprinzip, Recht auf Privateigentum und eine volkswirtschaftlich vernünftige Geldpolitik. In der Tradition von Immanuel Kant´s "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (1784) erstrebt er die "einer allgemeinen das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft", wo der Unterschied und Gegensatz zwischen Posadowsky und dem alten Konservatismus zum Vorschein kommt, der bewusst und organisiert, nachzulesen in der 1918 erschienenen Denkschrift von Otto Hoetzsch (1876-1946), gegen die weltbürgerlichen Ideale mobilisiert. Posadowskys Konzept der Innen- und Rechtspolitik stützt und begleitet das Bedürfnis des Bürgers nach Freiheit und persönlicher Sicherheit durch eine funktionierende Rechtspflege und Entfaltung des Rechtsbewusstseins. In der Revolution `18/19 verstand er sich als Evolutionist. Weitsichtig trat er noch als Reichstagsabgeordneter für die Konstituierung und den Schutz des Verfassungsstaates ein. Auch hier läuft ein grosser Teil des Publikums wieder Gefahr, voreilig eine Hinordnung zum rechtsnationalen Denken und extrem-nationalen Radikalismus vorzunehmen. Freilich waren die Mitglieder dieser Parteien in der Mehrheit jetzt durchaus bereit, den Boden der parlamentarischen Demokratie zu betreten. Aber ihre Intentionen waren völlig andere. Sie wollten die Fortführung der Führerschaft bei der Neubildung der konservativen Partei durch den altpreußischen Adel und wandten sich gegen die demokratische Gleichmacherei. (Hoetzsch 5.11.1918) Ihre politische Mentalität prägte der Gedanke, ein "glücklicher Kriegsausgang hätte die Möglichkeit einer Diktatur gebracht". Das war nicht Posa`s Art. Er ließ den preußischen Konstitutionalismus hinter sich. Er akzeptierte nicht schlechthin den Verfassungswandel, sondern gestaltete ihn rechtspolitisch in originärer und ehrlicher Weise mit. Eine humanistische Großtat vollbrachte Graf von Posadowsky mit der Ablehnung der antisemitischen Hetze und Propaganda.
Rosa Luxemburg führt im 1922 veröffentlichten Aufsatz "Die russische Revolution" eine heftige Kontroverse mit gewissen Sozialtechniken der Parlamentarischen Demokratie. Begriffe wie "Zögling(e) des parlamentarischen Kretinismus" oder "zersetzende Maulwurfsarbeit" fallen. Derartige Umgangsformen waren dem Konservativen zuwider. "Unlauterer Quertreibereien ist Graf von Posadowsky völlig unfähig. Was auch den Gegner an ihm erfreut, das ist seine Geradheit und Ehrlichkeit, die Vornehmheit seiner Gesinnung." (NFP 1.07.1907) "Ich kann Ihnen versichern," äußert er 1899 zur Frage der Kollegialität, "daß in den verschiedenen Parteien des Hohen Hauses Mitglieder sind, mit denen ich freundschaftlich Beziehungen habe - trotzdem sind wir hier in der öffentlichen Debatte doch sehr oft verschiedener Meinung." (Debatte über die Handelsbeziehungen zum Britischen Reich am 17. Juni 1899 (196) im Reichstag) Als Reichstagsabgeordneter, Mitglied der Deutschen Nationalversammlung und Landtagsabgeordneter legte er hohe organisatorische und inhaltliche Maßstäbe an die parlamentarische Arbeit an. Zur Überraschung mancher Wähler, stellte er nicht nur an die Abgeordnetentätigkeit, sondern auch an sie - dem (Volks-) Souverän - persönlich, hohe Anforderungen. Zu seinem Erschaudern beobachtet er bei ihm eine traurige Verflachung, die sich darin äusserte:
Infolge der latenten "Lumperei der Bescheidenheit", womit die Unterstützung der Notverordnungen und Brüningschen Sparpolitik gemeint, sinkt das Vertrauen in die SPD. Zum Schaden des Reiches und des deutschen Volkes, analysiert 1999 Wolfgang Pyta in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte, hat der Reichstag seit dem Jahre 1930 seine verfassungsmäßigen Pflichten insbesondere der Gesetzgebung nicht mehr erfüllt. Sein Versagen untergräbt die öffentliche Ordnung und verschlimmert die Notlage. Es ist für die historische Einordnung und Bewertung der politischen Tätigkeit von Graf von Posadowsky von essentieller Bedeutung und korrespondiert mit der Einschätzung von Carl von Ossietzky (1889-1938) im Jahr 1930. Wohl war er kein Reichstagsabgeordneter mehr, sondern Abgeordneter des Preußischen Landtags, was aber an der Grundkonstellation und gesellschaftlichen Stimmung zur Demokratie und den Parteien nichts Wesentliches ändert. An sich ist diese spezielle Frage zu seiner Person, so bisher nicht gestellt worden. Anders gesagt: Bis heute erfuhr seine Tätigkeit als Reichs- und Landtagsabgeordneter nicht das Interesse und die gebührende Anerkennung. Bei aller politischen Kritik, die an der Führung der "Hamburger Nachrichten" nach 1930 zu führen ist, steht ihre Anerkennung für Graf von Posadowsky, die sie ihm aus Anlass seines Todes am 24. Oktober 1932 zu teil werden lässt, nicht in Frage:
Ende der zwanziger Jahre ist die parlamentarische Demokratie schwer bedroht. Adolf Hitler kündigt am 21. Juli 1932 in der Göttinger-Rede die Abschaffung der Demokratie (sprich Parteien) an. Die Einen - Welt- und Rassenpolitiker, Blitzkrieger, Lebensraumeroberer, Sozialisten- und Kommunistenhasser - wollten die Republik nicht. Andere träumten von der klassenlosen Gesellschaft und wussten die sozial-ökonomischen Fortschritte der 20er Jahre nicht angemessen zu würdigen. Ungeachtet der unzähligen Überfälle auf Demonstranten und Versammlungen, der Kultivierung von Rassenhass und Antisemitismus, symbolischer Kriegslüsternheit, Notstandsverordnungen und Massenarbeitslosigkeit, pflegten die Legalisten weiter ihre Illusionen von der unendlichen Reichweite demokratisch installierter Macht. Und dann waren da noch die Unpolitischen, Urteilslosen und Gleichgültigen. Dummerweise, was sehr oft vergessen oder übersehen wird, war es d i e große Mehrheit. Ihre politische Willenlosigkeit und schicksalshafte Ergebenheit bahnte dem Nationalsozialismus wie kaum eine andere politische Kraft den Weg. Immer wieder erflehte Graf von Posadowsky nach der Revolutions- und Umbruchzeit den engagierten, selbstbestimmten und kritischen Staatsbürger herbei, drängte, ermahnte die Elite zur Wahrnehmung ihrer moralischen Verantwortung in der Gesellschaft. Dabei versackte er nicht im Moralisieren, sondern unternahm große Anstrengungen, um die Popularität der Demokratie anzuheben, das Prinzip der Gerechtigkeit in der Rechtspflege zu stärken und die Stabilität des politischen Systems auf strikt humane und rechtsstaatliche Weise zu festigen. Unter Führung und in Obhut des liberal-konservativen Politikers Arthur Graf von Posadowsky-Wehner wählte Deutschland nicht den Weg in die faschistische Diktatur und überzog die Völker der Welt nicht mit Krieg.
Quellennachweis zu Arthur Graf von Posadowsky-Wehner (1845-1932) an den Kipp- und Verzweigungspunkten der Geschichte siehe https://www.naumburg-geschichte.de/geschichte/posadowsky4.htm.
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