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Arthur Graf von Posadowsky-Wehner (1845-1932)
an den Kipp- und Verzweigungspunkten der Geschichte

Dritter Teil etwa 1907 bis 1932

Reichstagsabgeordneter

Gegen den Alkoholmissbrauch + Die Kandidaten-Rede von 1911 + Ein ehrliches Wort zuviel! + Die Wohnungsfrage ist jetzt d i e soziale Frage + Jahrhundertelang das Schlachtfeld der Nationen + Über die drei geheimen Ursachen Englands Verschwörung gegen Deutschland + Vielleicht werden wir unsere Rüstung einschränken + 30. Juni 1913: Größte Wehrvorlage aller Zeiten angenommen + Mars regiert die Stunde + Reproducator post bellum + Impressionen + Das unangenehme Wort Bedürftigkeit + Friedensresolution 1917 + Kriegswirtschaft + Steuerpolitik mit Kokaineinspritzung?

 

Evolution und Revolution

Jede Zeit ist eine Sphinx, die sich in den Abgrund stürzt + Das unbegrenzte Recht des Siegers + Hass auf die Kabelabschneider + ....auch für unsere Feinde wird dieser Tage kommen .... + Keine Anerkennung der Schuld + Reichsnotopfergesetz und Erzberger`sche Finanzreform + Deutschlands Einheit ist gefährdet! + Das große Reinemachen + Der Aufstieg des Arturo Ui + Kaiserbilder + Antiwestliche Tendenzen + Revolution und Evolution + Dunkle Drohungen + Rache. Feindbild. Kühlmann-Episode + Deutschtum und Auslandsdeutsche + Ostjuden-Frage + Überfordert + Farbige Truppen + Die Reichskronen-Rede (1919)Oppositionsführer in der Nationalversammlung: Zweikampf Posadowsky-Juchacz, Kriegsschuldfrage, Exkurs: Spitzen beschneiden!, Dreiklassenwahlrecht, Hauptsache keine kommunistischen Experimente

 

Abkehr von der deutschnationalen Politik

Politische Krisenbewältigung + Gegen Antisemitismus + Krise des konservativen Denkens + Die liberale Wende + 1920: Weltwende + Reparaturbedarf der parlamentarischen Demokratie Die Zeit verlangt Selbstzucht und entbehrungsreiche Einsicht Kapp-PutschFürstenentscheid + Wider der Prinzipien- und Grundsatzlosigkeit

 

Die anstrengende Republik

Keine Illusionen! + Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Eigentums? + Elite und VerantwortungBürgersinn und Pflicht + Popularität der StaatsformRechtsbewusstsein wider Durchbrechungstheorie + Krieg und Frieden + Vordenker der staatsbürgerlich-christlichen Erziehung + Provinziallandtag + VRP + Geldpolitik + Preußische Haushaltskrise fordert Opfer vom Volk Intervention und Subvention + Man hörte kaum die Sätze + Diese Politik ist nicht mehr erträglich

 

Das nationale Erbe

Sein Herz schlug für Deutschland! + Deutschland-Plan + Eine volkswirtschaftlich vernünftige Geldpolitik + Der Posadowsky-Codex + Identität und Sozialstaat + Offenheit, Wahrheit, Fairness + E r wählte nicht den Weg in die faschistische Diktatur

 

Quellennachweis

 

 

 

Der Sturz  zurück

Ende 1906 löst Reichskanzler Bernhard von Bülow den Reichstag auf und beraumt für den 25. Januar 1907 Neuwahlen an. Am 24. Juni 1907 verlässt Graf von Posadowsky in "proncierter Art und Weise" (Neues Wiener Tagblatt) das "Staatsschiff". Es traf ihn tief, beobachtete die Vossische Zeitung (Berlin). Sein "hippokratisches Antlitz" mit Würde tragend, saß er während der "erregendsten Debatten auf seinen Platz, wie der steinerne Gott. Mitunter lächelte er still und ironisch in sich hinein ....", um dann "wieder sein Antlitz in Falten zu legen und unbeweglich vor sich hinblickend ".

Über das Ende berichten am 25. Juni 1907 Die Münchner Neueste Nachrichten: "Der Reichskanzler hat deshalb vorgeschlagen und der Kaiser hat zugestimmt, - übrigens, wie wir authentisch erfahren, ohne jede Schwierigkeit ohne irgend ein Zögern -, daß derjenige preußische Minister, der Gunst und Vertrauen der Konservativen und des Centrums am stärksten genoss, sein Amt niederlege und an seine Stelle ein Nachfolger trete, der als politisch farbloser Beamter von unzweifelhafter Tüchtigkeit und Gewandheit vielleicht konservativen Anschauungen nahesteht, ganz gewiss aber keine Beziehung zum Centrum hat."

Gerüchteweise wird bekannt, kolpotiert am 26. Juni 1907 das Neue Wiener Tagblatt, dass der Unterstaatssekretär Adolf Wermuth (1855-1927) seinem Chef und Freund, dem Grafen Posadowsky in den Ruhestand folgt. Insbesondere er war es, der die Verbindung mit dem Zentrum aufrechterhielt, über die Bülow begreiflicherweise so ungehalten war. Als Mittelsperson wirkte wiederum der sogenannte "Schwarze Courier", der Geheime Regierungs- und Vortragsrat von Schönebeck, dessen ungewöhnlich schnelle Karriere in politischen Kreisen mehrfach aufgefallen war.

Das Urteil der Berliner Presse (vom 25. Juni) über die makellose Persönlichkeit fällt dazu ziemlich einhellig aus: "Am lautesten erklingt sein Lob aus freisinnigen Blättern, wiewohl er aus seiner erzagrarischen Gesinnung niemals ein Hehl gemacht hat. Den konservativen, denen seine Sozialpolitik ein Dorn im Auge war, lassen das Scheiden dieses Staatsmannes erheblich kühler, ja wohl mit einiger Genugtuung auf, aber sie gedenken doch mit nassem Augen seiner hervorragender Arbeitskraft und seines unermüdlichen Pflichteifers."

1925 bemerkt Paul Wittko im Kontext der Krise von 1906/07: "Posadowsky, stets unbedingt wahrheitswillig und von großer, fast zu großer Ehrlichkeit ...."

Einige politische Beobachter honorieren seine Leistungsfähigkeit und den Fleiss. Andere loben die fachliche Kompetenz und den Beitrag zur Pflege und Kultur des Parlamentarismus. "Ein Mann von Bedeutung, Kenntnis, und Arbeitsfähigkeit", gibt der Berliner "Vorwärts" etwas sparsam, doch treffend bei. Der ehemalige Schriftleiter der Frankfurter "Volksstimme" und SPD-Reichstagsabgeordnete Gustav Hoch (1862-1942) hebt zwanzig Jahre später hervor, dass ihm die Lernfähigkeit imponierte:

"Er galt durch seine reichen, gediegenen Kenntnisse, durch seinen bewundernswerten Fleiß und durch seine für das Parlament nicht zu unterschätzende, ihm in hohem Grade eigene Gabe der Beredsamkeit fast als unentbehrlich."

"Ähnlich wie Herrn von Berlepsch ist es dem Grafen v. Posadowsky gegangen. …... als ein Gegner des Arbeiterschutzes in sein Ministerium eingezogen. Ich erinnere an die 12 000 Mark Geschichte …. Allmählich hat aber auch aus den Verhältnissen gelernt. Er hat sich schließlich geweigert, ein Minister gegen den Arbeiterschutz zu sein, sondern wollte ein Minister für den Arbeiterschutz sein. Deshalb musste er verschwinden." (Hoch 25.2.1927, 9249)

"Mit ihm scheidet aus der Reichs- und preußischen Staatsregierung, die einzige bedeutende Persönlichkeit, der letzte, dem auch der Gegner Achtung entgegenbringen konnte. "Sein Sturz entspricht", schaltet sich am 25. Juni 1907 die Volksstimme aus Magdeburg ein, "mehr noch als den Wünschen des Fürsten Bülow jenen der scharfmacherischen Reichspartei, die den ehemaligen Vertreter der Zuchthausvorlage, den Hauptmitarbeiter des Hochschutzzolltarifs, den Vertrauensmann der Landbündler und Industriebündler, seit er sich in der Auffassung seines Amtes zu etwas modernen Anschauungen gewandelt hatte, als ihren Todfeind zu behandeln pflegte."

 

"Wat rausschmeissen wollen Se mir. Ich habe vierzehntägige Kündigung. Mit mir jeht det nicht so wie mit Posadowsky`n."

Simplicissimus. 12. Jahrgang, No. 16. München, den 15. Juli 1907

 

"Über die Entlassung von Posadowsky", reicht am 26. Juni 1907 das Jenaer Volksblatt nach, "ist noch zu bemerken, dass er schon längst all den Kreisen der Großindustrie und des unsozialen Junkertums verhasst war, denen selbst die unvollkommene, zögernde und reaktionäre Sozialpolitik Posadowsky noch zu "revolutionär" erscheint." Besonders von den Montanindustriellen, bekam der Sozialpolitiker den Unwillen zu spüren.

"Wenn soll denn eigentlich der Ministerwechsel zufriedenstellen," fragt am 26. Juni (1907) die National-Zeitung, "wenn nicht die Kreise, die seit langem einen Stillstand der Sozialpolitik ein schärferes Vorgeben gegen die Sozialdemokratie verlangen.

"Die nachgesuchte Dienstentlassung", so lautet die amtliche Formulierung, ist am 26. Juni 1907 erteilt worden. Nachfolger wird der preußische Polizeiminister und spätere Reichskanzler Theodor von Bethmann Hollweg.

So schnell war seine Entlassung nicht vergessen. Zum Beispiel kommt sie am 8. Februar 1913 im Bericht über die Reichstagssitzung unter der Überschrift "Kampf um die Macht" wieder aufs Tape: "Das Auftreten des Staatssekretärs Dr. Delbrück erinnerte an die letzte Rede, die im Reichstage sein Amtsvorgänger Graf Posadowsky als Staatssekretär gehalten hat. Auch Graf v. Posadowsky erklärte damals den ostdeutschen Junkern, dass er ein "grundsätzlicher" Gegner ihrer Politik sei. Er wolle kein Minister gegen, sondern für die Sozialpolitik sein. Herr von Delbrück hat am Freitag [den 7. Februar 1913] dasselbe, wenn auch mit anderen Worten gesagt. Graf v. Posadowsky war kurze Zeit nach jener Rede aus seinem Amt ausgeschieden worden."

 

Der Staatssekretär des Inneren ist am Tag des Rücktritts 62 Jahre alt. Er verlegt jetzt seinen Wohnsitz nach Naumburg an der Saale, wo er seit 1901 dem Domkapitel angehört.

 

 

 

Gegen den Alkoholmissbrauch   zurück

Vom 13. bis zum 16. September 1909 tagt in Nürnberg der "Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke". Am Abend zuvor lädt er die Bürger zum Treffen mit ausgewählten Experten ein. Am nächsten Tag soll Staatsekretär a.D. Arthur Graf von Posadowsky-Wehner zur Eröffnung sprechen. Um die Schwierigkeiten und Tragweite der Aufgaben auf Gebiet der Alkoholprävention zu verstehen, kommen einige Impressionen zur Situation gelegen.

Der Alkoholmissbrauch ist ein gesellschaftliches Problem. Besondere Sorgen bereiten die Nachrichten über die Folgen. Zur Bekämpfung des Übels mussten bereits Trinkerheil- und Trinkerbewahranstalten eingerichtet werden. Den Antrag zur Einweisung kann die Gemeinde oder eine gleichstehende Organisation vornehmen. Auf Grundlage von Paragraph 6 Absatz 1 Ziffer 3 des Bürgerlichen Gesetzbuches ist bei Feststellung die "Trinksucht" die Entmündigung des Kranken möglich. In der Petition vom 16. Mai 1906 an den Reichstag, bittet der "Verband von Trinkerheilanstalten des deutschen Sprachgebiets" um Erlass eins Reichsgesetzes, betreffend der Fürsorge für Trunksüchtige.

Zum 15. Januar 1892 liegt dem Reichstag, unterzeichnet vom Stellvertreter des Reichskanzlers von Boetticher, mit der Petition Nummer 593 ein "Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Bekämpfung die Trunksucht, nebst Begründung" vor. In dem Dokument wird aus einer Untersuchung zitiert, die 1876 in 120 Gefangenenanstalten des Reiches durchgeführt. Von den 32837 Personen erfassten Personen waren zur Tatzeit 41,7 Prozent der Trunksucht verfallen.

Als Kaiser Wilhelm II. am 21. November 1910 die Marineschule Flensburg-Mürwik einweiht, ergeht von ihm die Order, an die Marinefähnriche zum Verzicht auf Alkohol zu erziehen. "…. Denn diejenige Nation, die das geringste Quantum Alkohol zu sich nimmt, die gewinnt." "Der nächste Krieg und die nächste Seeschlacht fordern gesundes Nerven von ihnen. Durch Nerven wird er entscheiden. Diese werden durch den Alkohol untergraben und von Jugend auf durch Alkoholgenuss gefährdet."

Die Gesellschaft steht vor der Aufgabe den Alkoholkonsum zu senken und einen genussvollen Gebrauch von Wein, Bier und Spirituosen einzuüben. Es ist dies keine neue Aufgabe. Bereits 1892 hieß es im Entwurf zum Gesetz gegen die Trunksucht: "Die Überzeugung, daß die den daraus sich ergebenden Gefahren im Interesse der Moralität, der Steigerung der Leistungsfähigkeit des Einzelnen, sowie des jerneren wirthschaftlichen Aufschwungs und der geistigen Entwicklung der Nation wirksamer als bisher entgegengetreten werden muss, ist in den weitesten Kreisen verbreitet." (Petition Nummer 593, 3552)

Trotzdem stellt sich die 26. Jahresversammlung des "Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke" der Herausforderung, was an sich schon beachtenswert und verdienstvoll. Der Staatssekretär a.D. Arthur Graf von Posadowsky-Wehner ist eingeladen an der Lösung der Probleme mitzutun. Kennt er überhaupt die Probleme? Wie will er helfen? Was wird er sagen?

Er beginnt mit der unbestreitbaren Feststellung, dass das Alkoholgewerbe in Deutschland eine "hervorragend wirtschaftliche Bedeutung" besitzt.

"Daneben hat der Staat an dem Bestehen dieses Gewerbes ebenso wie das Reich ein hervorragend fiskalisches Interesse."

Könnte es bei dieser Konstellation zwischen den Interessen des Staates und den wirtschaftlichen Interessen der Landwirtschaft und des Alkoholgewerbes auf der einen Seite und zwischen Ihren Zielen, die auf eine Verminderung des Alkoholgenusses hinstreben, ein unüberbrückbarer Gegensatz" bestehen? So scheint es. (Posa 13.9.1909) Es existieren einander widerstrebende Interessen.

Ein Verbot des Alkohols ist nicht sinnvoll.

Unbenommen dessen hat der Staat, sittliche Aufgaben zu erfüllen. Der Missbrauch alkoholischer Getränke verstößt gegen die guten Sitten, weshalb der Bürger und die Organisationen zur Bekämpfung des Alkoholmissbrauches auf den Staat als "Bundesgenossen" (Posadowsky) rechnen.

Die Feinde des mäßigen Alkoholgenusses sind die Schankwirte. Das sind einflussreiche Leute. Doch man kann ihnen etwas entgegensetzen, nämlich, indem man Schankschulden wie Spielschulden behandelt, das heißt für nicht einklagbar zu erklären.

Die Sozialisten argumentieren. Der Staat hat an der Alkoholprävention kein Interesse. "Jeder Alkoholgenuss ist eine Steuerzahlung." Die Arbeiter unterstützen damit den Staat, der sie unterdrückt und der Kapitalistenklasse dient." (Vorwärts 5.10.1909) Dementsprechend existiert eine bürgerliche und proletarische Alkoholfrage. Lassen wir es gelten, auch, dass er die Frage aus bürgerlicher Sicht aufwirft. Dann muss man aber sagen, dass er die Pflicht des Staates hervorhebt und die sozialen Bedingungen des Alkoholismus im Kontext der Wohnungsfrage in aller Schärfe problematisiert hat.

Er betrachtet den Gegensatz von Wirtschaft und Staat als gestaltbar. Posa sagt, sie sind "nicht unüberbrückbar". Nur wie?, heißt jetzt sich Frage.

"Der Mißbrauch alkoholischer Getränke verstößt unzweifelhaft gegen die guten Sitten. Der Staat hat sittliche und ideale Aufgaben zu erfüllen." "Wenn wir durch die Bekämpfung des Alkoholismus schlechte Sitten durch gute ersetzen wollen, so können wir hiernach den Staat mit vollem Rechte als unseren natürlichen Bundesgenossen betrachten." (Posa 13.9.1909)

Er hält für möglich, die Jugend zu einem kulturvollen Umgang mit dem Alkohol zu erziehen. Darauf stützt er die Hoffnung, dass wir in "10 bis 16 Jahren vielleicht eines der nüchternsten Völker Europas" sein können. Sie erfüllt sich, wie ein Blick auf die Entwicklung des Verbrauchs zeigt, nicht: 1913 beträgt der Verbrauch von Bier- und Branntwein im Deutschen Reich: 103/2,3 Liter pro Kopf, 1920/1918: 34/02 Liter und 1924: 61/0,9 Liter und 1925 rund 74 Liter (Sollmann RT 8.5.1926, 7088).

Der von ihn aufgegriffene Widerspruch zwischen Wirtschaft und Staat erfasst nur eine Dimension der sozialen Ätiologie der Alkoholkrankheit und ist die Ursache der Enttäuschung.

Zu einen beeinflussen das Suchtverhalten noch mächtigere, intensiver wirkende gesellschaftliche Prozesse. Um die allgemeine Mobilmachung zu sichern und zu beschleunigen, erlässt der Zar am 30. Juli 1914 in Russland ein Alkoholverbot, was in den regierenden Kreisen auf wenig Gegenliebe stieß. Anders in Frankreich. Obwohl er allen anderen Staaten im Alkoholverbrauch überlegen ist, wagt dieser nichts gegen die Alkoholindustrie zu unternehmen. Ähnlich war die Situation in England. Wo der Staat lediglich die Kriegsteuer auf Bier eingeführt wurde, wobei Berichte besagen, dass die Trunksucht in manchen Schichten der Arbeiterklasse zugenommen hat. (Quessel 1916)

Zu anderen kreuzen Krankheiten und Schicksalsschläge das menschliche Leben, widersetzen sich dem eigenen Willen und Streben nach Selbstverwirklichung. In diesen Lebenssituationen droht er die Fähigkeit zur Frustrationstoleranz zu verlieren. Interpersonellen Abhängigkeiten können zu Barrieren werden, wer sie erforderlichenfalls nicht abstreifen kann. In einem hedonistischen Lebensumfeld stiegt die Suchtgefahr durch Passivität, Bequemlichkeit bei gleichzeitig gesteigerten, überhöhten Anspruchsdenken auf der anderen Seite. Unter "Sucht" verstehen "wir im allgemeinen das Vorhandensein eines unwiderstehlichen unersättlichen Verlangens nach - wenigstens scheinbarer Überwindung der dem Individuum in der sozialen Realität gesetzten Schranken mit Hilfe von Mitteln oder Handlungen" (Battegay 1986).

Ist der arbeitende Mensch nicht ein "Spielball der Unternehmen"? Was bleibt dem einfachen Arbeiter übrig, fragt 1902 Zigarrenfabrikant Otto Friedrich Wilhelm Antrick (*24.11.1858) aus Berlin, der bei einem Lohn von 1,50 Mark 1,75 Mark und 2 Mark pro Tag, wie ihn der preußische Staat den Eisenbahner zahlt, "der bei den Unbilden der Witterung draußen im Freien beschäftigt ist", ja "was bleibt denn einen solchen unglücklichen Menschen weiter übrig, um sich die nöthige Wärme, die nöthige Anstachelung zur Weiterführung der Arbeit zu verschaffen, als daß er einfach zur Schnapsflasche greift?" So wird der Alkoholverbrauch gesteigert, dessen Missbrauch hunderttausende Familie ins Unglück stürzt. (Antrick RT 14.12.1902, 7218)

Gäbe es die "schlechte Arbeit" nicht, lautet der sozialistische Standpunkt, wäre das Problem des Alkoholismus gelöst. Könnten wir Posadowsky dazu direkt in ein Gespräch verwickeln, würde schnell klarwerden, dass wir ihm damit nichts Neues mitteilen. Vereinfachungen sind ihm zuwider. Er fürchtet die "Gespenster", wie sie Henrik Ibsen im gleichnamige Theaterstück aus dem Jahr 1881 beschreibt. Helene Alving sehnt den Neuanfang herbei, aber die alten Kräfte wollen nicht weichen. Noch immer wirken die Kräfte der überbrachten Werte und alten Verhaltensmuster, die mit der Modernisierung und Industrialisierung kollidieren. Den Alkoholmissbrauch begreift der Liberalkonservative durchaus im Zusammenhang mit dem in den besonders in den industriellen Ballungszentren vorhandenen schlechten Wohnverhältnissen der arbeitenden Klasse, der weit verbreiteten Mangelernährung und oftmals schlechten Arbeitsbedingungen. Sein Nürnberger-Referat ist durchdrungen von der Sorge um den sozialen Menschen. Er betont die Verantwortung des Staates für die Herstellung und Aufrechterhaltung sittlicher Verhältnisse der Gesellschaft. Die Ökonomie darf nicht über die Moral obsiegen. Seine strategischen Überlegungen für den Aufbau einer Präventionsstrategie gegen den Alkoholmissbrauch weisen in eine fortschrittliche Richtung.

 

Die Kandidaten-Rede  zurück

Reichskanzler Bernhard von Bülow bildet nach den Reichstagswahlen von 1907 gegen das Zentrum und die SPD den konservativ-liberalen Block. Zur Verabschiedung des Börsengesetzes (8. Mai 1908) und Reichsvereinsgesetzes (19. August 1908), spielt das Zentrum wieder Opposition. Gerademal zwei Jahre dauert diese Episode.

 

Hottentotten-Block

 

 

Hottentotten-Block.
Gesamte Bildgeschichte

 

Um die Liberalen zu fesseln, musste der Reichskanzler versprechen, eine Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts herbeizuführen und einen Teil der Steuerhöhungen den Besitzenden durch Erweiterung der Erbschaftssteuer aufzuerlegen. Beides greift an die Wurzeln des Junkertums. Die Konservativen setzen sich zur Wehr, sprengen den Block und stürzen den Kanzler. Das ging nicht ohne Hilfe des Zentrums. (Ludwig 1911, 40f.)

Die Niederlage und Verärgerung über das Scheitern der Reichsfinanzreform sitzt tief. Noch immer ist die politische Stimmung der Parlamentarier vom Rücktritt des Kanzlers Bülow am 14. Juli 1909 geprägt, als sich der Block von konservativen und liberalen Parteien auflöste. Zumindest Teile der Öffentlichkeit nehmen eine kritische Haltung zur Verschuldung des Staatshaushaltes ein. Hinzu gesellte sich neuerdings der Streit um den "Schutz der Nationalen Arbeit". Zuletzt drangen aus Sachsen derartige Bestrebungen an die Öffentlichkeit. Die Zollpolitik gewährt den Industrien - Eisen, Stahl - und der Landwirtschaft, Schutz vor der Konkurrenz. Warum nicht auch der Arbeit, hieß es?

Am 31. Oktober 1911 geht die vielbesuchte Internationale Hygiene-Ausstellung in Dresden zu Ende. Den "Großen Preis der Ausstellung", meldet wenige Tage später die Presse, erhält für sein Backpulver Doktor August Oetker. Er ist aus 89 000 Einwohner zählenden Stadt Bielefeld, wo demnächst Graf von Posadowsky seine Auftaktrede zur Reichstagswahl 12. Januar 1912 halten wird. Kann er am Image-Gewinn des Oetker-Erfolgs anknüpfen? Oder ist alles - wie beim Backpulver - nur eine Geschmacksfrage? Durchaus nicht. Ihn nominierten die Konservativen und Nationalliberalen, der Bund der Landwirte und das Zentrum als Kompromisskandidaten in der Hoffnung, dass er den SPD-Bewerber aus dem Feld schlägt. Den zur Versammlung

am 29. November 1911

2 500 erschienenen Bürgern, eröffnet er mit einer Melange aus Wertorientierungen, Leistungsversprechen und Korrekturvorschlägen eine bessere Zukunft, und redet nun darüber, was sie von ihm erwarten können:

  • "Wenn wir Marokko niemals begehrt haben, und wenn wir ein Stück Kongoland erhalten haben, so ist die Frage berechtigt, ob es notwendig war, auf Handel und Verkehr so lange Zeit hindurch Unruhe und Sorge lasten zu lassen. (Lebhafte Zustimmung)" Seinerzeit, es war am 14. Dezember 1899 (240), erwiderte er auf Eugen Richter (1938-1906), dass der Einsatz militärischer Machtmittel im Außenhandel nicht zweckdienlich ist: Mit Kanonen schliesst man keine Handelsverträge.

  • Der koloniale Zuwachs in Afrika bedeutet nicht unbedingt eine Stärkung, wenn nicht sogar eher eine Schwächung Deutschlands. Die zuweilen diskutierte Erschließung des "ungeheuren Kolonialgebiets", durch Einführung von "Besitzsteuern" ist ein untaugliches Mittel.

  • Die destruktive Politik der Großmächte, Deutschland an der territorialen Ausdehnung, in einem erträglichen Klima zu hindern, ist abzulehnen.


  • Dernburg der Afrikaner (Originaltext)

    Pester LLoyd nennt 1907 Bernhard Dernburg "den populärsten Mann in  Deutschland".

     

     

    Dernburg der Afrikaner. Der Wahre Jacob. Nummer  538, Stuttgart, den 5. März 1907, Titelseite, Ausschnitt

     

    Kommentar. Der Zeichner persifliert die Kolonialpolitik des Bernhard Dernburg (1865-1937), "Sein Name ist ein Programm". "Und der Zauber seiner Persönlichkeit wirkt auf Alt und Jung", berichtet Pester LLoyd über seinen Vortrag am 8. Januar in Berlin. Seit September 1906 leitet er als Staatssekretär die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes. Das Ziel, die Ausbeutung der Arbeitskräfte in den Kolonien zu verbessern, verbrämt er mit zirzensischen Formen der Propaganda.

    In die Stadt zieht eine Zirkuskolonne. An der Spitze rollt ein Wagen mit der Aufschrift "Reichsverband zur Verfolgung der Sozialdemokratie" an. Die Organisation wurde 1904 von Deutschkonservativen, Freikonservativen und Nationalliberalen gegründet. Dahinter folgt Bernhard Dernburg im römischen Kampfwagen. Von der Tribüne grüßen freundlich Reichskanzler Bernhard von Bülow, sitzend, und in schwarzer Uniform der Staatssekretär des Reichsmarineamtes Alfred von Tirpitz. Graf von Posadowsky steht auf der Treppe und wendet den Blick nicht der Kolonne zu. Bringt dies vielleicht etwas Distanz zum Ausdruck, wenn wir an die Bielefelder- und Jenenser-Rede denken?

    Massgebliche Vertreter der Sozialdemokratie führen gegen die öffentliche Verklärung der Kolonialpolitik einen engagierten politischen und kulturellen Kampf.

     

    Für die schnell wachsende Bevölkerung müssen geeignete koloniale Gebiete erworben werden, sagt die Reichsleitung zur Öffentlichkeit. "Es ist aber falsch, zur Zeit von einer Übervölkerung Deutschlands zu sprechen." Die Auswanderungskurve sank von 1891 mit fast 2 1/2 auf 1/3 Promille im Jahr 1908. Südafrika wäre am geeignetsten um gegebenenfalls den Bevölkerungsüberschuss aufzunehmen. Dort leben laut Reichsstatistik 6210 Deutsche einschließlich der Beamten. In demselben Zeitraum hat sich die deutsche Bevölkerung um 18 Millionen vermehrt. Selbst die heißblütigsten Kolonial-schwärmer müssen erkennen, dass unsere Kolonien nicht geeignet sind nur einen nennenswerten Bruchteil der wachsenden Bevölkerung in sich aufzunehmen. (Die Wohnungsfrage 5.2.1911, 82)

  • Den Kern der Landesverteidigung bildet das Landheer. Darauf muss sich der Staat konzentrieren. "Ein etwaiger Krieg wird neue Ansprüche stellen. "Dazu ist im Offizierskorps ein frischer Geist und ein frischer Mannesmut erforderlich ...."

  • Es muss die Landesverteidigung finanziert werden. "In keinem Fall dürfen wir in die alte Schuldenwirtschaft zurückfallen." In der Ausgabenpolitik soll etwas mehr Sparsamkeit walten. Die Reichsfinanzreform sieht eine Tilgung der Schulden vor.

  • Auf die epochemachenden Leistungen von Deutschland auf dem Gebiet der Sozialgesetzgebung sind wird Stolz.

  • Obwohl die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschland ist weiter erstarkt, doch ist "völlig ausgeschlossen", "dass sie jemals zu herrschenden Partei wird und so ihre programmatischen Ziele verwirklichen" kann.

  • Die Strategie zur Bekämpfung der Sozialdemokratie muss auf rechtspolitischen Imperativen des gültigen Rechts gründen.

Bei seinen Auftritten im Wahlkreis, pflichtbewusst und gut vorbereitet, plädiert er gelegentlich für die Einführung von "Besitzsteuern", was meistens nicht so wohlwollend aufgenommen wird, fühlen sich doch viele Bürger mit Steuern ausreichend ausgestattet.

Die Reichsfinanzpolitik und Schuldenfrage stellt er zu unkritisch dar.

1912 spricht die SPD von einem Reichsfinanzschwindel. "Die Beschöniger unserer Reichsfinanzlage sind wieder emsig an der Arbeit," argumentieren ihre Parteizeitungen, "um der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen." Unter "Zuhilfenahme der sonderbarsten Legenden" wird ihre Besserung behauptet. .... Würde der Etat glatt durchgerechnet, müssten 148 Millionen Mark Schulden ausgewiesen werden. (LV 22.7.1912)

Der Konkurrent von Graf von Posadowsky im Wahlkreis Bielefeld ist der Sozialdemokrat Carl Severing (1875-1952). Dessen Partei unterzieht die zweistündige Bewerbungsrede einer kritischen Analyse:

 

Die Entwicklung des Friedensideals
(Originalbildüberschrift)

"Der Wahre Jacob". Nummer 549. Stuttgart, den 6. August
1907. Freie Wiedergabe der Bildunterschriften.

 

Die Entwicklung des Friedensliebeideals
der Militaristen der Friedensschwärmer der Engländer
der Deutschen des Zaren der Yankee
... Leute der Kapitalisten in Wirklichkeit

Erstens. Der Wahlkämpfer aus Bielefeld war es, das kann die Opposition nicht vergessen, der höchst persönlich vor Jahren den Zolltarif eingerichtet hat, der jetzt die wirtschaftliche Entwicklung hemmt. Glitt er deshalb flugs über die Teuerungen der Waren durch Ausweitung der indirekten Steuern hinweg?

Zweitens. Offenbar ist Posadowsky beim Thema Bevölkerungswachstum entgangen, dass der Zustrom ausländischer Arbeiter nicht so stark sein müsste, wenn die nationalen Unternehmen sie nicht als Lohndrücker einsetzen würden. "Aber warum sagt" er "seinen Zuhörern nicht, daß diese Furcht vor der Überbevölkerung überhaupt eine Lächerlichkeit ist."

Aber das sagt(e) er doch!

Und sie könnten es wissen, denn bereits im Vortrag zur "Die Wohnungsfrage als Kulturproblem" in München, abgedruckt in der Wiener "Architekten- u. Baumeister-Zeitung" vom 5. Februar 1911, analysierte er die Bevölkerungsentwicklung, die Abwanderung vom Land in die Stadt und Auswanderung in die deutsche Kolonien. Beeindruckend ist dabei seine humanistische Denkart und sein Engagement für die unterprivilegierten Schichten der Gesellschaft. Was die Sozialisten ihm in diesem Punkt vorhalten, liegt quer zu den Tatsachen. Es ist sinnvoll darauf einzugehen, zumal es Grundfragen dieser Zeit betrifft, die in der Öffentlichkeit stark diskutiert werden. Dem Münchner Publikum trägt er Folgendes vor: Die deutsche Bevölkerung wuchs von 1871 bis 1905 um 48 Prozent. Und trotzdem beschäftigt die hiesige Industrie im größeren Umfang ausländische Arbeitskräfte, was ein "Überraschender Beweise von der wachsenden Intensität des deutschen Unternehmergeistes". "Unsere Kolonialerwerbungen wurden seinerzeit damit begründet, dass wir Gebiete haben müssten, wohin wir unseren wachsenden Bevölkerungsüberschuss abschieben könnten, ohne unsere deutschen Landsleute der Gefahr auszusetzen, ihr Deutschtum zu verlieren, was leider bekanntlich einer unserer großen Nationalfehler ist. Seitdem ist unsere Auswanderung mit unwesentlichen Kurven fast fortgesetzt gesunken." Von diesem "Bevölkerungsüberschuss" nahm in den letzten 26 Jahren die Südwestafrika 6210 Deutsche, einschließlich der Beamten auf. "Selbst der heissblütigste Kolonialschwärmer wir da zu der Überzeugung kommen, dass unsere Kolonien nicht geeignet sind, auch nur einen nennenswerten Bruchteil unserer wachsenden Bevölkerung in sich aufzunehmen." (Posadowsky 1911)

Drittens. Dem Kapitalismus, diesem System der Ausbeutung und der Geistesknechtung, der Teuerungen und der Kriegsgefahr, ist ein Ende zu bereiten.

Viertens. Von einem Kandidaten der Rechten können die Bürger zur Erbschaftssteuer keine Großtaten erwarten, zu oft schon warfen die Konservativen den Hemmschuh vor die Räder der Sozialpolitik. Mit dem Kandidaten der Nationalliberalen und des Landbundes kann das Volk jetzt auf diesem Gebiet keine Lorbeeren erringen. (Vorwärts 30.11.1911)

Die SPD ermuntert die Wähler: "Es geht aufs Ganze und deshalb werden die Arbeiter in Bielefeld die guten Absichten des früheren Staatssekretärs gerne registrieren, ihr Stimmen aber gehören dem Kandidaten der Sozialdemokratie." Aber ihre Hoffnungen erfüllen sich nicht. Wohingegen ihr politischer Gegner die Wahl als ein "glückliches Ereignis" empfindet, ihn, wie noch zu sehen, in eine leichte politische Rechtskurve zwingt.

 

 

Ergebnisse der Reichstagswahl vom
12. Januar 1912
Stimmen in Prozent

SPD: 34,8 Prozent

Freisinnige Volkspartei: 12,3 Prozent

Nationalliberale Partei: 13,6 Prozent

Zentrum: 16, 4 Prozent

Deutschkonservative Partei: 9,2 Prozent

Deutsche Reichspartei: 3 Prozent

Sonstige Parteien: 2 Prozent


 

Nach den Reichstagwahlen am 12. Januar 1912 gehört er zu den „Berliner Reichstagsköpfen“, wie 1915 das Wiener Fremdenblatt feststellt, "die man dort jetzt öfter auf den Straßen sieht".

Noch einmal greift die SPD auf den Reichstagswahlkampf in Bielefeld zurück. "Ja, da möchte ich aber doch auf eins aufmerksam machen", beginnt am 17. Februar 1912 Georg Ledebour seine Attacke im Reichstag: "Soviel mir bekannt ist, haben sie in den Versammlungen keine freie Diskussion gestattet, (hört! hört! bei den Sozialdemokraten) höchstens Zehnminutenbrennerreden, - (Heiterkeit) das ist mir erzählt worden, - oder sollte ich mich da irren? Hui tavet, oollssutirs viästur; noch dazu, da der Herr Abgeordnete vorhin widersprochen hat, nehme ich an, daß es richtig ist. Dann möchte ich ihn darauf aufmerksam machen, daß es keine besonders rühmenswerte Kunst ist, eine Menge zu beeinflussen, wenn man die Gegenrede nicht zulässt."

Einwurf von Posa:

"Ich habe mit der Arrangierung der Versammlung
gar nichts zu tun gehabt."

Der renommierte SPD-Politiker fordert ihn zum Rededuell heraus und schlägt dafür den größten Saal in Berlin vor. "Ja, Herr Graf," sagt Georg Ledebour (RT 17.2.1912, 101), "ich gehe sogar so weit: wenn Sie mir die Ehre einer Diskussion erzeigen wollen, ich konzediere Ihnen zwei Stunden, ich will nur eine Stunde sprechen. (Große Heiterkeit)"

 

 

Ein ehrliches Wort zuviel! zurück

Nach all den häufigen politischen Angriffen gegen ihn, aber auch eingedenk der vielen Kontroversen, die er selbst mutig suchte, könnte man meinen, dass er im öffentlichen Raum allmählicher vorsichtiger agiert. Er war ein Mann der sich den Realitäten stellte. Der darum bemüht, dass Verhältnis der Bürger zur Regierung nach fortschrittlichen moralischen Massstäben zu gestalten, das heißt deren Bedürfnis nach Bildung, Mitbestimmung und Verbesserung der Lebensbedingungen gut kannte und Rechnung tragen will. Graf von Posadowsky gehört n i c h t, um es deutlich auszusprechen, "zu der verschwindend kleinen kaiserlichen Führungsgruppe", die mit ihrem Sendungsbewusstsein "transzendentaler Überlegenheit" in die Öffentlichkeit drängten, dabei aber unfähig waren "realistische Informationen über die innere und äußere Lage des Reiches zu sammeln und darauf basierend rationale politische Entscheidungen zu treffen" (Röhl 2002, 77).

 

Postkarte: Internationale Hygiene-Ausstellung Dresden 1911. Hauptpromenadenplatz mit Halle: Der Mensch.

 

Ein ehrliches Wort über den Klassenkampf,

war gefallen, berichtet am 23. September 1911 die "Salzburger Wacht".

Gemeint ist damit die Rede von Graf Posadowsky

am 15. September 1911

auf der Internationalen Hygiene-Ausstellung in Dresden. Abends zuvor treffen im Roten Saal des städtischen Ausstellungspalastes das Comite permanent international des assurances sociale Paris und das Deutschen Komitee für internationale Sozialversicherung Berlin ihre Vorbereitungen. In den Morgenstunden des nächsten Tages konferieren sie im Vortragssaal der Ausstellung. Dabei sind Vertreter des Reichsversicherungsamtes und des Königlich-Sächsischen Ministeriums des Innern. Dann eröffnet der Präsident des Deutschen Komitees Unterstaatssekretär Professor Dr. von Mayer die

Zweite Internationale Konferenz für Sozialversicherung.

Nach einer kurzen Einführung zur Tagesordnung, begrüßte er den Ehrenpräsidenten Seine Exzellenz Herrn Staatssekretär a. D. Graf von Posadowsky-Wehner zur

Eröffnungsansprache.

Ziel der Konferenz, führte er aus, ist es, Kapital, Unternehmerlust und Arbeitskraft zusammenzuführen, dabei ausgleichend zu wirken und zugleich den Wettbewerb auf dem Weltmarkt gerechter zu gestalten. Eingeflochten in die Erörterung der Sozialpolitik, fährt die Rede fort:

"Es liegt in der Natur, dass jeder seine äußere Lage verbessern will. Die gute Seite dieses Strebens ist, dass der wirtschaftliche und technische Fortschritt, wenn auch nicht immer der Sittliche, gehoben wird. Und wo nun immer Individuen sich zu gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen vereinen, da entstehen die Klassenkämpfe und Klassengegensätze." (VS 17.09.1911)

Ohne Frage verstärkt diese Sprache beim Gegenüber die Wahrnehmung der Grenzlinien sozialer Klassen und somit die politische Aussagekraft. Viele andere Politiker seiner Herkunft und Naturells bedienen sich vorzugsweise einer deutlich neutraleren Sprechweise, um die Konflikte zu dämpfen oder um ihnen auszuweichen. Da wäre zum Beispiel Gutsbesitzer Graf Hans Wilhelm Alexander von Kanitz-Podangen (1841-1913) von der Deutschkonservativen Partei. Die Frage nach dem "Materialismus des Besitzes" wimmelt er ab und behauptet dreist, die Landwirtschaft sei gar nicht in der Lage sich dem "Materialismus" hinzugeben.

"Es ist nicht zum erstenmal,"

kommentiert die sozialdemokratische Zeitung aus Magdeburg erhellend,

"daß sich Posadowsky durch das Aussprechen solcher einfachen Erkenntnisse, die eigentlich jedem Gebildeten geläufig ein sollten, mießliebig macht." (VS 17.09.1911)

Ja, er rüttelt heftig am ideologischen Dogma, dass besonders in den Kreisen seiner politischen Herkunft gepflegt wird. Was er sagte, wollen die Allermeisten aus dem Mund eines Konservativen nicht hören. "Ein ehrliches Wort über den Klassenkampf", vertrugen sie nicht, weshalb wenige Tage danach die Salzburger Wacht die Leser darüber unterrichtet:

"Es ist nicht zum erstenmal, daß Graf v. Posadowsky durch das Ansprechen solcher einfacher Erkenntnisse, die eigentlich jedem Gebildeten geläufig sein sollten, "mißliebig" macht. Hat er doch zur Zeit, da er noch im Amte war, von der Sozialdemokratie gesprochen als einer "Arbeiterpartei", "die Rechte der Arbeiter vertritt", hat er doch den Besitzenden vorgehalten, daß ihr Besitz zwar eine Annehmlichkeit, aber keine Tugend sei, und sogar das Wort gewagt: "Wer dafür kämpft, den Massen Leben und Gesundheit zu erhalten, der kämpft für die Stärke der Zukunft unseres Vaterlandes." Für solche und ähnliche Missetaten ist er ja dann auch durch seine Amtsenthebung gebührend bestraft worden."

Natürlich ist die Dresdner-Rede kein Beitrag zur Klassenverhetzung und kein Zeichen für eine innere Wende zum Marxismus. Ihm ist es eine Herzenssache, die gesellschaftliche Entwicklung in friedliche Bahnen zu lenken. Als obligatorische ethische Erkenntnisperspektive könnte sie in der vorliegenden Form der Gesellschaft helfen, Klassenkämpfe als etwas Notwendiges zu begreifen und kulturell Unvermeidliches anzunehmen. Damit würde sie der nationalsozialistischen Politik vorbauen, die innen- und außenpolitische Verbrechen, Aggressionen und Repressionen gegen den Widerstand der Diktatur mit der Notwendigkeit der Vernichtung der Klassenkampf-Verbrecher rechtfertigte.

Um es nicht zu übersehen, im Volkshaus von Jena tagt vom 10. bis 16. September 1911 der SPD-Parteitag. Sollte der "Sozialkongreß" etwas von der öffentlichen Aufmerksamkeit nach Dresden umlenken? Bis zu den nächsten Reichstagswahlen am 12. Januar 1912 ist es nicht mehr lange hin. Die SPD wird einen spektakulären Erfolg erzielen: 34,8 Prozent der Wahlteilnehmer votieren für sie. Ihre gewonnene parlamentarische Macht nutzt sie nicht, um ihr Versprechen der Friedenssicherung vom 24. November 1912 auf dem Basler-Friedenskongress einzulösen.

 

 

 

"Die Wohnungsfrage ist .... jetzt die soziale Frage."
 
Posadowsky-Wehner, 6. Februar 1913
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Besonders in den industriellen Zentren Deutschlands herrscht große Wohnungsnot. Kinderreiche Familien, Geringverdiener, Erwerbslose, Invalide, und Greise hausen in Löchern mit stickiger Luft und unzureichendem Sanitär. Alkoholismus und andere die Gesundheit zerstörende Laster haben in nicht unerheblichem Maße hier ihre Ursache. Der Mangel an gesunden, hellen Kleinwohnungen, läßt die Mieten weiter in Höhe steigen. Seit 1863 spricht man von "Trockenwohnern". Ein Begriff, der von Satirezeitschrift Kladderadatsch eingeführt und sich zur kulturkritischen Metapher mauserte.

 

George Grosz (1893-1959: Auf dem Wege zur Arbeit 1912. Tusche, Aquarell und Farbstift auf Papier 53,5 mal 45 cm. Unsigniert, undatiert.

Privatbesitz

 

Allmählich entsteht in der Öffentlichkeit eine neue Sichtweise. "Es ist in immer tiefere Kreise unserer Bevölkerung das Bewusstsein eingedrungen," beurteilt Posadowsky (RT 6.2.1913, 3549) den Fortschritt, "dass ein großer Teil der körperlichen und sittlichen Leiden der minderbemittelten Schichten aus den ungenügenden Wohnverhältnissen hervorgeht, die namentlich in den großen Städten bestehen. (Lebhafte Zustimmung rechts und links im Zentrum)." Daß die Lösung der Wohnungsfrage für die Schloß-Besitzer anders aussieht als für die Arbeiter in Berlin und Leipzig, war ihm immer gegenwärtig, ohne dass er der Versuchung verfiel, sich in den Klassenkampf zu stürzen. Aber er tritt, anerkennt 1907 die "Volksstimme" aus Magdeburg, der Ausbeutung der Mieter durch die Hausbesitzer und Grundbesitzer entgegen.

Die Wohnungsfrage ist von nicht zu überschätzenden Einfluß auf die Tiefe und Festigkeit politischer Überzeugungen und Einstellungen der besitzlosen Klasse gegenüber Staat und Regierung. Um es mit Posadowsky Worten zu sagen: "Eine kräftige bäuerliche Siedlungspolitik in allen Teilen Deutschlands und eine

großherzige Wohnungspolitik

könnte einen entscheidenden Einfluss auf die politische Zukunft unseres Vaterlandes ausüben." (Posa, RT 1913, 3549) Rückt er deshalb die Wohnungspolitik in den Mittelpunkt? So könnte man schlußfolgern. Die Wohnung bleibt der funktional-soziale Raum für die Gestaltung des familiären und persönlichen Lebens. Hundert freundliche Arbeiterhäuschen lösen das Problem nicht. Geräumige, hygienisch einwandfreie Großblöcke sind für den sozialen Wohnungsbau der Maßstab der Stunde. Posadowsky konzentriert sich auf die Bedürfnisse der Arbeiter und kleinen Angestellten, rückt sie in das politische Zentrum der Wohnungspolitik und unterbreitet folgende Vorschläge:

gesetzliche Festlegungen zum Bau von ausreichend Kleinwohnungen,

Wahrung des Gleichgewichts zwischen vorhandenen Kleinwohnungen und dem Wachstum der Bevölkerung (unter Beachtung der Geburten- und Sterberate sowie der Nachfrage an wachstumsbedingten industriellen Arbeitskräften),

finanzielle Förderung des Wohnungsbaus für die minderbemittelten Schichten,

Zweck und Mittel der gesetzlichen Förderung des Wohnungsbaus müssen in sachlicher Übereinstimmung mit den Notwendigkeiten zur Behebung der Wohnungsnot stehen,

Senkung der Mieten für die Reichs- und Kommunalangestellten, also Bau von staatlichen Wohnungen,

kein Zusammendrängen der minderbemittelten Klassen in weit entfernten Vororten und

städtische Wohnungspolitik unter Förderung und Nutzung des Erbbaurechts.

Das Erbbaurecht ist [a] für die Städte, bedrängt er abermals am 28. Februar 1912 den Reichstag, die möglichst große Ländereien erwerben, das geeignete Mittel, um auf dem Wege des Kleinwohnungsbaus für die minderbemittelten Volksklassen gesunde und preiswerte Wohnungen zu schaffen. Allerdings müssen dazu die Bestimmungen zum Erbbaurecht des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend ergänzt werden. [b] Die Städte können die Aufgabe nicht alleine lösen. Das Großkapital muss Mut fassen und Luft haben, die Förderung des Wohnungsbaus mittels dem Erbbaurechts zu unterstützen. Nach seinen Erfahrungen, ist die Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem nur mittels öffentlicher und privat-unternehmerischer Investitionen möglich. Durch entsprechende Ergänzungen der Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches würde sich, dass Großkapital interessiert zeigen. Zurzeit ist das nicht der Fall, weshalb rechtlich an der Liquidität der Anlagen oft Zweifel bestehen.

 

George Grosz. (1893-1959): Strasse 1912.
Aquarell, Pastell und Tusche auf Papier.
45,1 mal 47,6 cm: Schwarz signiert und datiert, Grosz 12: zusätzlich mit Bleistift signiert und datiert Grosz Juni 12

The Heckscher Museum of Art, Huntington (NY), Schenkung Mrs. Priscilla de Forest Wiliams


Es ist kam Bewegung in die öffentliche Meinung zur Wohnungsfrage, auch dank der Initiativen von Persönlichkeiten wie Karl von Mangoldt (1868-1945), Sekretär des Instituts für Gemeinwohl und Vorsitzender Geschäftsführer des Vereins Reichswohnungsgesetz. Er ist entscheidend an der Vorbereitung und Durchführung des

Ersten Allgemeine Deutsche Wohnungskongress,

vom 16. bis 19. Oktober 1904 in Frankfurt am Main beteiligt. Posadowsky unterstützt nachdrücklich das Projekt. Bis auf den letzten Platz füllt sich der Saalbau zur Eröffnung des Kongresses. Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens erscheinen. Eine bunte Gesellschaft, darunter: Nationalökonom und Sozialreformer Professor Lujo Brentano, Albert Südekum, Journalist und SPD-Mitglied, Franz Oppenheimer, Arzt und Soziologe, Doktor Baumert, aus Berlin-Spandau und Syndikus der Hausbesitzervereine und viele Fachleute der Wohnungswirtschaft. Der Kongresse erörtert die sozialen, ökonomischen und verwaltungstechnischen Probleme der Wohnungswirtschaft Tief bewegt sind die Kongressteilnehmer von Berichten über das Schlafgängerwesen oder die Not einer Familie mit zehn  Personen, die nur in einem Zimmer lebt.

Die Versammlung spaltet sich, als der Organisationsausschuss des Allgemeinen Deutschen Wohnungskongress nur eine von ihm zugelassene Erklärung zur Abstimmung zulassen will. Dagegen protestiert die sozialdemokratische Gruppe und veröffentlicht am Sonntag, den 18. Oktober, ein Dokument, worin sie den preußischen Wohnungsgesetzesentwurf zur Linderung der Not als völlig ungeeignet bezeichnet, weil der Landtag die Klassenprivilegien pflegt und die Gemeinden rücksichtslos das Hausbesitzervorrecht realisieren.

Unschwer sind in den Debatten und Ergebnissen des Wohnungskongresses die tiefen Gegensätze und Unterschiede erkennbar, die in der Gesellschaft allgemein und bei den verantwortlichen Fachpolitikern zur Lösung des Wohnungsproblems als soziales Problem bestehen.

 

Am

5. Januar 1910

bittet der Bayerische Verband für Wohnungsförderung
in München
Posadowsky-Wehner zum Vortrag unter dem Thema:

Die Wohnungsfrage
als Kulturproblem.

 

Die Posadowsky-Häuser,
Berlin, Wollankstraße 75

 

 

"Der Vaterländische Bauverein, der mit der Versöhnungs-Privatstraße in der Rosenthaler Vorstadt eine wegweisende Wohnanlage des sozialen Wohnungsbaus errichtet hatte, entschloss sich 1905 zum Bau einer zweiten Wohnsiedlung am Rand des St. Elisabeth-Kirchhofs II in Pankow. Die Posadowsky-Häuser (1) an der Wollankstraße 75-83B sind nach Arthur Graf v. Posadowsky-Wehner benannt, der als Staatssekretär im Reichsamt des Inneren die christliche Arbeiterbewegung förderte und für ein modernes Arbeiterschutzrecht sorgte. Die von Carl und Walter Koeppen nach dem Gedanken der Wohnreform angelegten Posadowsky-Häuser wurden in zwei Bauabschnitten ausgeführt. Die beiden vierflügeligen, um einen Innenhof orientierten Gebäude, die zusammen mit einem Mitteltrakt einen repräsentativen Ehrenhof umschließen, entstanden 1905-06, während die Wohnzeile entlang der Wollankstraße, erweitert durch kurze Seitenflügel, 1910-11 angefügt wurde. Die für damalige Verhältnisse großzügig bemessenen Arbeiterwohnungen umfassen ein bis zwei Zimmer mit Küche und Speisekammer, erweitert um Balkon oder Erker. Nahezu alle Wohnungen können quer gelüftet werden. Außergewöhnlich war die Beleuchtung mit elektrischem Licht. Die Bewohner, die sich als christliche und patriotische Gemeinschaft verstanden, konnten Badeanstalt, Spielplatz und andere genossenschaftliche Einrichtungen gemeinsam nutzen. Die Wohnanlage in der Art eines Landschlosses verdeutlicht die von der christlichen Arbeiterbewegung angestrebte Versöhnung zwischen den armen und vermögenden Schichten der Gesellschaft. Mit den Posadowsky-Häusern wandte sich der Vaterländische Bauverein von der historisierenden Bauweise ab, der er anfangs noch gefolgt war. Die Fassaden, gegliedert durch dreiseitige Erker und Balkone, sind betont einfach gehalten, wirken aber mit ihren steilen Dächern dennoch herrschaftlich und vornehm. Ein schmiedeeisernes Gitter begrenzt den gärtnerisch gestalteten Ehrenhof. Der Mitteltrakt des Ehrenhofs ist durch einen mächtigen Giebel hervorgehoben. Über dem Giebeldreieck ragt ein kreisrunder Dachturm mit Galerie und glockenartiger Haube auf. Die wenigen floralen und abstrakten Ornamente wurden nach 1950 beseitigt."

 

 

Zitiert aus: www. deutsche-digitale Bibliothek.
Datengeber Landesdenkmal Berlin. Rechteinformation: Landesdenkmalamt Berlin. Rechte vorbehalten - Freier Zugang

 

Nach Analyse einiger Tendenzen der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland, klingen bald kritische Untertöne zur Kolonialpolitik an: In den besten Kolonien, wie Südwestafrika, die 26 Jahre zu Deutschland gehören, siedelten lediglich 6 210 Deutsche, während sich die Bevölkerung im gleichen Zeitraum um 18 Millionen erhöhte. "Auch die wärmsten Vertreter einer starken Kolonialpolitik werden hiernach die Hoffnung kaum mehr aufrechterhalten können, dass unsere Kolonien imstande wären, einen irgendwie nennenswerten Teil unserer wachsenden Bevölkerung aufzunehmen."

Wenn wir den jetzigen Kulturstand halten wollen, kalkuliert der Graf, dann müssen ausreichend Wohnstätten geschaffen werden, die den gesundheitlichen und sittlichen Anforderungen genügen. Gegenwärtig lebt die Stadtbevölkerung zu vier Fünftel in Kleinwohnungen mit zwei bis drei Räumen. "Aber nur in sehr großen Entfernungen von ihrer Arbeitsstelle können sie sie finden `zum Schaden ihrer Arbeits- und Nachtruhe und ihres Familienlebens`". Etwa 63 Prozent der Bevölkerung leben in Zwei- bis Dreizimmerwohnungen. In einzelnen Orten sind sie bis zu 59 Prozent mit zwei, ja sogar mit drei Schlafgängern belegt, was "die kaum glaubliche Zerrüttung des Familienlebens in den Arbeiterfamilien" bedingt. Staat, Städte und Gemeinden müssen deshalb eine neue Richtung im Wohnungsbau einschlagen. "Während in dem hochindustriell entwickelten Belgien, in Brüssel, auf ein Haus nur 9, in Gent 5, in Antwerpen 7, in Lüttich 8, Bewohner entfallen, treffen in Westfalen in grösseren, selbst mittleren Industriestädten 20-22 Bewohner auf das Haus, und zwar von Häusern im ganz geringen Umfang." (Wohnungsfrage 5.2.1911, 83)

"..... gerade von der Entwicklung des Erbbaurechts, glaube ich," präzisiert er am 6. Februar 1913 (3548) vor dem Reichstag seine Vorstellungen, "ist eine sehr wirksame Förderung des Wohnungswesens zu erwarten; denn das Erbbaurecht hat den großen Vorzug, erstens, dass das bebaute Grundstück nicht aus dem Hypothekenverband des Stammgrundstücks ausgelöst zu werden braucht; ferner erlaubt es auch minder bemittelten Personen, ein derartiges Grundstück im Wege des Erbbauvertrages zu erwerben, weil kein Kapital zu zahlen ist, sondern nur eine fortlaufende Rente, und endlich hat er für den Besitzer des Grundstücks den wesentlichen Vorteil, dass er Eigentümer seines Grundstücks bleibt, und ihm deshalb auch der Gewinn aus der Steigerung des Preises für den Grund und Boden zufließt, sobald die Erbbaufläche nach Ablauf des Erbbauvertrages wieder in sein Eigentum zurückkehrt."

Um den Wohnungsbau mit angemessenen Preisen realisieren zu können, müssen die Gemeinden endlich reichlich und vorsorgend Grund und Boden ankaufen. Für dringend notwendig hält er den Bau von Wohnungen für Reichsangestellte, damit, wie er es ausspricht, die Mieter der Ausbeutung durch die Hausbesitzer und Grundeigentümer entrinnen können.

Über den Münchner Vortrag von 1910 fällt die sozialdemokratische Wochenschrift Die Neue Zeit (1910) ein vielsagendes Urteil:

"Und wenn Posadowsky noch nicht a. D. wäre, die Kreise, deren Interessen er als Minister vertreten hat, würden, ihn nach dieser Rede schonungslos wegjagen. Doch freilich als er noch im Amte war, hat er an den geheiligten Privilegien der Kapitalisten nicht gerüttelt."

 

Auf dem

Zweiten deutschen Wohnungskongress
vom 12. bis 14. Juni 1911 in Leipzig

hält Graf von Posadowsky-Wehner als ihr Ehrenpräsident die Eröffnungsrede. Es gilt als ein Fachmann der Wohnungsbaupolitik und geniesst einen guten Ruf. In seinem den Kongreß einleitenden Referat stützt er sich auf eine Vielzahl von Veröffentlichungen, Petitionen und Statistiken. Wichtige erwähnt er als Quelle. Interessant ist, welche Nachrichten, Informationen und Fakten sein politischer Blick auswählt. Sein Vortrag beginnt mit einem kurzen historischen Rückblick:

Abgesehen von den Hardenbergschen-Reformen, war Berlin nach den napoleonischen Kriegen viel zu arm, um Wohlfahrtspflege treiben zu können. Von der merkantilistischen Politik erwartete man eine wirtschaftliche Belebung des Staates.

Das Grundaxiom muss lauten: Die Ursachen der inneren Wohnungsnot analysieren und daraus die Schlußfolgerungen ableiten.

Die Wohnungsnot ist das Ergebnis des hohen Bevölkerungswachstums in Deutschland.

Von 100 Berliner Kleinwohnungen sind mindestens 7 überbevölkert und mindestens 14 als schlecht einzustufen. Selbst in Ein-Zimmer-Wohnungen werden Schlafgänger aufgenommen. Die Statistik belegt einen schlechten Einfluss auf Fertilität.

Bei vielen jungen Männern stellte man bei der Musterung zum Wehrdienst einen schlechten körperlichen fest. Ebenso leidet ein großer Teil der Landbevölkerung unter Mangelernährung.

Ganze Bevölkerungsschichten betrachten die körperliche Arbeit zunehmend als minderwertig. Gleichzeitig klagen die Metropolen und Agglomerationen über eine erhebliche Arbeitslosigkeit. Tausende verschwinden in den Großstädten wie in einem Ozean. Andererseits könnten sie auf dem flachen Land in Gemeinschaft ihrer Mitbürger wesentliche und geachtete Dienste leisten.

Neben dem natürlichen Zuzug findet noch ein künstlich getriebener statt. Viele von den Minderbemittelten können auf Grund der stark gestiegenen Bodenpreise und den hohen Mieten in Folge der Häuserspekulationen, kein Geld für Eigentum aufbringen. Der kleine Mann versucht, die Preise für sich erschwinglich zu halten, indem er untervermietet oder Schlafgänger aufnimmt. Je geringer die Mieten, desto größer sind die menschlichen Belastungen. Die Folge ist die Übertragung von natürlichen und sittlichen bedingten Krankheiten, die das Elend vergrößern. Neigung zu Siechtum, und Entartung der seelischen Erscheinungen sind zu beobachten. Der Kindersegen wird da zu einer fürchterlichen Last.

Posadowsky betreibt Wohnungspolitik für die Unterklasse. Drei grundsätzliche Folgerungen umschreiben gut seine Herangehensweise:

Erstens. "Unsre ganze Arbeit in der Wohnungsfrage muss bei fortgesetzten Wachstum unserer Bevölkerung und den nicht vorauszusehenden und zu beherrschenden Gründen des Zusammenströmens immer größere Massen an gewissen Schnittpunkten unseres wirtschaftlichen Lebens eine Danaidenarbeit bleiben, wenn wir nicht unterstützt werden durch Bestimmungen eines Wohnungsgesetzes, welches nicht nur gewisse Mindestforderungen für die Herstellung von Wohnungsgebäuden aufstellt, sondern auch den Verwaltungs- und Polizeibehörden das Recht gewährt, Art und Umfang der Benutzung der Wohnräume entsprechend den Anforderungen der von Sittlichkeit und Gesundheit zu regeln."

Zweitens. Wohnungsgesetze und Vorschriften müssen sicherstellen, dass gewisse mit dem Bebauungsplan einbezogene Landstücke nur mit Kleinwohnungen bewirtschaftet und die darauf errichteten Häuser ebenfalls nur als Kleinwohnungen benutzt werden dürfen.

Drittens. Große ("zentrale") Bedeutung kommt der Anwendung und Förderung des Erbbaurechts zu. Wesentlichen Punkte dazu erörterte am 28. Februar 1912 im Reichstag.

Er beendet sein Leipziger Referat mit lebhaften und anhaltenden Beifall.

(Referat von Posadowsky in LVZ 13. Juni 1911 und Arbeiter-Zeitung, Wien, 25. Juni 1911)

 

Reichstagsdebatte 1913

Am Freitag, den 7. Februar 1913 führt der Reichstag die Aussprache über die Wohnungsfrage fort. Anlass war die unerwartete Ausdehnung durch die Junker, die mit Graf Kuno Westarp (1864-1945), Deutschkonservative Partei (DKP), einen Vorstoß gegen die Reichsverwaltung und den Reichstag unternahmen. Zuvor kündigte Staatssekretär Clemens von Delbrück (1856-1921) vom Reichsamt des Innern an, dass das Reich die entsprechenden Aufgaben übernehmen muss, wenn die Einzelstaaten - wie eben Preußen - es nicht tun. In der Debatte entsteht der Eindruck, als ob sich das Reich den Interessen der preußischen Junker, dass nur seine Interessen und Vorteile kennt, fügen soll. Aus dem Hintergrund hört Sozialdemokrat Georg Ledebour den Sammelruf gegen die Arbeiterklasse und ihre Organisationen.

Posadowsky versucht am 6. Februar 1913 (3548) beruhigend auf den Streit einzuwirken, indem er darauf hinweist, dass das preußische Wohnungsgesetz veröffentlicht und auf der nächsten Tagung des preußischen Landtages beraten wird. "Ich meine, man wird sich bei dieser Lage beruhigen müssen. (Sehr richtig! rechts) Wir würden indessen meines Erachtens auf die Forderung eines Reichswohnungsgesetzes zurückkommen müssen, wenn entweder jenes preußische Wohnungsgesetz eine Gestalt bekäme, die nicht den wirklichen Bedürfnissen unseres Volkes entspricht." Am 12. Oktober 1918 (138) bescheinigt er dem preußischen Wohnungsgesetz, dass es die nachteiligen "Folgen der jetzigen Wohnungsverhältnisse, unter denen namentlich die unterbemittelten Klassen leiden, durch allgemeine Ausführungsbestimmungen abhelfen" will. "Zu diesem Zweck soll der Kleinwohnungsbau durch Gewährung erheblicher Staatszuschüsse gefördert werden ...." Entscheidend ist für ihn, dass "das Wohnungsbedürfnis der minderbemittelten Klassen" in einer Weise befriedigt wird, dass den "den sittlichen und gesundheitlichen Forderungen entspricht".

Er am 6. Februar 1913 (3549) in der Reichstagsdebatte den Ersten Hauptsatz der Sozialpolitik um die Aufgaben der praktischen Wohnungsbaupolitik, die jetzt darauf gerichtet sein müssen, die Wohnverhältnisse in den Unterschichten und den Arbeiterfamilien, schnell und spürbar zu verbessern, erweitert. Denn:

"Die Wohnungsfrage ist nicht mehr eine soziale Frage
sie ist jetzt die soziale Frage.

"Wir unterstützen die Säuglingspflege, wir schaffen Jugendgerichtshöfe, wir verfolgen Laster und Verbrechen, damit kurieren wir aber nur auf die Symptome," merkt Posadowsky kritisch an, "wenn wir nicht die Hauptkrankheitsursachen, die sittliche bedenklichen Wohnungszustände, beseitigen."

"Will man die Wohnungsverhältnisse der Bevölkerung positiv fördern, so muß man auch finanzielle Maßregeln treffen - und solche erwarte ich vorzugsweise von den Bundesstaaten und den Gemeinden -, die es denen ermöglichen, die nur ein kleines Sparkapital besitzen und im Übrigen für die Erfüllung ihrer Verpflichtungen nichts als ihre redliche Arbeitskraft bieten können, sich damit in unserem Vaterlande ein gefundenes Heim zu schaffen."

 

Preußische Wohnungs-Gesetz vom 28. März 1918


George Grosz (1893-1959): Berliner Strassenecke, 1912.
Bleistift und Aquarell auf Papier. 29,9 mal 22,5 cm. Signiert.

Groz Stiftung Stadtmuseum, Berlin


Noch bevor der Krieg beendet, erlässt Preußen am 28. März 1918 das Wohnungs-Gesetz. Artikel 1 sieht "Enteignung mit Rücksicht auf das Wohnungsbedürfnis" vor. Posadowsky stellt das Wohnungsbedürfnis der wirtschaftlichen Unterklasse in den Mittelpunkt der Bemühungen. Die Entlassung der Kriegspflichtigen und die Abwanderung vom Lande in die Industriegebiete verstärkt den Wohnungsmangel. Von jedem Zuziehenden ist jetzt ein Nachweis über eine Wohnung zu fordern oder der Arbeitgeber stellt ihm eine solche bereit. Nur so lässt sich eine gewisse Ordnung im städtischen Wohnungswesen aufrechterhalten. Gefragt ist die Verantwortung des Arbeitgebers. Das aber gemeinnützige Vereine das Risiko übernehmen, die benötigten Wohnungen suf Vorrat zu bauen, hält er für Unwahrscheinlich. Es ist dringend ein Gleichgewicht zwischen vorhandenen Kleinwohnungen und dem Wachstum der Bevölkerung zu schaffen. Vor allem müssen Kleinwohnungen gebaut werden. (Wohnungsnot und Freizügigkeit, 12.10.1918, 136 bis 139)

 

1920 unterbreitet Graf von Posadowsky in

"Die Berliner Wohnungsfrage"

weitere Vorschläge und wiederholt:

"Von allen Fragen sind die Wohnungsfrage und die Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs diejenigen, die am tiefsten in das Volksleben eingreifen."

Typisch darn der Realismus, mit dem er vorgeht. Offensichtlich, muss er registrieren, reichen alle bisherigen Bemühungen, besonders wegen des schnellen Bevölkerungswachstums, nicht aus. Johannes von Miquel sprach einst von einer Vermehrung von 600.000 Köpfen pro Jahr (siehe Eugen Richter 14.12.1899, 689). Die bisherigen Massnahmen bewirkten keine durchschlagende Verbesserung. Und die wird weiter ausbleiben, warnt Posadowsky, solange nicht für die Benutzung der Wohnungen allgemein gültige Mindestanforderungen aufgestellt und deren Durchführung überwacht werden. Speziell für den Bau von Kleinwohnungen und deren Nutzung sind dringend Gesetze notwendig. Um zu niedrigen Mietpreisen zu gelangen, favorisiert er erneut das Erbbaurecht. "Entschließt man sich nicht zu durchgreifenden Massnahmen," warnt er, "so wird Laster und Verbrechen der Großstadt sich in einem Maße weiterentwickeln, das für das Volksleben nicht nur in den Großstädten, sondern des ganzen Landes bedrohlich wird."

 

 

Jahrhundertelang das Schlachtfeld der Nationen (Posadowsky)
Die Reichstagssitzung vom 25. April 1912
und die Rede von Arthur Graf von Posadowsky-Wehner     
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Im Vorfeld der Heeresdebatte am 25. April 1912 im Reichstag trotzen in Deutschland tausende Arbeiter und Arbeiterinnen zusammen mit Bürgern aus unterschiedlichen Milieus, dem alle "Dämme der Vernunft, der Menschlichkeit, der Gesittung niederreißende Militarismus" (Vorwärts 26.4.1912). Ihren Protest verleihen sie auf Kundgebungen, Versammlungen und kleinere Demonstrationen Ausdruck. Exemplarisch für die Welle der Empörung sind die B e r l i n e r Ereignisse, wozu Berichte vorliegen aus:

den Corona-Sälen, dem Saal von Boeker in der Weberstraße 17, dem Elysium in der Landsberger mit 2000 Personen, den Bergmanns Festsälen, der Wrangelstraße mit der Urania, wo 2000 anwesend waren, der Brauerei Königstadt und Bock-Brauerei auf der Chausseestraße, den Sophien-Sälen, Borussiasälen in der Ackerstraße 6-7 und Arminhallen in der Bremerstraße, über Franke in der Badstraße 19, dem Märkischen Hof in der Admiralstraße und Arthushof in der Perlebergstraße, den Pharussälen im unteren und oberen Raum mit zusammen etwa 2800 Teilnehmern und dem Cafe Bellevue in Boxhagen-Rummelsburg.

Nur kursorisch, damit keineswegs von geringerer politischer Aussage und Schlagkraft, sind noch zu erwähnen, die Versammlungen in den Stadtteilen Neu-Kölln, Schöneberg, Tempelhof, Köpenick, Treptow-Baumschulenweg Friedrichsfelde, Friedrichshagen, Lichtenberg, Stralau, Weißensee und Reinickendorf-Ost. Allerorts drängten sich Menschen in die überfüllten Raäum. Überall war der Unwille über diese Poltik der aufrüstung zu spüren. Bekannte SPD-Politiker, namentlich Adolph Hofmann, Reichstagsabgeordneter Fritz Kunert, Wilhelm Dittmann, Georg Ledebour und viele andere, unterstützen diese Aktionen.

So gesehen, als in der Konfrontation des Willens eines bedeutenden Teiles des deutschen Volkes mit der wilhelminischen Staatsführung, stellt sich die Lage erstaunlich differenziert dar. Ob angesichts dessen der nationale Rausch zur Flottenrüstung so überhaupt bestand, ist fraglich.

Eindeutig waren die Mehrheiten nie. Für die Kandidaten der Parteien, welche gegen die Militärvorlage waren, stimmten am 15. Juni 1893 bei den Reichstagswahlen rund 4 233 000 und für die Freunde der Militärvorlage nur 3 225 000 Wähler. Das im Reichstag dennoch eine Mehrheit für die Militärvorlage votierte, ist ein Hinweis auf das unvernünftige Wahlrecht (Bebel, Reichstag 27.11.1893). Zehn Jahre später ist die Lage prinzipiell nicht anders. Ein "homogenes Volk" mit der Neigung zur Flottenrüstung gab es - noch immer - nicht.

 

In Leipzig protestiert am 3. Mai 1912 die Bevölkerung "Gegen den Rüstungswahn" im Volkshaus und Felsenkeller von Plagwitz sowie in den Drei Lilien von Reudnitz.

Das Berliner Proletariat gegen die neuen Millionenforderungen!. "Vorwärts. "Berliner Volksblatt. Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands". Berlin, den 26. April 1912

 

Die Protestler beurteilen die internationale Lage, die Einkreisungs-, Welt- und Kolonialpolitik anders als die Reichsleitung. Ihnen fühlt sich die Schuldenpolitik ungeheuerlich an. ("Ehe eine Vermehrung unserer Schuldenlast erfolgt, müssen neue Steuern geschaffen werden.") Eine Abteilung marschiert mit einem pazifistischen Motiv, wobei nicht alle Gegner der Flottenrüstung zwangsläufig antinational eingestellt sind. Die Bürger verlangten, wie es bei den Protesten in Vorfeld der Heeresdebatte im April 1912 deutlich zu hören war, endlich einmal mit der wahnwitzigen Rüstungspolitik haltzumachen.

Und die Kritik kam nicht nur von links. Es war Rechtsanwalt Conrad Haußmann (1857-1922) aus Stuttgart, Abgeordneter der Fortschrittlichen Volkspartei für Balingen, Spaichingen, Tuttlingen, der im Reichstag das tiefe Unbehagen über die Rüstung aufgriff und daran erinnert:

"Das deutsche Volk will keinen Krieg, trotz aller Großsprechereien einzelner ist die große Mehrheit des deutschen Volkes von einem tiefen Friedensbedürfnis erfüllt. (Sehr richtig! links.) Das Treiben der Chauvinisten bei uns ist geradezu gewissenlos." (Haußmann 25.12.1912)

Auf der Gegenseite treten an: der Staatssekretär des Reichsmarineamtes Großadmiral Alfred von Tirpitz (*1849), Königlich Preußischer Staats-und Kriegsminister General der Infanterie von Heeringen (*1850), der Abgeordnete für den Wahkreis Borna-Pegau (Sachsen) und ehemaligen Gouverneur von Deutsch-Ostafrika Eduard von Liebert (*1859), Zentrums-Abgeordnete Doktor Peter Spahn (*1846) und Staatssekretär Graf von Posadowsky. Ihr Forum ist der Plenarsaal des Reichstags, wo die abschließende Verhandlung über vorliegende Entwürfe von Gesetzen zur

Abänderung des Reichsmilitärgesetzes

und

Ergänzung des Gesetzes über Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres vom 27. März 1911

sowie der

Besoldung

statthaben.

Den Mannschaften des Heeres und der Marine, die sich der Hoffnung hingeben, warnt am 12. April 1912 das Jenaer Volksblatt, daß mit der Wehrvorlage sofort eine Erhöhung der seit langen Jahren als völlig unzureichend bezeichnete Löhnung eintreten wird, bereitet die Militärvorlage wahrscheinlich eine Enttäuschung.

 

Posadowsky`s Rede

 

Die Reihenfolge der Redner legt die Tagesordnung so fest: Tirpitz- Heering - von Liebert - Colshorn - Wurm - Spahn - Schweickhardt - Graf von Posdowsky. Spahn`s Rede schmeckte nach Krieg. Die zwei sich anschließenden waren auch nicht mehr wert. "Die eine hielt der Graf Posadowsky", zensiert tags darauf der Vorwärts ihre Leistung, "der es unnachahmlich versteht, kupferne Heller mit solcher Grandezza hinzulegen, als handle es sich um güldene Dukaten, und die plattesten Gemeinplatze mit dem Purpur königlicher Würde umkleidet." Eine aufschreckende Kritik, die uns nicht der Pflicht entbindet, selber nachzulesen und nachzudenken.

 

"Die diplomatische Lage der Welt" (Posadowsky)

 

Posadowsky gruppiert die Rede um die Themen Weltlage, Verhältnis zu Frankreich und England, Deutschland ist ein friedliches Land und Schuldenfrage. Zunächst knöpft er sich ein sozialdemokratisches Flugblatt vor, das sich gegen die Militärvorlage wendet. Es behauptet, "daß diese fortgesetzten Rüstungen nicht notwendig seien, dass das ein überflüssiges Wettrüsten wäre ....." Dem hält er die "diplomatische Lage der Welt entgegen" und fragt: "Wie hat sich nun die Gruppierung der Mächte in diesem Jahrhundert vollzogen?"

[1.] Frankreich hat noch immer nicht vergessen, "daß wir die alten deutschen Grenzen hergestellt haben."

[2.] Deutschland ist Weltkaufmann geworden und "kreuzt vielfach die Handelswege", die England bisher als sein Mononopol betrachtet hat. (Posa 25.4.19012, 1426)

 

Handelsneid der Engländer

 

Im 18. und 19. Jahrhundert ihre Weltstellung unbestritten. Dies änderte sich als der Kampf der Mittelmächte, vorangetrieben durch ihre Erfolge auf dem Gebiet der industriellen Revolution, an die Wurzeln ihrer See- und Landmacht griff. Vor allem Deutschland stieg allmählich durch die erfolgreiche Tätigkeit seines technisch und kaufmännisch gründlich vorgebildeten Personals und den Fleiß der Gewerbestände, zum Konkurrenten auf. Dies löste das englische Missbehagen aus. "Schließlich wurde im englischen Parlament ganz offen die Hoffnung ausgesprochen, daß ein wirtschaftliches Bündnis zwischen England und seinen Besitzungen sowie zwischen Frankreich, Russland und Italien als die Befreiung von deutscher Herrschaft begrüßt werden würde …" (Englischer Nebel 1920, 13)

 

Bündnis England-Frankreich - die Entente cordiale

 

[3.] Hierdurch und durch die Empfindlichkeit Frankreichs, daß die alten deutschen Westgrenzen wiederhergestellt waren, "haben sich gewisse Stimmungen in beiden Ländern" gegen Deutschland "entwickelt". Noch in der Faschoda-Krise 1898 tragen Frankreich und England ihre Rivalitäten aus. Die erste Marokko-Krise 1905/06 und die antideutsche Stimmung bringen die alten Gegner wieder zusammen.

 

Russland

 

Zu diesem "Konzern der entente cordiale" zwischen Frankreich und England," erklärt Posadowsky, gehört auch unser "mächtiger russischer Nachbar". "Dieser selbe russische Nachbar, der ein halbes Jahrhundertlang unser offener oder wenigstens unser stiller Freund war, und der uns Deutschen in schweren Entscheidungen sicher den Rücken gedeckt hat.

Meine Herren, wir können und gewiss im Interesse des allgemeinen Weltfriedens nur freuen, wenn sich andere Völker miteinander verständigen; aber wenn andere Völker in ein derartiges Verhältnis zueinander getreteen

so haben wir doch Veranlassung, zu prüfen,

welches Schwergewicht diese Völker in kritischen Augenblicken uns gegenüber zur Geltung bringen können, ob wir diesen Stärkeverhältnissen gegenüber, ob wir gegenüber der veränderten Gruppierung der Mächte

nicht unserer Verteidigungsstellung verstärken müssen.

Wir leben zwar in einer Zeit, wo bei allen Gelegenheiten und von den verschiedenen Seiten die stärksten Friedensbeteuerungen geäußert werden.

 

Deutschland ein friedliches Land

 

Daß Deutschland ein friedliches Land ist, das beweist unsere ganze Geschichte; dafür brauchen wir keine Beteuerungen mehr abzugeben. (Sehr richtig! rechts.) Deutschland hat keine frivolen Angriffskriege gegen andere Staaten geführt; aber

unser deutsches Vaterland ist jahrhundertelang
Schlachtfeld fremder Völker gewesen. (Sehr richtig! rechts)

Wenn wir jemals in Deutschland militärisch erlahmen sollten, so würde dieser Zustand sicher wieder eintreten. (Erneute Zustimmung.) Wir würden gerade so behandelt werden, wie gewissen Mächte zweiten und dritten Ranges in der Vergangenheit behandelt worden sind und jetzt in der Gegenwart vor unseren Augen behandelt werden. (Sehr richtig! rechts.)

 

ein arbeitsames und fleißiges Volk

 

Meine Herren, wir haben der Friedensversicherungen genug abgegeben. Wer unserer Friedensliebe nicht glaubt, wer nicht glaubt, daß wir ein arbeitsames fleißiges Volk sind, das unter den schwierigen klimatischen Verhältnissen, bei dem verhältnismäßig armen Boden unseres Landes die innere Kultur fördern und ehrlich und treu seinen Berufspflichten nachgehen will, der will es nicht glauben." (Posa RT 25.4.1912, 1426 bis 1427)

 

Zur Schuldenfrage

 

Ein Land mit 5 Milliarden Schulden, leitet Posadowsky zur Haushaltspolitik über, von denen nur 14 Prozent für werbende ausgegeben, befindet sich in einer ernsten Lage. "Wie sind diese 5 Milliarden Schulden entstanden? Ich wlil es ihnen sofort sagen, die Schuld trifft viele maßgebenden Faktoren. Diese fünf Milliarden Schulden sind entstanden, weil man das Schuldwesen und besonders die Notwendigkeit neuer Steuern zu wenig vom finanztechnischen Standpunkt und zu sehr vom politischen Standpunkt betrachtet hat". (Posa 25.4.1912, 1427)

Vom Standpunkt der sozialen Frage beurteilen die SPD-Abgeordneten die Haushaltslage wesentlich dramatischer.

Worauf beruht das Leben im Reich?,
fragt die Emanuel Wurm?

Auf Lebensmittelzölle und Verbrauchsabgaben. 1872 zahlten die Bürger 616 Millionen indirekte Steuern, die man im letzten Etat auf 1561 Millionen frisierte und durch den neuen Schatzsekretär als Schatzgräber auf 1640 Millionen erhöht wurden. (Wurm RT Vorwärts 26.4.1912)

Trotz Umbildung des Haushalts wird die Tilgung hingehalten.

Natürlich, "Es besteht ja die Neigung," antwortet Hugo Haase (RT 22.04.1912, 1309 ff.), "die ganze Frage der Deckung hinauszuschieben, einen günstigen Zeitpunkt abzuwarten, in dem die Herren, die so bewilligungsfreudig sind, wiederum die Möglichkeit haben, mehr als gegenwärtig in diesem Reichstage

die Lasten auf die schwachen
Schultern abzuwälzen."

"Wir werden dafür sorgen, daß Sie nicht noch neue indirekte Steuern einführen." "Im Übrigen aber wird es unsere Aufgabe sein, überall, wo wir es können, machtvoll gegen alle Kriegsabenteuer, gegen alle Kriegstreibereien zu demonstrieren und für den Frieden einzutreten." Die deutsche Sozialdemokratie wirkt hier mit der Sozialdemokratie aller Länder zusammen. ".... an die Stelle einer Politik der Gewalt, der Unterdrückung, der Völkerverhetzung treten wird eine Politik der freiheitlichen und friedlichen Zivilisation und der Völkerverbrüderung!"

Ja, und werden die vom Krieg profitieren ebenso für die Völkerverbrüderung eintreten? Von 52 1/2 Millionen Mark die der Reichstag im Juni 1913 für Waffenindustrie ausgibt, sind laut dem General der Infanterie und Staats- und Kriegsminister von Preußen Josias von Heeringen (1850-1926) 24 Millionen Mark Lohngelder (RT 13.6.1913, 5497).

 

 

Über die drei geheimen Ursachen der Verschwörung
von England gegen Deutschland (Posadowsky)   zurück

Die Friedensgesellschaften verfassen Resolutionen, die von wunderschönen Worten, christlicher Gesinnung und gesunden Menschenverstand nur so triefen. Und doch tragen sie oft lapidaren Charakter und sind formelhaft, wie die Gebete für den Frieden in den Kirchen, abgefasst. All das nützt nichts, bedauert 1908 James MacDonald (1866-1937). Weder ihre Beredsamkeit noch ihre Ehrlichkeit überzeugen keinen einzigen Deutschen davon, dass die Entente cordiale mit Frankreich nicht gegen Deutschland gerichtet ist, der deutsche Generalstab gegen uns keine Spione schickt und die deutschen Luftschiffe nicht dazu bestimmt, Bomben auf den Buckingham Palace zu werfen. Wir "brauchen eine vollständige andere Art von Demonstrationen. Wir brauchen etwas was beiden Völkern die Überzeugung bringt, das organisierte politische Parteien und Strömungen auf den Posten sind und sich den Marine- und Kriegsministerien in London und Berlin entgegenstellen, ebenso wie jenen Zeitungen beider Länder, die bemüht sind Unruhe zu stiften." Wie den nationalen Argwohn überwinden?

Kommt zu uns!
Wir wollen euch Gastfreundschaft geben!

ruft 1908 (1038) James MacDonald, Unterhausabgeordneter von Leicester und ab 1911 Vorsitzender der Parliamentary Labour Party, den Deutschen zu.

Posadowsky folgt der Einladung auf seine Weise. Zusammen mit Ministerialdirektor Doktor Theodor Lewald (1860-1947) bereist er 1912 das Vereinigte Königreich Großbritannien und Irland. Schon immer interessierte ihn dieses Land, die Menschen und die Industrie, der Handel. Aus seinen Aufsätzen und Reden spricht die Achtung über die Leistung der britischen Nation. Soweit, so gut.

Doch seit dem "Neuen Kurs", dessen Kern die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages mit Russland war, stand die Frage, ob England in den Zweibund eintreten könnte. Dafür müsste, als Konsequenz aus der Kritik von James MacDonald, ein neues politisches Denken entstehen. Ist die deutsche Politik dazu willens und fähig? Wer von der Einkreisungs-Doktrin infiziert und dem verbreiteten Irrtum der Erzählung vom Handelsneid der Engländer unterliegt, wahrscheinlich nicht.

Deutschland und England sind auf internationalen Terrain Konkurrenten. Ihre Fremd- und Selbstbilder verändern sich ungünstig. "England wird dargestellt", was Posadowsky missfällt, "als eine friedliebende Familie von Gemeinwesen auf der Oberfläche der zivilisierten Welt, während man Deutschland die Absicht zuschreibt, das ganze Gebilde freier Staaten im Westen des europäischen Kontinents zu vernichten und vor den Toren Englands einen herrschaftssüchtigen und drohenden Despotismus zu errichten." (Aufsatz "Mr. Pecksniff", 21)

"Englischer Nebel", heißt sein Aufsatz von 1916, legt sich über die Geschichte. Gemeint sind damit verwerfliche und unwahre Streitschriften gegen Deutschland, die die Herstellung normaler zwischenstaatlicher Beziehungen erschweren. Das bekannte Werk von M. E. E. Williams "Deutsches Erzeugnis" und von Maurice Schwob "Die deutsche Gefahr" ("Le Danger Allemand") erzeugen "in England und Frankreich eine starke deutschfeindliche Abneigung" und war eine der Ursachen", welche "schließlich zu diesem Weltkriege geführt haben." (Englischer Nebel 1916, 13) Archibald Primros, 5. Earl of Rosebery (1847-1929), Mitglied der Liberal Party und ehemaliger englischer Außenminister, stieß warnend den Weckruf aus:

"Wir sind bedroht, von einem fürchterlichen Nebenbuhler, der uns nagt wie das Meer an den schwachen Stellen der Küste - ich meine Deutschland."

"Schließlich wurde im englischen Parlament ganz offen ausgesprochen," erhärtet Posadowsky seine Argumentation, "dass ein wirtschaftliches Bündnis zwischen England und seinen Besitzungen sowie zwischen Frankreich, Russland und Italien als die Befreiung von deutscher Herrschaft begrüßt werden würde, also ganz offen als Kriegsziel unser Vaterland, falls man es mit Waffen nicht niederringen könne, wirtschaftlich abzuschließen und handelspolitisch auszuhungern."

In "Englischer Nebel" von 1920, zuerst als Aufsatz 1916 in den "Nationalliberalen Beiträgen" erschienen, systematisiert Posadowsky seine Erkenntnisse und konstruiert drei geheime Ursachen der großen englischen "Verschwörung gegen Deutschland":

Erstens. Großbritannien stand mit Irland vor einem Bürgerkrieg, was für die englische Regierung eine unheilvolle Lage, die man glaubte, durch einen Krieg umgehen zu können. Zweitens bedrückte die besitzenden Klassen die Lasten des englischen Steuersystems. "Durch einen Krieg mit Deutschland, in dem man glaubte mit wendender Post die deutsche Flotte auf den Meeresgrund senden zu können, hoffte man, dieser Steuersorgen demnächst ledig zu werden." Drittens. Es war der handelspolitische Jagdneid, schreibt 1920 im "Englischen Nebel" (11), der "England das Gewerbe des Krieges einfädeln" und "die Kriegsstimmung schüren ließ". So war der Krieg, wovon Posadowsky fest überzeugt, der Regierung nicht unwillkommen. Das popularisiert er am 27. Juni 1918 in der Erklärung zur Kühlmann-Episode.

 

 


Posadowsky`s Haltung zu Heer, Marine und Flottenrüstung:
Vielleicht werden wir unsere Rüstung einschränken
16. Februar 1912    zurück

Deutschland nimmt ab 1860 einen schnellen industriellen Aufstieg, was seine handelspolitischen Interessen in neue Dimensionen treibt und die Welthandelsmacht Großbritannien auf den Plan ruft. Soweit reicht die Einsicht. Aber wie soll es weitergehen? Wann und wie kann die Flottenrüstung zum Stillstand kommen? "Das deutsche Volk ist ein Volk," betont Posadowsky in der Rede vom 16. Februar 1912,

 

Herrliche Zeiten.
(Originalbildüberschrift)

 

 

"Warum machen wir`s uns eigentlich so schwer?" - "Ja, der meine sagt, ich muss ihn tragen, sonst greifst du mich an!" (Originalbildunterschrift)

Herrliche Zeiten. Simplicissimus. 18 Jahrgang. Nummer 15, München, 7. Juli 1913, Seite 252

 

"das außerordentlich schnell wächst, ein Volk, das sehr fleißig ist und von einem großen Unternehmungsgeist beseelt ist.

Wir müssen deshalb verlangen, daß das deutsche Volk auch in der Lage ist, Gebiete zu suchen und zu finden, wo es seine wirtschaftliche Tüchtigkeit und seinen Unternehmungsgeist auch außerhalb der engeren Grenzen des Vaterlandes betätigen kann. (Sehr richtig! rechts und bei den Nationalliberalen.) England beherrscht vier Fünftel der bewohnten Welt, und auch England verdankt seine ungeheure Macht der Tüchtigkeit seines Volkes und seinem Unternehmungsgeist." Hieran schliesst sich seine Forderung:

"Wenn wir aber mit England in ein freundschaftliches Verhältnis kommen sollen,

so muß die englische Regierung
und das englische Volk anerkennen,

daß ein so vorwärtsstrebendes großes Volk, ein so fleißiges, ein so unternehmungslustiges Volk, wie das deutsche ist, die gleichen Rechte in der Welt hat, (sehr richtig! bei den Nationalliberalen) und daß wir uns in der Welt betätigen wollen,

auch außerhalb der engeren Vaterlandes betätigen kann. (Bravo! rechts.)

Wenn wir auf dieser Grundlage mit England zu einer Verständigung kommen, dann mag der Augenblick gekommen sein, wo wir

vielleicht unsere Rüstung einschränken können,

wo wir die steigenden Summen, die wir für die Landesverteidigung aufwenden müssen, zu Zwecken der Kulturaufgaben unseres Volkes verwenden dürfen. (Lebhafter Beifall.)" (Posa RT 16.12.1912, 58)

V i e l l e i c h t ? - Er verkennt, dass die deutsche Flottenrüstung den bestehenden Gegensatz zwischen England und Deutschland in einem Maße verschärft und die politische Stabilität Europas gefährdet. Gefangen in dieser Denkweise, prophezeit August Bebel, werden wir zu immer größeren Militär- und Flottenausgaben gelangen. Denn es ist doch völlig klar, dass der Gegner auf die weitere Bewaffnung so antwortet, dass jedem Schiff, dass die Deutschen bauen, selbstverständlich eine entsprechende Vermehrung der eigenen Flotte folgt. So fährt die Flottenrüstung unendlich dahin. (Vgl. Bebel RT 9.11.1911, 7729)

"Wir wollen die vollkommene Aussöhnung mit Frankreich", artikuliert 1913 SPD ihr Vorhaben. "Wie wir schon auf dem Wege sind, jedwedes Zerwürfnis mit England zu vermeiden", sagt Georg Ledebour (1850-1947). (RT 12.6.1913, 5496) Unübersehbar besteht zwischen der Ankündigung vielleicht werden wir unsere Rüstung einschränken und dem Ziel der Aussöhnung mit Frankeich ein gravierender Unterschied, wenn nicht sogar ein Gegensatz zwischen der sozialdemokratischen Außenpolitik und den Ambitionen von Posadowsky.

 

 


30. Juni 2013: Größte Wehrvorlage aller Zeiten angenommen
Wehrbetrag und Besitzsteuergesetz   zurück

Die Abgeordneten meisterten nahezu "unüberwindliche Schwierigkeiten", stellt der Präsident des Reichstags Johannes Kaempf (1842-1918) mit Stolz am späten Nachmittag des 30. Juni 1913 zum Abschluß der 174. Sitzung fest. Es war gelungen die Mehrausgaben für das Militär, in Höhe von 898 Millionen Mark zu finanzieren, und zwar durch sogenannte Deckungsvorlagen, sprich Besitzsteuergesetz, Wehrbetrag, Zuckersteuer, (Reichs)-Stempelabgabe [a] auf Gesellschaftsverträge sowie [b] auf Versicherungsverträge. Unterstellt sind, als könnte sie durch Flauten, Konsumverhalten und Krisen nicht einbrechen, ständig wachsende Einnahmen aus Zöllen und Steuern. Erst 1908, da blieben die Einnahmen um 180 Millionen Mark hinter dem Voranschlag zurück.

Am 28. Juni beginnt im Reichstag die dritte Beratung zum Gesetzesentwurf über die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres. Es sieht vor, daß Heer um 117 267 auf 661 478 Mann, mit der Marine sogar auf 856 783 Personen, bis 31. Oktober 1915 zu verstärken. Dazu müssen jedes Jahr zigtausende m e h r - überwiegend Arbeiter, Handwerker, Kleinbauern - dem Militärmoloch (SPD) das Opfer des Wehrdienstes bringen.

Die Abstimmung über die Wehrvorlage, also

das Gesetz betreffend der Friedenpräsenzstärke

erfolgt m 30. Juni nach Aufforderung durch den Nationalliberalen Vizepräsidenten Hermann Paasche (1851-1925), seines Zeichen Professor a.D., Geheimer Regierungsrat, Gutsbesitzer in Waldfrieden bei Hochzeit, durch Erhebung von Plätzen:

"Das ist die große Mehrheit. Das Gesetz ist in der Gesamtabstimmung angenommen." (Lebhafter anhaltender Beifall, rechts, im Zentrum und links [!].)"

Nach dem großen Erfolg der Sozialdemokraten bei den Reichstagswahlen 1912, konnten, wovon die Genossen fest überzeugt, die bürgerlichen Parteien den Militärmoloch zuvörderst nicht länger mit indirekten Steuern füttern. Dass die Wehrvorlage nun wesentlich durch direkte Steuern finanziert wurde, verkaufte man der Öffentlichkeit als Triumph der sozialistischen Steuerlehre. Wobei auch in bürgerlichen Kreisen, etwa bei dem liberal-konservativen Politiker Graf Posadowsky, die Überzeugung gewachsen:

"Es ist unzweifelhaft, dass die Verhältnisse des gegenwärtigen Augenblicks dazu nötigen, die Kosten dieser Wehrvorlage den besitzenden Klassen aufzuerlegen."

Gemäß der Anschauungsweise der Sozialdemokraten, legt am Tag der Entscheidung Hugo Haase (1863-1919) dem Reichstag dar, ist es ein großer Fortschritt, wenn die Rüstungsausgaben mehr die Wohlhabenden und Reichen in Form von direkten Steuern schultern.

"Zum ersten Mal in der Finanzgeschichte des Reichs sind die herrschenden Klassen gezwungen worden, die Kosten einer Rüstungsvorlage selber zu bezahlen." (LVZ 1.7.1913)

Der "Triumph der Sozialdemokratie" verschleiert, die Vergrößerung der Steuerlast, egal in welchen Proportionen auch immer die sozialen Klassen und Schichten mit direkten und direkten Steuern belastet. Der Militärbulle (Wahre Jacob 1905) steht gut gefüttert in Saft und Kraft, doch geschwächt die Nachfrage und Konsumkraft, verringert der Kreditmarkt durch Steuererhöhungen. Man kann sie, worauf Posadowsky, was nicht nach dem Geschmack der Linken, hinweist, nicht beliebig steigern: Es ".... hat seine Grenzen, wenn man nicht die Erwerbsfreudigkeit und den Sparsinn ernstlich gefährden will. (Heiterkeit bei den Sozialdemokraten. - Sehr gut! rechts)." (RT 11.4.1913, 4677)

Egal. Opfer müssen gebracht werden, fordert am 30. Juni Johannes Kaempf zum Abschluss der Verhandlungen des Reichstags, die "schwerer als je zuvor." Doch wer kann und wer will sie bringen, zumal die Steuerpolitik mit der Reichseinkommen-, Reichsvermögens- und Erbschaftssteuer einen sozialdemokratischen Weg eingeschlagen? Das Kapital und die Vermögenden waren gewarnt, als die "Norddeutsche Allgemeine Zeitung" (Berlin) am 28. März die Wehrvorlage propagandistisch vom Standpunkt der Regierung begleitete.

Und da raschelt und trampelte es schon an der badisch-schweizerischen Grenze. "Patrioten wollen sie sein, aber keine Geldopfer bringen." "Ja, die deutsche Geldflut hat bereits einen solchen Grad erreicht, daß sich die Mainzer Handelskammer vor kurzem veranlaßt sah, eine öffentliche Warnung bei ausländischen Instituten ergehen zu lassen." Auch die "Kölnische Zeitung" beschäftigt sich mit der deutschen Kapitalflucht. Die "Kreuz-Zeitung" warnt gar, Großkapitalisten könnten es für zweckmäßig halten, ihren Wohnsitz in die Schweiz zu verlegen. (Weckruf 1.7.1913)

Was tut´s, angesichts der politischen Unsicherheiten? Das Besitzsteuergesetz bringt, sollte man, hieß es in diesem Revier der deutschen Nation, sein Geld besser in Sicherheit bringen. Der andere Teil opponiert gegen die neuen finanziellen Belastungen und Gefahren für die Sicherheit. Aus Köln und seinen Vororten kursieren im Monat Nachrichten über fünf Kundgebungen aus Anlass außerordentlich gut besuchter Volksversammlungen. In Chemnitz protestieren am 8. April die Bürger "Gegen die Forderung des Militarismus". Weitere Protestversammlungen gegen die Verschärfung der Kriegsgefahr und das Attentat auf den Kulturfortschritt sind aus Nürnberg, Lübeck und Gießen bekannt.

In der großen Debatte um die Deckungsvorlagen am 30. Juni bringt der deutschkonservative Reichstagsabgeordnete Kuno von Westarp (*1864) den

Entwurf zum Gesetz über einen
einmaligen außerordentlichen W e h r b e i t r a g

ein. Das Objekt der Steuer ist das Vermögen und in bestimmten Fällen das Einkommen. - Die Abstimmung darüber erfolgte durch Erheben von den Plätzen. == Ich sehe, das ist die Mehrheit. == So passiert das Gesetz nach dritter Lesung den Reichstag.

 

Der agrarische Wehrbeitrag. (Originalbildunterschrift)

 

 

"Graf K. hat doch den Vogel abgeschossen, - er hat so geschickt deklariert, daß er gar nichts zu zahlen brauchte."

Der agrarische Wehrbeitrag. "Der Wahre Jacob". Nr. 728. Stuttgart, den 13. Juni 1914. Titelseite, Ausschnitt

 

Ursprünglich sah der Wehrbeitrag eine Besteuerung der Vermögen ab 10 000 Mark vor. Der Reichstag justierte die untere Vermögensgrenze auf 5 000 Mark für die Besteuerung ein und erhöhte die Steuer selbst auf 1,5 Prozent, während die Regierung vorher die Absicht hegte, nur bis zu 1,25 Prozent gehen zu wollen.

Bei der Progression des Wehrbeitrags hört der Begriff "Steuer" auf, grätscht die "Kreuz-Zeitung" dazwischen, da beginnt die "Vermögenskonfiskation". (Weckruf 1.7.1913) Viel williger die sozialdemokratische "Volksstimme" aus Magdeburg, die das Ergebnis präsentiert: "Jetzt ist es erledigt. Das deutsche Volk hat die Opfer auf sich genommen." Aus einer anderen Region, wenn auch nur etwa 140 Kilometer entfernt, aus Leipzig, gibt es von den Sozialisten keine Zustimmung. Ihr Urteil lautet: "Durch die Zustimmung zu dem Wehrbeitrag hat die [SPD] Fraktion ohne den geringsten Zwang die Rüstungszwecke bewilligt, was wir für einen schweren Fehler halten." (LVZ 1.7.1913)

Die "Norddeutsche" lobt, dass der Reichstag "eine feste Stütze in der Opferwilligkeit des Volkes" gefunden.

Ja, so kann es gut weitergehen, worum die europäischen Nachbarn die Deutschen wiedermal beneiden. Die Pariser Presse erblickt in der Annahme der Wehrvorlagen ein überaus bedeutungsvolles Ereignis und bewundert den patriotischen Stolz der Abgeordneten des Reichstags und wie sie sich zum Dolmetscher der nationalen Gefühle machen.

Das österreichische "Fremdenblatt" bezeichnet die Erledigung der Wehr- und Deckungsvorlagen "als eine gewaltige Leistung". (Nach VZ 1.7.1913)

 

Die Sozialdemokraten lehnen die Zuckersteuer ab, weil das Versprechen, sie zu ermäßigen, dem Volke vorenthalten wurde. Ebenso verfahren sie, um den Mittelstand nicht zu belasten, mit den zwei Reichsstempelgesetzen, wohingegen sie das B e s i t z s t e u e r g e s e t z untertsützen. Nicht so ein Teil der Rechten und des Zentrums. Doch für Posadowsky ist unzweifelhaft, "daß die Wehrvorlage angenommen wird, und als besonders erfreulich", betrachtet er, "daß es bisher die Willensäußerung aller bügerlichen Partein dieses hohen Hauses gewesen ist, diese Wehrvorlage nun Hand in Hand mit ihrer finanziellen Deckung zun verabschieden." Die Gesamtabstimmung zur dritten Beratung des Besitzsteuergesetzes ergibt 280 "ja", 63 "nein", 29 Enthaltungen und eine ungültige Stimme. Posadowsky votierte mit "ja". (RT 30.6.1913, 5939 bis 5941)

"Es ist unzweifelhaft," legt Posadowsky seinen Standpunkt dar," "dass die Verhältnisse des gegenwärtigen Augenblicks

dazu nötigen, die Kosten dieser
Wehrvorlage den besitzenden Klasen aufzuerlegen.

Aber auch das, was man den besitzenden Klassen auferlegen kann, hat seine Grenzen, wenn man nicht die Erwerbsfreudigkeit und den Sparsinn ernstlich gefährden will." (Posa RT 11.4.1913, 4676 + 4677)

Am Tag nach der Abstimmung feiert die Vossische aus Berlin das Verhalten der Abgeordneten als epochemachend, räumt jedoch ebenalls ein, dass die Militärvorlage "die Grenze der Leistungsfähigkeit der Nation" erreicht. Doch es bleibt nichts anderes, denn Deutschland ist "eingekeilt zwischen kriegsmächtigen Staaten". Es sind nun mal Opfer, nicht für die wenigen hier Anwesenden, sondern für das ganze Volk, für "die Wehr und Waffen". "Sämtliche Vorlagen sind mit Mehrheiten angenommen wie nie zuvor und in einer gehobenen Stimmung", nimmt Pester LLoyd in Budapest die Vorgänge im Deutschen Reichstag wahr. Von der Einkommensbesteuerung erwartet die Tageszeitung für Ungarn und Osteuropa, einen Ertrag in Höhe von etwa 80 Millionen und bei der Vermögensbesteuerung 900 Millionen Mark.

Mit dem Geld beschafft man neues Kriegsmaterial. Geplant ist die Errichtung von zwei neuen Kriegs- und Unteroffiziervorschulen sowie die Vergrößerung der Kadettenschulen. Man beabsichtigt Festungen auszubauen. Die Luftflotte ruft nach mehr Ausrüstung und Personal. Unteroffizieren sind höhere Dienstprämien zu löhnen. Wachsenden Ausgaben erfordert die geplante Verbesserung der Verpflegung des militärischen Personals. Laut dem "Handbuch der Politik" von 1914 (107f.) wird die Summe von 898 Millionen aufgeteilt in 435 für 1913/14, im darauffolgenden Jahr in 285 und im dritten in 178 Millionen Mark.

Die Beschaffung der Mordwerkzeuge rechtfertigt die Presse und Rüstungspropaganda durch die aktuellen Ereignisse auf dem Balkan und der damit sichtbaren Verschiebung im militärischen Kräfteverhältnis. Wie von einer Drehorgel abgespielt hört und ließt man immer wieder: "Was die Wehrhaftigkeit, die Bereitschaft eines Volkes bedeutet, haben die Balkanereignisse jedermann vor Augen geführt" (VZ-MA 1.7.1913), iEs ist die ewige Wiederkunft des Gleichen, um es mit Friedrich Nietzsche zu sagen, nämlich der Einkreisungs-Doktrin, wenn es heißt: die Grenzen sind gegen mehrere Feinde zu schützen.

Es war die "größte Wehrvorlage aller Zeiten", feiert der Nationalliberale Reichstagsabgeordnete Johannes Junck (1861-1940) aus Leipzig die Entscheidung ab. Sein deutschkonservativer Kollege Graf Kuno von Westarp (1864-1945) lobt die Sozialdemokraten für die Gestaltung der Besitzsteuer.

Der preußische Kriegsminister, war zu hören, zeigte sich mit dem Ergebnis zufrieden. Von den Mitgliedern der SPD-Fraktion lässt sich das so nicht feststellen.

Was bedeutet das alles? Will die sozialdemokratische Reichstagsfraktion jetzt den Kampf gegen den Militarismus womöglich als Kostenfrage führen? Was wird jetzt aus der alten Losung: "Diesem System keinen Mann und Groschen!"? Ist dies eine Wende in der Militärpolitik? Die sozialdemokratische Presse gibt dissonante Antworten. "Die Mehrheit des Reichstages hat gestern", vermisst die Leipziger Volkszeitung im ironischen Unterton das Geleistete, "eine "große nationale Aufgabe" zu Ende gebracht und dem Militarismus neue Hekatomben geopfert." Indes kultiviert der "Vorwärts" vom 1. Juli 1913 das Besitzsteuergesetz als "Triumph der Sozialdemokratie". Was bedeutet vom Standpunkt der Sozialdemokratie der 30. Juni 1913:

War er eine verhängnisvolle Niederlage
oder
ein großer Erfolg?

Das hängt im Wesentlichen davon ab, wie man den Kompromiss, die Ausgaben für Heer, Marine und Kolonialtruppen zu finanzieren, a) haushalts- und b) gesellschaftspolitisch bewertet.

Fritz Klein definiert die Entscheidung der SPD vom 30. Juni 1913 in "Deutschland 1897-1917" (1961, 248) als Ausdruck des wachsenden Einflusses der Zentristen und Revisionisten.

 

Es ist erreicht.
Der Sargdeckel von Fortschritt und Kultur.
(Originalbildunterschrift)

Der Wahre Jacob. Nummer 704. Stuttgart, den 12. Juli 1913, Titelblatt, Ausschnitt

 

 

Wilhelm Liebknecht (1826-1900): "Die ganze Reichsverfassung ist eine Konfliktverfassung, ein großer Widerspruch in sich. Man kann sie, wie ich es früher einmal that, mit einer Pyramide vergleichen: unten die Volkssouveränität, das allgemeine Wahlrecht, aus dem der Reichstag hervorgeht, oben die Pickelhaube, die absolute Gewalt. Wir haben so in Deutschland die äußerste Demokratie des allgemeinen Wahlrechts und den russischen Absolutismus neben einander." (RT 3.12.1896, 3684)

 

Vor der Entscheidung zum Wehrbeitrag und Besitzsteuergesetz kam es "zu sehr ausgedehnten und scharfen Debatten" (LVZ 1.7.1913). "Wir haben den Nachweis erbracht," legt am 30. Juni Hugo Haase im Auftrag der SPD-Fraktion im Reichstag dezidiert dar, "dass dies nicht der Weg ist, unser Land vor der Kriegsgefahr zu schützen und den Frieden zwischen den Kulturvölkern zu sichern. (Sehr wahr! bei den Soz.) Nachdrücklich haben wir betont und wiederholen es in dieser Stunde: die fortgesetzten Rüstungstreibereien steigern das Misstrauen zwischen den Völkern, stören die internationalen Beziehungen und beschwören schließlich trotz aller Friedensversicherungen die Gefahr eines Weltkrieges herauf, entgegen den Interessen und Wünschen des werktätigen Volkes aller Länder." "Zugleich ist der Militarismus als Instrument der Klassenherrschaft auch eine stete Bedrohung der Freiheit im Innern." Nach diesen Worten würden die meisten Zuhörer wahrscheinlich eine andere Entscheidung erwarten, als sie die Fraktionsmitglieder bei der Abstimmung treffen.

Das aufhübschen der Zustimmung zum Wehrbeitrag und Besitzsteuergesetz wirkt im Vergleich zur einst fundierten SPD-Kritik am Militarismus ernüchtern. Doch die Sozialdemokraten wollen diesen Weg gemeinsam mit dem Zentrum und den Linksliberalen weitergehen.

Bestand überhaupt die Möglichkeit, diese Vorlage zum Scheitern zu bringen? "Beim Besitzsteuergesetz gewiss", antwortet das Sprachrohr des linken Flügels der SPD die Leipziger Volkszeitung. "Dadurch, daß die Konservativen dagegen stimmten, wäre, wenn auch die Sozialdemokratie gegen das Gesetz gestimmt hätte, die Besitzsteuer gefallen." (1.7.1913) Einige von ihnen - zum Beispiel Regierungsrat Hermann Kreth, Dr. Goerg Oertel, Chefredakteur der "Deutschen Tageszeitung", und Kuno Graf von Westarp - erhoben sich bei der Abstimmung nicht vom Platz. Ebenso blieben sie sitzen als der Reichskanzler bei der Nachbetrachtung darüber sprach, was für "ein großes Werk getan". (VZ-MA 1.7.1913) Wäre es zum Boykott des Antrags gekommen, drohte die Vossische (Berlin) mit der "Isolierung der Konservativen". "Die Folge wäre nicht," erklärt die Leipziger Volkszeitung, "etwa die Auflösung des Reichstags, sondern lediglich die Verschiebung dieses Gesetzes in den Herbst. Jedenfalls glaubte die Fraktion die Verantwortung für diese Konsequenzen ablehnen zu müssen." (LVZ 1.7.1913)

Zwar werden den Völkern neue militärische Ausgaben auferlegt, argumentiert Hugo Haase in der Reichstagsdebatte, doch bilden das Gesetz über den einmaligen Wehrbeitrag und die Besitzsteuer den Anfang von der SPD geforderten Reichseinkommen-, Reichsvermögen- und Erbschaftssteuer. Daneben wird der Plan durchkreuzt den Landtagen der Einzelstaaten die Möglichkeit zu geben, dass die Kosten dieser Rüstungssteigerung wiederum den minderbemittelten Schichten aufgebürdet werden. - Was ändert es daran, dass die wachsenden Militärausgaben nun mit dem Segen der SPD durch zusätzliche Steuern (mit-)finanziert werden? Es wird weiter gerüstet, egal wofür und gegen wen. Lautet die Devise jetzt: Hauptsache das Volk bezahlt es nicht?

Wilhelm Liebknecht (1826-1900) versprach:

"Dem Etat gegenüber bleiben wir unserer alten Losung treu: keinen Mann und keinen Groschen weder für den Militarismus, noch für den Marinismus! Und wenn es in den Wahlkampf geht, gut, dann ist unser Schlachtruf: für das deutsche Volk und seine Freiheit, und für die internationale Sozialdemokratie." (Liebknecht RT 3.12.1896, 3686)

Diesen Grundsatz warf die SPD am 30. Juni 1913 über Bord. Was die sozialdemokratische Parteipresse in diesen Tagen öfter als Erfolg präsentiert, war ein Kurswechsel, markiert einen Wendepunkt im Kampf gegen den Militarismus und ist ein Resultat des veränderten politischen Kräfteverhältnisses in der SPD-Fraktion. August Bebel stirbt am 13. August 1913. Der Aufstieg für Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Gustav Noske ist frei.

 

 

 

Mars regiert die Stunde (Posadowsky)  zurück

Im August 1914 löste die Eroberung von Lüttich in Naumburg an der Saale große Begeisterung aus. Ein Jahr später erahnt man davon nichts mehr. Das Leben verschlechtert sich. Not und Hunger stehen jetzt vor der Haustür. Lebensmittel werden infolge der "Absperrungen" der Alliierten knapp. Um Wucherpreise zu verhindern, legt man zum Beispiel für Schlachtschweine, Höchstpreise fest.

Die Kriegsmaschine muss geschmiert und in Gang gehalten werden, psychologisch, materiell und finanziell. Ab Mitte November 1915 können die Bürger bei der 2. Ersatzabteilung des Feldartillerie-Regiments Nr. 55 in Naumburg Weihnachts-Liebesgaben abgeben. Vor hier befördert sie die Armee zu den im Feld stehenden Truppen.

 

Wilhelm II. vor Arras. Der Barbar betrachtet sein Werk. (Arbeitsübersetzung)

Quelle: Guillaume II devant Arras. Le Barbare Contemple son Euvre.
Le Petit Journal. Supplement Illustre, 22. November 1914

Arras ist eine mittelgroße Stadt in der Region Hauts-de-France und Verwaltungssitz des Départements Pas-de-Calais.

 

Erst allmählich, beschreibt Posadowsky 1915 in

"Mars regiert die Stunde"

die Lage, drang die "Erkenntnis von der entscheidenden Bedeutung dieses Krieges für das Dasein unseres Volkes und für das Leben eines jeden Deutschen" "in das Bewusstsein" der Bürger. Deshalb wird es Zeit, dass alle Bürger den historischen Charakter des Krieges voll erkennen, weil er dann besser die täglichen Beschwernisse auf sich nehmen und Opfer für das Vaterland erbringen kann. In diesem Sinne und Trachten will "Mars regiert die Stunde" die Massen erziehen und wendet den Blick in die deutsche Geschichte. 1870/71 war gegen den heutigen Krieg nur ein Zwischenspiel. Jeder möge sich vorstellen was passiert, wenn wir nicht den Sieg erringen. "Sieg oder politische und wirtschaftlicher Untergang. Das sollten sich alle klar machen," reicht Posadowsky am 4. September 1918 in Stimmungen nach, "die drinnen im Lande über all die großen und kleinen Unbequemlichkeiten des täglichen Lebens wehklagen und mit ihrer charakterschwachen Haltung einen Einfluss üben, der sich wellenartig verbreitet." "Je mehr dieser Riesenkampf zur Entscheidung drängt, desto gewaltiger sind naturgemäß die Anstrengungen, die zu fordern sind, und je mehr wachsen die Opfer, die jeder einzelne zu bringen hat." Folglich muss der Staat hohe Anforderungen an jeden Bürger stellen.

 

Im Jahr 1915 ergeht vom

Magistrat der Stadt Zeitz

folgende "ernste Mahnung an die Kriegerfrauen": „Leider haben wir wiederum trotz früherer Verwarnung beobachten müssen, daß Frauen von Kriegsteilnehmern die Reichs- und Stadtunterstützung vielfach in Leckereien vergeuden und Kino Vorstellungen und sonstige Vergnügungen übermäßig besuchen. Dieses Verhalten der Frauen, deren Ehemänner inzwischen Not und übermenschliche Anstrengungen. Verwundungen und selbst den Tod nicht scheuen, um den heimischen Herd zu schützen, verdient
die schärfste Rüge.
….

Sollte diese Verwarnung fruchtlos bleiben, so wird die Kommission für Unterstützung der Kriegerfamilien ihren bisher äußerst milden Standpunkt verlassen und wesentlich größere Strenge bei Bewilligung der Unterstützungen eintreten lassen. Geradezu schamlos ist es, wenn einige Kriegerfrauen die Abwesenheit ihrer braven Ehemänner benutzen, um sich mit anderen Ehemännern abzugeben. Sollten uns solche Fälle gemeldet werden, so wird eine Veröffentlichung der Namen dieser unwürdigen, schamlosen Frauen erfolgen." (Verwarnte Frauen 26.3.1915)

 

Es gibt keinen Zweifel," erhebt Posadowsky am 4. September 1918 den Zeigefinger, dass wir in diesem Krieg "um das Dasein von Reich und Staat, um unsere Freiheit, um unseren Besitz und damit um alles kämpfen, was das Dasein wert ist. Es gibt für uns nur zwei Möglichkeiten - Sieg oder politischer und wirtschaftlicher Untergang." Man muss, macht er den propagandistischen Zweck deutlich, es "gedankenlose Undankbarkeit und verächtliche Selbstzucht" nennen, wenn einige über die "kleinen Unbequemlichkeiten des täglichen Lebens" klagen. (Posa, Stimmungen 35)

"Die Starken und Schwachen, die Hoffnungslosen und die Besorgten, die Wohlhabenden und Armen, sie fahren alle in einem Boot und müssen deshalb alle ihre letzte Kraft anstrengen." "Wer wäre lau genug, um einen Augenblick zögern in Erfüllung dessen, was das Land von ihm erwartet ...." - Wirklich? Da kommen Zweifel auf. Das Reich finanziert das schnell wachsende Defizit zunächst durch direkte Verschuldung bei seinen Bürgern, durch Ausgabe von Kriegsanleihen, später jedoch immer stärker durch eine indirekte Verschuldung.

Es war im März 1916 als die Bürgerlichen im Reichstag erklärten, dass die arbeitende Bevölkerung sich unter allen Umständen darauf einrichten muss, vier Monate im Jahr allein für die Zinsen der Kriegsanleihen zu schaffen und um die Kosten für die Invalidenversorgung und Hinterbliebenen der Gefallenen aufzubringen. (Haase RT 24.03.1916, 843)

Posadowsky wirbt am 28. September 1917 in Berlin auf einer Kundgebung der deutschen Mittelstände für die 7. Kriegsanleihe.

 

Kundgebung der deutschen Mittelstände für die 7. Kriegsanleihe.

"Vorwärts. Berliner Volksblatt. Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands". Berlin, den Freitag den 28. September 1917, Seite 6

 


Das Land spaltet sich in Gläubiger und Schuldner, also in die, die Kriegsanleihen erwerben, und diejenigen, welche als Schuldner bürgen. In der Hyperinflation 1923, die Schuldner waren längst ausgestiegen, kenterte das Boot und die Gläubiger ertranken oft in sozialer Not und konnten den Schmerz des finanziellen Verlustes nur schwerlich überwinden.

Wer soll einst die Zinsen für die Kriegsanleihen bezahlen? Die müssen durch Steuern aufgebracht werden, entscheidet Matthias Erzberger, 1919/20 Reichsminister der Finanzen.

Es gab noch ein anderes Problem, der Luxuskonsum und seine negative Wirkung auf den Handel und die Lebenslage. Hierüber referiert der "rote Millionär", wie Walter Rathenau genannt wurde, am 18. Dezember 1916 vor der "Deutschen Gesellschaft 1914". Die Erkenntnis ist nicht sensationell neu, die Luxusproduktion schwächt die Kriegswirtschaft, da für sie eine erhebliche Arbeits- und Maschinenkraft aufgewendet werden muss. Warum thematisiert dann Mars regiert die Stunde nicht den Luxuskonsum in der Oberschicht? Vielleicht weil er der verbreiteten Vorstellung folgt: "Luxus bringt Geld unter die Leute"? Mittels entsprechender Steuern und -zölle könnte der Staat dem Luxuskonsum vorbauen, um die außenwirtschaftliche Erträge nicht weiter zu schmälern.

Am 13. Juni 1916 führte die Reichsregierung einen Warenumsatzstempel als Steuer auf Warenlieferungen ein.

 

 

Reproducator post bellum  zurück

Alte Verwaltungsakten, erinnert sich Posadowsky, waren häufig mit der Anmerkung Reproducator post bellum (Nach dem Krieg wieder vorzulegen) versehen. Offenbar hielt man es für richtig, bestimmte Aufgaben zurückzustellen. Heute verfährt Deutschland anders: "Wir halten es für richtiger, inmitten des Weltkriegs auf die Werte des Friedens möglichst zu fördern, die Staatsmaschine in all ihrem feinen Räderwerk im gewöhnlichen Gange zu halten und damit auch die dauernde Widerstandskraft gegenüber den Frieden zu sichern."

Wie soll der Krieg für uns enden?, fragt Posadowsky 1915 in Post bellum. Im Einzelnen ist das nicht klar und deshalb jetzt jedenfalls nicht zu erörtern. Vieles wird davon abhängen, womit er Recht behalten wird, wie die militärische Lage dann aussieht. Vor allem wird sich "eine größere Friedenssicherheit geltend machen". Die politischen Parteien, exklusive Kreise und das Volk werden ganz unterschiedliche Wege wählen. Post bellum löst die Ganzheit aber nicht auf. Natürlich hängt die Nachkriegswelt von einer großen Zahl von Einzelfragen ab. Die künftige Lebenshaltung weiter deutscher Volkskreise und Entwicklung des Wirtschaftslebens, so nimmt er an, trägt eine "unseren finanziellen Aufwand ausgleichende Kriegsentschädigung". Diese Erwartungen erfüllen sich nicht.

Es kommt anders. Die deutsche Regierung erklärt sich im November 1918 bereit, die unseren Feinden entstandenen Kriegsschäden zu vergüten. Posadowsky sieht die Kriegsschuld bei Russland, England und Frankreich. Folglich betrachtet er es als ungerecht, dass die deutsche Regierung einen solchen Vorschlag unterbreitet. Er belastet das Land stark und von den Feinden Deutschlands als Schuldbeweis missbraucht.

Eine der "sozial schwersten Aufgaben", sagt er 1915 in Post bellum (68ff.), liegt vor den Deutschen mit den notwendigen Steuererhöhungen und der Gesundung der Finanzen. Im Außenhandel wird - hoffentlich - die Meistbegünstigungsregel unserer Einfuhr in die Zollgebiete der ehemaligen Gegner herrschen. Angesichts der Macht der anderen Industriestaaten muss die "Forderung nach Landerwerb" erhoben werden. Was wird aus den fremdsprachigen Bewohnern in den deutschen Gebieten, fragt er? Soll man sie ausweisen oder in das Deutsche Reich eingliedern? Glaubt man vielleicht die völlige Entnationalisierung der fremden Landesteile im Interesse des Deutschtums mit zuverlässigen Altdeutschen durchführen zu können?

 

 

Impressionen  zurück

Posadowsky ist Hospitant bei der Reichspartei, die einst unter der Führung des Großindustriellen Freiherrn von Stumm stand, teilt am 16. September 1915 das Fremden-Blatt aus Wien. Im Januar 1916 bildet sich im Reichstag als Zusammenschluss von zwölf Mitgliedern der Freikonservativen, fünf aus der Wirtschaftlichen Vereinigung, zwei aus der Deutschen Reformpartei, fünf Deutschhannoveranern, zwei bayerischen Bauernbündlern und dem Grafen Posadowsky die "Deutsche Fraktion".

Seit August 1915 führt er das Landratsamt in Elbing. Er übernahm diese Aufgabe, um seinen Sohn, den Eintritt in den Heeresdienst zu ermöglichen. Zum 1. April 1917 bat er den Kaiser um die Entbindung von dieser Funktion. Wilhelm II. sprach ihn für vorbildliche Pflichterfüllung seinen Dank aus, melden am 8. April 1917 die Nachrichtenagenturen.

In der Nationalversammlung, informiert 1919 "Der Welthandel", sitzt er in den Reihen der Deutschnationalen, teilt mit Clemens von Delbrück deren geistige Leitung in den politischen staatsrechtlichen Fragen.

 

 

Das unangenehme Wort Bedürftigkeit  (Molkenbuhr 1917) zurück

Bereits gegen Ende des Krieges finden viele Lohnarbeiter und Angestellte in den Unternehmen und Betrieben, weil die Zulieferer nicht zuverlässig arbeiten und es an Rohprodukten mangelt, keine Beschäftigung. Graf von Posadowsky befürwortet die zuverlässige Unterstützung von Arbeitslosen durch den Staat. Wenn jedoch dadurch die Eigenverantwortung der Betroffenen für die Schaffung des Lebensunterhalts unterminiert wird, erachtet er es als zweckmäßig, diese zu reorganisieren und gibt zu bedenken:

"Aber wenn die Arbeitslosenunterstützung nicht geradezu den Staat und die Gemeinden, denen die Zahlung der Arbeitslosigkeit auferlegt ist, ruinieren will, so muss diese Bestimmung ein Korrelat haben, nämlich, dass derjenige dem eine seinen Kräften angemessene Arbeit zugewiesen wird, auch gezwungen wird, diese Arbeit zu leisten, ganz abgesehen von seinem Aufenthalt; und wenn er diese Arbeitsleistung abweist, dann muss ihm die Arbeitslosenunterstützung entzogen werden." (Posa RT 14.9.1919, 84)

Die politischen Gegner entdeckten bei ihm Vorbehalte gegenüber den Arbeitslosen. SPD-Abgeordneter Hermann Molkenbuhr hält ihm am 21. März 1917 im Reichstag vor, dass nicht jeder Bürger jede Arbeit übernehmen und ausführen kann, und gibt zu bedenken:

" .... ist ja immerhin bedauerlich, daß in dem Gesetz über die Familienunterstützung immer noch das unangenehme Wort der Bedürftigkeit steht. Man spart dadurch nicht viel, daß man den Nichtbedürftigen nichts gibt, aber dadurch, daß das Wort "bedürftig" darin ist, wird manchmal wirklich Bedürftigen das Notwendige entzogen. Was ist namentlich auf diesen Gebieten nicht alles geleistet worden: Frauen sollen arbeiten! Da wird gesagt: wenn sie sonst gearbeitet haben, sollen sie auch jetzt wieder zur Arbeit herangezogen werden. Ich habe einige solcher Fälle bereits zum Gegenstände der Beschwerde beim preußischen Minister des (o) Innern gemacht.

Namentlich der frühere Staatssekretär für das
Reichsamt des Innern,
Herr Graf v. Posadowsky,

hatte speziell im Elbinger Kreise da einige nette Sachen angerichtet. Eine Frau zum Beispiel bekam deshalb keine Familienunterstützung, weil sie nicht arbeiten wollte. Die Frau war Mutter von fünf Kindern, wovon das kleinste anderthalb Jahre alt ist, und gleichzeitig war sie schwanger im achten Monat. Da verlangt nun der Herr, die Frau sollte Landarbeit verrichten. Ich sage, wenn sie gewissenlos wäre, die fünf Kinder allein zu lassen, so hätte man alle Ursache gehabt, anzuordnen, sie solle zuhause bleiben; (sehr richtig! links) aber so von den Kindern wegzubleiben und sich der Gefahr auszusetzen, schwer zu erkranken, ich meine, das ist etwas, was man kaum gut heißen kann. Der preußische Minister des Innern hat denn auch eingegriffen, daß der Frau die Unterstützung nicht entzogen worden ist. ....

Es kann verschiedene Ursachen haben warum eine Frau nicht arbeiten kann: ihr körperlicher Zustand, es kann auch die gebotene Arbeit nicht für sie nicht passen." "Man kann nicht sagen, dieser oder jener kann diese Arbeit machen, wie seinerzeit Herr v. Posadowsky bestimmte. .... Solche Verfügungen sollte man unterlassen und sich darauf verlassen, daß der größte Teil der Arbeiter arbeitswillig ist und gerne Geld verdient." (Molkenbuhr RT 21.3.1917, 2593 f.)

Vielleicht unterlief Posadowsky ein Missgeschick? Vielleicht eine Fehlhandlung oder Unachtsamkeit? Oder war es eine Entscheidung auf Basis unvollständiger Informationen? Es soll sich hier kein falscher Eindruck festsetzen: Tricksereien und Repressionen gegen Arbeitslose sind nicht die Sache des Grafen von Posadowsky. Er engagiert sich mit aller Konsequenz für die Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem. Nach 1921 arbeitet er für eine gerechte und der Volkswirtschaft dienlichen Geldpolitik. Sein Ziel ist die Verbesserung der ökonomischen und sozialen Lage des Mittelstandes, die Vermeidung von Arbeitslosigkeit, das Recht auf Wohnung für die Unterklasse, auch bei Arbeitslosigkeit. Das sind die ökonomisch-moralischen Invarianten seiner Gesellschaftspolitik. Außerdem rückt er nicht von einer "politische(n) Anstandspflicht der besitzenden Klassen" (RT 16.2.1912, 82) ab, was von ihren Mitgliedern beispielsweise eine angemessene Steuerleistung verlangt.

Sozialpolitik im Krieg? Reichstagsabgeordneter Kuno Graf von Westarp (1864-1945) berichtet 1916, dass der Haushaltsausschuss des Deutschen Reichstages (RT 18.5.1916, 1114) nicht umhin kam festzustellen, dass Kinder- und Frauenarbeit in der Rüstungsindustrie notwendig ist. In Friedenszeiten waren in den 193 Werken der Eisen- und Stahlindustrie etwa 372 000 Personen tätig. Jetzt sind es nur noch 169 000 (= 44 Prozent), wovon ein Achtel der Belegschaft Frauen, ein Zehntel Jugendliche (oftmals eigentlich Kinder) und ein Neuntel Ausländer sind.

Dann waren da noch die Mädchen, die 1916 Arbeiter während des Munitionsarbeiterstreiks mit Flugblättern zum Streik aufforderten (vgl. RT 31.10.1916, 1976).

 

Friedensresolution 1917  zurück

Im Kampf um ein Mandat der Nationalversammlung eröffnet Graf Posadowsky am 15. Januar 1919 in der Reichskrone den Naumburgern:

"Ich habe seinerzeit gegen die Friedensresolution vom Juli 1917 im Reichstag gestimmt ….".

Damit war klar, DER gehört zur nationalen Opposition. Dem, labelt der konservative Wähler, können wir vertrauen, der will den Siegfrieden. Und es verlor sich etwas ihre Furcht vor dem billigen und faulen Frieden.

Die militärische Lage war kritisch. Deutschland begann Ende Januar 1917 den uneingeschränkten U-Boot-Krieg. Der Gegner, andere können eben auch denken, führt das Geleitzugverfahren ein. Reichskanzler Theobald Bethmann Hollweg stand dem U-Boot-Krieg skeptisch gegenüber, weil er nicht den erhofften Erfolg zeitigte.

Die USA treten am 6. April 1917 in den Krieg gegen Deutschland ein. Am 8. Januar 1918 erfolgt die Veröffentlichung des 14-Punkte-Programms von US-Präsident Wilson. Der verkündete "Kreuzzug für die Demokratie" destabilisierte das europäische Staatensystem weiter.

Um das Interesse Deutschlands an einem "Frieden ohne Annexionen" zu signalisieren, bringt am 17. Juli 1917 Matthias Erzberger (Zentrum), nach Absprache mit der Regierung und der OHL (Oberste Heeresleitung), getragen von Sozialdemokraten, Zentrum und Fortschrittlern, in den Deutschen Reichstag

die Friedensresolution

ein. Einen ersten Entwurf akzeptierte Bethmann Hollweg bereits am 10. Juli. Verkoppelt mit der Zusage, dass in Preußen gültige Dreiklassenwahlrechts durch das gleiche Wahlrecht zu ersetzen, fand er die Zustimmung des Kaisers. Zwei Tage später erfährt die Öffentlichkeit davon (Fritz Fischer 339). Die Reaktion darauf ist heftig. Ein Großteil der Alldeutschen polemisieren gegen ihn. Angeblich steht er, so hiess es, unter "jüdischen Einfluß". Der alldeutsche Chemieprofessor Hans von Liebig in Gießen bezeichnet ihn als "Kanzler des Judentums" (Bernd 2002, 75).

Konservative, antidemokratische und rechtsradikale Kreise antworten auf die Friedensresolution Anfang September 1917 mit der Gründung der Vaterlandspartei (DVLP). Die nationale Opposition erkennt darin, weil sie nicht den Willen der Mehrheit des Volkes zum Ausdruck bringt, ein Zeichen des Verrats. Sie fragt: Wer möchte denn keinen Frieden? - und untermauert dies mit: "Nervenschwache Friedenskundgebungen verzögern aber nur den Frieden. Unsere auf die Vernichtung Deutschlands bedachten Feinde erblicken in ihnen nur den Zusammenbruch deutscher Kraft." (Vorwärts 10.09.1917)

Die Resolution wurde mit 216 Stimmen von SPD, Zentrum und Fortschrittlicher Volkspartei, gegen 126 Stimmen der Nationalliberalen, der Konservativen und USPD angenommen.

"Wer eine solche Friedensresolution fasst," lässt Graf von Posadowsky verlauten, "weckt den Verdacht, dass er die Hoffnung auf den Sieg aufgegeben hat, und erschüttert damit auch die Siegeszuversicht des Heeres." Das sagt er nicht so dahin. Bereits 1915 auferlegt er in Was regiert die Stunde, dem Bürger die Pflicht zu prüfen, was er für die Heimat in dieser Stunde tun kann.

Georg Schiele aus Naumburg, dessen politische Schlussfolgerungen zum Kriegsverlauf alldeutschen und völkischen Ursprungs sind, schliesst sich der Friedensresolution ebenfalls nicht an. Sein Größeres Deutschland sucht nicht Maß, Zurückhaltung, Vorsicht und Achtung gegenüber anderen Nationen, sondern, speziell im deutschen Außenhandel, mehr "Bausicherheit". Dieses Deutschland war, heisst es in Waffensieg und Wirtschaftskrieg (1918), ist "zu wenig auf Macht, auf Eigentum, auf Respekt gegründet."

 

 

 

Kriegswirtschaft   zurück

Aus den Jahren 1915/16 sind von Posadowsky öffentliche Äußerungen bekannt, die den Eindruck erwecken, als ob ihm die Finanzierung des Krieges auf Kredit und die Abschaffung der Golddeckung der Mark keine besonderen Sorgen bereiten. Die Zeit "scheint mir noch nicht reif zu sein," lässt er am 5. August 1915 über die Kriegsfolgen verlauten, dies zu beurteilen. "Erst wenn die Abrechnung des Krieges erfolgt sein wird, und es sich darum handelt, wie die Kriegslasten zu decken sind, wird sich das sachgemäß beantworten lassen. Jetzt ist noch gar nicht zu übersehen, welche wirtschaftlichen und finanziellen Verschiebungen der Krieg mit sich bringt." - Wirklich? Es ist kaum zu glauben. Denn als Reichsschatzsekretär erweiterte er ständig sein Wissen zur währungs-, finanz- und Geldpolitik. Und zwar, so wie er arbeitete, vorbildlich. So zum Beispiel am 16. Februar 1895 als im Reichstag die Vorbereitung einer internationalen Konferenz zu Währungsfragen auf der Tagesordnung stand, und er mit seinen Fachkenntnissen zum internationalen Handel überzeugte. Ihn bereitet der sinkende Welt-Silberpreise mit seinen Auswirkungen auf das Erwerbsleben in Deutschland Sorgen. Im heimischen Bergbau scheinen viele Arbeitsplätze gefährdet. Zwar ist der deutsche Export in die Silberländer minimal, trotzdem leidet darunter die Ausfuhr nach England. Damals kam bereits in der Öffentlichkeit Kritik an der deutschen Goldmarkdeckung auf. Man vermutete, dass sie nur auf dem Papier steht. Im Kriegsfall, so prognostizieren einige Ökonomen, muss sie aufgegeben und die Rettung im Papiergeld gesucht werden.

Und jetzt weiss er nichts mehr von diesen Debatten um die Gesetze der Geld- und Währungspolitik?

Seit der Reichsbank am 4. August 1914 per Gesetz die Verpflichtung aufgehoben, Banknoten und Münzen in Gold umzutauschen, war gut zu erkennen, dass durch die schrankenlose Ausweitung des Geldumlaufs, erhebliche inflationäre Gefahren auf das deutsche Geldsystem zukommen. Die Einführung der Darlehnskassenscheine destabilisierte das System weiter.

Während des Krieges organisiert Walther Rathenau (1867-1922) die deutsche Kriegsrohstoffversorgung und regt die Gründung der Kriegsrohstoffabteilung (K.R.A.) an. Am 18. Dezember 1916 hält er vor der "Deutschen Gesellschaft 1914" einen Vortrag über die Probleme der Friedenswirtschaft, indem die zu erwartenden wirtschaftlichen und finanziellen Kriegsverluste sowie geldpolitischen Gefahren analysiert werden: (a) Der Krieg zerstört gewaltige nationale Werte. Zugleich schreitet die Abnutzung der Werkzeuge und Maschinen voran. (b) Schmerzliche Opfer an Menschenleben belasten die Wirtschaft. An die Stelle arbeitender Hände und Köpfe treten tausende Kriegsbeschädigte und Hinterbliebene. (c) Es ist, bewerten wir die Verluste, referiert Walter Rathenau, wohl keine Überschätzung, dass es sich dabei um den fünften Teil des Nationalvermögens handelt. Nach etwa vier bis fünf Jahren wird Deutschland auf den Stand zurückgeworfen, den es zu Beginn des Jahrhunderts unter den führenden Industriestaaten einnahm. (d) Zudem erwächst dem Land aus den ge- und zerstörten Aushandelsbeziehungen ein großer Schaden. (e) Aus der Spaltung des Landes in Gläubiger und Schuldner folgt eine gewaltige Umschichtung der Vermögen. (Rathenau 18.12.1916, 819 bis 822)

Die Kriegswirtschaft desavouiert nicht nur die Geldwertstabilität. Betroffen ist die gesamte Konsum- und Produktionssphäre. Im Krieg werden weniger Konsum- und Investitionsgüter, aber dafür mehr Rüstungsgüter produziert, die der Staat finanziert. Bedeutende Teile der Bevölkerung erzielen im Netzwerk der Rüstungsindustrie im Vergleich zur Vorkriegszeit bessere Löhne. Dadurch entsteht eine höhere Nachfrage, was noch dadurch verstärkt, daß durch die Verlagerung der Ressourcen in die Rüstungsproduktion weniger Konsumgüter produziert werden, was zu Preissteigerungen führt.

 

 

Steuerpolitik mit Kokaineinspritzung? zurück

Aus Anlass der ersten Beratung der Entwürfe von Gesetzen, betreffend der Feststellung des Reichshaushaltsplans und Haushalts der Schutzgebiete für das Rechnungsjahr 1918, steigt am 1. März 1918 der Reichstag in eine finanzpolitische Grundsatzdebatte ein. Dem Abgeordneten Posadowsky gefällt nicht, dass scherzhafte Äußerungen zum Zirkus Busch, eine so ungeteilte Aufmerksamkeit finden, während, die "Gestaltung der Finanzen des Deutschen Reiches" nicht die nötige Beachtung finden. Ein neuer Ernst zieht ein. "Ich entsinne mich," trägt er (RT 1.3.1918, 4279) warnend vor, "wie ich die Verwaltung des Reichsschatzamtes führte und unsere Schulden auf 1,75 Milliarden [Reichsmark] gestiegen waren, dass mit das entsetzlich hoch vorkam." Mit Unterstützung des ausgezeichneten Mitgliedes des Zentrums, des Abgeordneten Dr. Lieber, kam ein Gesetz zustande, dass die Verschuldung des Reiches für ertraglose Zwecke verhindern sollte. Als er aus dem Amte schied und verstorben [† 31.03.1902] war, "hob man dieses Gesetz wieder auf, indem man den bequemeren Weg vorzog, weitere Schulden zu machen, anstatt den Steuerkampf aufzunehmen. Jetzt sind wir schließlich bis auf 124 Milliarden gekommen."

Wie kann man, fragt er, die nötigen finanziellen Mittel für die Zukunft Deutschlands aufbringen? Kann die Schuldenlast, durch Einzug einer erheblichen Quote des Vermögens von sämtlichen Steuerzahlern reduziert werden? Die es wirklich zahlen können, bringt Posa vor,

müssen nur noch etwa gefühllos gemacht werden,

damit sie "nicht allzu sehr schreien". Ist die Therapie der Kokaineinspritzung (Posadowsky) wirklich der richtige Weg? Wird das ausreichen?

"Den Kriegsgewinnlern macht das nichts (sehr richtig, rechts) und die Arbeiter empfangen ja bereits Löhne, die man vor frei Jahren für vollkommen phantastische gehalten hätte." (Posa 1.3.1918, 4281)

Es sind die Kriegsinvalidenrente zu zahlen, die Witwen- und Waisenrente aufzubringen, den Wiederaufbau von Heer und Marine zu finanzieren. Eine Neureglung aller Beamtengehälter ist notwendig. "Ich muß hier bei der Beamtenfrage kurz verweilen," denn er will aussprechen: "Ich glaube, die Bevölkerungsklasse, die unter den gegenwärtigen Verhältnissen am allerschwersten leidet, sind die auf stetes Einkommen angewiesenen Personen besonders aber die Beamten." Meist sind sie nicht in der Lage, sich einen Nebenerwerb zu schaffen, während sie andererseits für ihren Lebensunterhalt die ungeheuer gestiegenen Preise zahlen müssen. (Posa RT 9.7.1919, 1426)

So kann man sich in etwa ein Bild machen, was der deutsche Steuerzahler zu leisten hat.

"Endlich … wird noch ein Faktor ins Gewicht fallen;
das ist die wirkliche

gründliche planmäßige Besserung der Wohnungsverhältnisse der unbemittelten Klasse." (Posa 1.3.1918, 4279)

Bald darauf reagiert der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Ewald Vogtherr (1859-1923). Er (RT 1.3.1918, 4288) zieht den Kreis der gesellschaftspolitischen Aufgaben ein wenig weiter: "Der Herr Graf Posadowsky hat uns vorhin ein anschauliches Bild von der Schönheit gegeben, der wir entgegengehen, wenn der Krieg zu Ende sein wird: welche Lasten erwachsen werden, welche Summen notwendig sein werden, welche Steuern aufzubringen sind. Ja, meine Herren, dieses Bild, dass er uns entrollte und das seiner eigenen Andeutung nach an die Wirklichkeit wohl noch gar nicht heranreichen wird, gehört auch in das Kapitel der Verantwortlichkeit derer, die sich für diesen Krieg erklärt haben. (Sehr wahr! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)"

Die wirtschaftlichen und sittlichen Wunden werden nicht ausheilen. Deutschlands strategische Stellung in Europa ist wie der des gesamten Kontinents stark geschwächt und befindet sich im Umbruch. Es wird nicht, wie Posadowsky hofft, "wieder die alte wirtschaftliche und politische Stellung in der Welt erringen". Die Idee vom geliebten Vaterland ist für immer zerstört.

 

 

Jede Zeit ist eine Sphinx,
die sich in den Abgrund stürzt,'
sobald man ihre Rätsel gelöst hat.
 zurück
Heinrich Heine: Romantischen Schule (1836)

 

Hinter dem Dreiundsiebzigjährigen liegen anstrengende Arbeitsjahre: Referendar am Breslauer Stadtgericht, Gutsverwalter, Landrat, Landeshauptmann der Provinz Posen, Chef des Reichsschatzamtes, Staatssekretär des Inneren, Stellvertreter des Reichskanzlers, vierzehn Jahre als Mitglied der Reichsleitung im Reichstag, sieben Jahre Reichstagsabgeordneter und die Vertretung als Landrat in Elbing.

Regulär steht er seit seinem Abschied aus der Reichsleitung im Jahr 1907 für eine höhere Aufgabe im Staatsdienst nicht zur Auswahl. Es ist kein Grund für ihn, jetzt der moralischen Frage nach Verantwortung für den Krieg auszuweichen. Über freilich zu jeder Zeit notwendige individuelle moralische Maßstäbe des Handelns hinaus, verschafft er unter Einbeziehung der reformierten Christenlehre, und vom liberal-konservativen Standpunkt dem Rechtsgefühl und Anstand, den gesellschaftlichen Normen der gegenseitigen Achtung und Gerechtigkeit Geltung und Wirkung. Dabei verschließt er nicht die Augen davor, dass die Alten - die Elite - nach dieser historisch singulären Staatspleite als soziale Klasse einen ungeheuren Reputationsverlust erfährt und ihr moralisches Ansehen gründlich, vielleicht sogar irreparabel beschädigt ist.

In Teilen der Öffentlichkeit bestehen zu seiner außenpolitischen Verantwortung falsche Vorstellungen, weshalb ihm folgende Klarstellung entfährt:

" - Sie sagen, meine Herren, ich war Mitglied der Regierung. Gewiss meine Herren. Aber vieles ist geschehen, nachdem ich ausgeschieden war, (Zurufe von den Sozialdemokraten) und außerdem haben sie ja von Herrn v. Bethmann Hollweg gehört, daß die Staatssekretäre "nachgeordnete" Beamte [siehe Posa RT 19.3.1897, 5164] sind. Ich hatte meinen Geschäftsbereich zu vertreten. Das Auswärtige Amt war für mich unerreichbar, auch als allgemeiner Stellvertreter des Reichskanzlers." (Posa RT 23.10.1918, 6202)

Schützengraben- und Gaskrieg erschütterten das europäische Wertesystem bürgerlicher Normen. Wenn die Menschheit nicht zugrunde gehen will, dann muss sie jetzt, antwortet Albert Schweitzer (1875-1965) in "Kultur und Ethik" (1971, 104, 341), ihr Moralsystem neu aufbauen. Sie braucht eine neue Gesinnung, was bedeutet, auf die "optimistisch-ethische Deutung der Welt in jeder Weise zu verzichten". Es gibt keine andere Möglichkeit als den Fortschrittswahn des materialistischen Weltbildes Optimismus, aus dem Willen zum Leben zu überwinden. Auf diesem Neuen Weg (1919/1921) schreitet der Arzt aus Lambarene in Gabun fort.

 

 

 

Das unbegrenzte Recht des Siegers  zurück

US-Präsident Woodrow Wilson erklärt am 23. Oktober 1918, dass er nicht bereit ist mit den "bisherigen Beherrschern Deutschlands" zu verhandeln, und spricht der politischen Elite Deutschlands sein Misstrauen aus.

 

Das Auswärtiges Amt der Vereinigten Staaten von Amerika in Washington übermittelt am 23. Oktober 1918 als Antwort auf die Note der deutschen Regierung vom 20. Oktober 1918 folgende Botschaft des Präsidenten, um auszusprechen, "daß die Völker der Welt kein Vertrauen zu den Worten derjenigen hegen und hegen können, die bis jetzt die deutsche Politik beherrschten, und abermals zu betonen, daß bei Friedensschluss und beim Versuche, die endlosen Leiden und Ungerechtigkeiten dieses Krieges ungeschehen zu machen, die Regierung der Vereinigten Staaten mit keinem anderen als mit den Vertretern des deutschen Volkes verhandeln kann, welche bessere Sicherheiten für eine wahre verfassungsmäßige Haltung bieten, als die bisherigen Beherrscher Deutschlands." (Wilson 23.10.1918)

 

 

Wilsons häusliches Amüsement. (Originalbildunterschrift)

 

 

Wilsons häusliches Amüsement. "Der Wahre Jacob". Beilage zum Wahren Jacob". Nummer 87. 34. Jahrgang. Stuttgart, den 9. November 1917

 

Posadowsky gehörte zur politischen Elite. Das Vorgehen von Woodrow Wilson unterstellt hinsichtlich der Anerkennung der Regierung ein völkerrechtlich verbindliches Prinzip, dass es eigentlich noch nicht gibt. Ob rechtspolitisch oder nur intuitiv begründet, das sei dahingestellt, jedenfalls trauten viele den Siegern die saubere Handhabung eines solchen Rechtsprinzips nicht zu. Einige, das waren nicht wenige, rüttelten mit irrationalen Argumenten an der Legitimität des Verfahrens, was oft in eine Radauszene mündete. Andere, der bedeutend größerer Teil der deutschen Öffentlichkeit, unterzog das Vorgehen hinsichtlich Legitimität und Autorität einer rationalen Kritik. Sichtbar wurde es zum Beispiel in der japanisch-westlichen Menschenrechtskontroverse. Am 11. April 1919 trat unter Präsident Woodrow Wilson (1856-1924) die Völkerbundkommission zu ihrer letzten Sitzung zusammen. Zuvor, genau am 13. Februar 1919, schlug der japanische Delegierte bei der Pariser Friedenskonferenz Baron Makino Nobuaki (1861-1949) zwei Paragraphen vor, die garantieren sollten, dass keine Personen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht auf Grund der Rassen- und Staatsangehörigkeit diskriminiert werden können. Die amerikanische Delegation lehnte den japanischen Antrag ab, weil er eine Einmischung in die internen Angelegenheiten des Staates Vorschub leistete. Als Präsident Woodrow Wilson am nächsten Tag das Papier verlas, fehlten die betreffenden Klauseln. "Auch in der letzten Vollversammlung der Völkerbundeskommission vom 28. April 1919 brachte Baron Makino die Angelegenheit noch einmal zur Sprache. Die Rassenfrage bleibe ein ungelöstes Problem, das sich jederzeit gefährlich zuspitzen könne." (Harro von Senger 2000)

 

 

Hass auf die Kabelabschneider  zurück

 

"Sieh her wie die Vandalen habt ihr gehaust, unmenschlich habt ihr das arme Frankreich zugerichtet." (Bildunterschrift oben)

"Durch fleißige Arbeit lässt sich das wieder gutmachen, aber die folgen euer Hungerblockade sind nicht wiedergutzumachen!" (Bildunterschrift unten)

Quelle: Frankreich und Deutschland. "Der Wahre Jacob." Nummer 872, 37.Jahrgang. "Beilage zum Wahren Jacob." Stuttgart, den 2. Januar 1920, Seite 9877

 

Hunger und Entbehrung brachte die völkerrechtswidrige Seeblockade der Engländer über die Bevölkerung. Deutschland verliert die gesamte Handels- und Fischereiflotte, was die Ernährungsnöte verewigt. So darf man das deutsche Volk nicht behandeln, klagt Posadowsky am 27. März 1919 Aus tiefer Not (54ff.).

Deutschland hat den Krieg verloren. Die alte europäische Ordnung bricht zusammen. Im Ergebnis der Russischen Revolution (1917), den Friedensvertrag von Brest-Litowsk (1918) und Versailler Vertrag (1919) entsteht eine neue internationale Ordnung der Staaten. Der deutsche Kaiser rettet sich ins Exil. Den Abschied von ihm, konnten viele Bürger in der Garnisonsstadt Naumburg nicht verwinden. Das wird lange nachhallen. Da ist beispielsweise die öffentliche Erklärung des Festkommers des 7. Thüringer Infanterieregiments Nr. 96 vom 25. und 26. August 1 9 3 4, wo es heißt:

"Nach dem furchtbaren Zusammenbruch von 1918 kam für uns die Zeit der Schmach, die Herrschaft der Lüge und Korruption auf allen Gebieten."

Das ist die Signatur für eine Klientel, indem die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), Nationalsozialistische Arbeiterpartei (NSDAP) sowie der Stahlhelm und Wehrwolf erfolgreich fraternisieren.

 

 

.... ich hoffe, auch für unsere Feinde
wird dieser Tag kommen, wo die Rache
der Götter auf sie niederstürzt  
Graf Posadowsky am 22. Juni 1919   
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Es sind weniger die Schattenseiten der Revolution als die ungeheuerlichen Zumutungen des Versailler Friedensvertrages, die ihn großen politischen Kummer bereiten. In "Aus tiefer Not" (54/55) legte er am 27. März 1919, begleitet von innerer Unruhe über die politische, soziale und wirtschaftliche Lage Deutschlands, seine Sorgen dar:

Von den knappen Lebensmitteln müssen die Besatzungstruppen ernährt werden. Deutsche Kriegsgefangene werden in Fronknechtschaft gehalten. Im Gegensatz zu den vierzehn Punkte Friedensvorschläge von Präsident Wilson, sollen den Deutschen die Ostmark entzogen werden. Die deutsche Handelsflotte ist verloren. England hält die Blockade weiter aufrecht. Die Volksernährung ist gefährdet und die Wirtschaft gelähmt.

"Wir haben uns gutgläubig auf die Wilsonschen Vorschläge verlassen, offenbar zu gutgläubig, denn sonst hätte Präsident Wilson gegen die uns gestellte Forderungen längst offenen Widerspruch erheben müssen .... An die Stelle der Wilsonschen Vorschläge, die eine vereinbarte Grundlage für den künftigen Frieden darstellen sollten, ist jetzt ein unbegrenztes Recht des Siegers getreten." (Aus tiefer Not 55)


V e r s a i l l e s


"Sie hören -
er bekennt sich schuldig!"
(Originalbildunterschrift am
unteren Rand des Bildes.)

Simplicissimus. 29. Jahrgang, Nummer 13. Stuttgart den, 23. Juni 1924, Titelbild, Ausschnitt

Den politischen Ansatz für den Nationalbolschewismus formuliert Lenin im Juli 1920: "Der Frieden von Brest-Litowsk, von dem monarchistischen Deutschland diktiert, und dann der weitaus bestialischere und niederträchtigere
Frieden von Versailles, von „demokratischen" Republiken, Amerika und Frankreich, sowie vom „freien" England diktiert, haben der Menschheit
einen überaus nützlichen Dienst geleistet, indem sie sowohl die gedungenen Tintenkulis des Imperialismus entlarvten wie auch die reaktionären
Spießer - mögen diese sich auch Pazifisten und Sozialisten nennen -, die den „Wilsonismus" priesen und zu beweisen suchten, daß unter dem
Imperialismus Frieden und Reformen möglich seien." (Vorwort zu französischen und deutschen Ausgabe von "Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus", Seite 195)

 

Wenn die Regierung und die Volksvertretung Bedingungen für den Frieden genehmigen, "wie sie unsere Feinde planen", dann muss Aus tiefer Not (56), dass gesamte deutsche Volk gegen eine "solch schmachvolle Vergewaltigung" seine Stimme erheben und alle anruft, "die noch ein Gefühl für Recht und Menschlichkeit haben. Von Frankreich und dem alten Hass seiner Bevölkerung haben wir nichts zu erwarten."

Gemeinsam mit liberal-bürgerlichen, nationalen und sozialistischen Kreisen demonstriert im Frühjahr 1919 in Naumburg der Graf öffentlich gegen den Schandparagraphen von Deutschlands Alleinschuld. Zu den unterschiedlichsten Gelegenheiten flammte der Unwille über die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts und Verletzung der Souveränität durch die Alliierten immer mal wieder auf. In bestimmten politischen Gruppierungen, denen er nicht zurechnet, bildet es das einigende Band im Kampf gegen die Republik.

 

Wie denkt er im Frühsommer 1919 über den Versailles Vertrag?

Er ist unannehmbar, weil wir wehrlos dastehen. Das Friedensangebot lautet "militärische Ermüdung Deutschlands" (273, 274).

Deutschland verliert Gebiete, die dreiviertel von Großbritanniens Landfläche erfassen. Elsaß ist unser Land, zumindest zu 95 Prozent. Ähnlich den Sozialdemokraten befürchtet er den Verlust von Posen und Westpreußen. An der Seite der Wehrlosmachung steht der Landraub.

England sagt, die Deutschen können die Kolonien nicht regieren. Sie drohen ebenfalls verloren zu gehen.

Durch die wirtschaftlichen Klauseln des Vertrages, wird Deutschland der Mittel beraubt, die beschlossenen Massnahmen überhaupt zu tragen. Das bedeutet zweifellos "den vollkommenen wirtschaftlichen Niederbruch" (281).

"Dieser Friedensvertrag ist eine geschichtliche Urkunde volkswirtschaftlichen Unverstandes", entlädt sich seine Wut am 7. Oktober 1919 (17) vor der Nationalversammlung in Weimar. "Sie zeigt, daß man die Sache nur vom Standpunkt des Forderns betrachtet hat, ohne alle volkswirtschaftlichen Erwägungen der Möglichkeit (Erneute Zustimmung rechts)."

Der Feind verlangt auf Grundlage eines rückwirkenden Strafrechtsmodell die Auslieferung deutscher Staatsangehörige [Kriegsverbrecher]. Deutsche würden den Feinden zu Aburteilung ausgeliefert. Für "das Sittengefühl einer Nation" ist das "unerträglich." (281)

Dass Deutschland schuldig am Krieg, ist nicht erwiesen. "Das war ja die Absicht unser Feinde, uns den ewigen Makel dieses Weltkrieges in der Geschichte anzuhängen …" (282) Rußland wollte den Krieg. England nahm die Gelegenheit den Wirtschafts- und Flottenkonkurrenten niederzuschlagen. (283) (Posa 22.06.1919)

".... Wir müssen uns ernstlich prüfen, ob wir gestatten können, dass eine deutsche Regierung und seine deutsche Volksvertretung für den Frieden Bedingungen genehmigt, wie sie unser Feinde planen; wir müssen uns fragen, ob es nicht besser und würdiger ist, solche unerhörten Bedingungen abzulehnen - auf Gedeih und Verderb." (Aus tiefer Not 56)

Für Posadowsky war der 12. Mai 1919, als die Mehrheit der Nationalversammlung den Friedensvertrag entschlossen ablehnte, ein großer Tag. Vor der Abstimmung gibt er in der Neuen Aula der Universität zu Berlin sein Urteil ab:

"Dieses Friedensangebot ist ein Mischgericht aus französischer Rachsucht und englischer Brutalität". (Posa RT 12.5.1919, 1096)

 

 

Keine Anerkennung der Schuld   zurück

Gestützt auf zum Teil vakante, umstrittene oder zu diesem Zeitpunkt nicht klar erkennbare Zusammenhänge, aber auch enttäuscht von der politischen Entwicklung nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens im Wald von Compiègne am 11. November 1919, erörtert Graf von Posadowsky im Aufsatz "Die Entschädigungspflicht Deutschlands", datiert vom 27. Mai 1919, die Frage nach der Schuld am Krieg.

Ausgangspunkt bildet die Erklärung der deutschen Regierung vom November 1918, "unseren Feinden entstandene Kriegsschäden zu vergüten", und das, obwohl "nach den Veröffentlichungen aus den militärischen Archiven Rußlands kein Zweifel mehr darüber bestehen kann, dass Rußland den Krieg gegen Deutschland von langer Hand vorbereitet hatte und zum Krieg entschlossen war, obgleich es ebenso nach den Ermittlungen in belgischen Archiven nicht zweifelhaft sein kann, das Belgien niemals neutral gewesen ist, wie dies selbst der Engländer Bernhard Shaw in seinem Buch "Winke für die Friedensversammlung" zugibt, obgleich England nach demselben englischen Verfasser schon seit 1906, d.h. seit dem ersten Berliner Besuch des damaligen Kriegsministers Lord Haldane, den Krieg gegen Deutschland vorbereitet hat und obgleich endlich Frankreich, entsprechend seiner Bündnispflicht gegenüber Rußland, in den von Rußland gewollten Krieg eingetreten ist." Es war dies ein Zugeständnis, das uns ungerecht belastet und jetzt als Schuldbeweis gegen uns verwendet wird. In Paragraph 231 des Versailles Vertrag wird uns deshalb das Anerkenntnis der Schuld zugemutet. (Die Entschädigungspflicht 160)

Anfang der 20er Jahre entsteht die Paneuropäische Perspektive. Graf Richard Coudenhove-Kalergi (1864-1972) formuliert 1922 ihre Kernsätze. 1924 gründet er in Wien die Paneuropäische-Union. "Paneuropa" begreift London, New York, Moskau und Tokio als die neuen Weltzentren. Am Horizont zieht Panmongolien herauf. Nach Auffassung von Coudenhove-Kalergi kann sich ein freies Europa nur unter Ausschluss der eurasischen Weltmächte England und Rußland herausbilden. Paneuropa hat die Freundschaft der Rivalen Deutschland und Frankreich zur Voraussetzung. Die Überwindung ihrer Feindschaft ist das größte Hindernis. Aus der paneuropäischen Idee leiten sich deutliche andere Implikationen und Folgerungen als aus dem Versailles Vertrag ab. Allerdings zimmerte ihr Vordenker das Neue Europa zum Teil aus abgewrackten Konstruktionsteilen zusammen, was das Zusammenwachsen des "demokratischen Europas" mit dem "sowjetischen Rußland" unmöglich macht.

 

 

Reichsnotopfergesetz und
Erzberger`sche Finanzreform 
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Am 21. Juni 1919 konstituiert sich das Kabinett Gustav Bauer (Eugen Schiffer, Hermann Müller, Eduard David, Joseph Wirth, Gustav Noske und andere) und bleibt bis am 27. März 1920 im Amt. Matthias Erzberger (1875-1921) übernimmt das Reichsfinanzministerium. Die Sanierung der Reichsfinanzen, trägt Graf von Posadowsky am 9. Juli 1919 der Nationalversammlung vor, dass die "Stabilität im Reichsfinanzministerium in letzter Zeit geschwunden sei" und er fürchtet, dass der Parlamentarismus, zu allem bereit sei.

Matthias Erzberger, seit 21. Juni 1919 Reichsminister der Finanzen, nimmt im kritischen Unterton darauf Bezug:

"Aber ich frage den Herrn Graf Posadowsky:

War es früher anders oder besser?"

"Wenn man die Leidensgeschichte der früheren Reichsschatzsekretäre durchsieht, findet man auch: Sie gingen, sie kamen, man wußte nicht, woher, man wußte nicht wohin."

"Fünf Jahre! Aber wo war die große Finanzreform in dieser Zeit, wo er dieses Amt führte? (Sehr richtig. links)" (Erzberger RT 9.7.1919, 1434)

Deutschland muss riesige Kriegsschulden aufbringen. Nach Berechnungen des früheren Reichsfinanzmisters Schiffer sind es 160 1/2 Milliarden plus den alten Schulden, ergibt die Summe von 165 1/4 Milliarden Mark. An Frankreich beträgt die Schuldenlast 436 Milliarden. ".... die Schuld an unsere Feinde im ganzen mit Zinsen während 30 Jahren" liegen bei "900 Milliarden". Rechnet man die eigenen Schulden dazu, ergibt sich die Summe 1100 Milliarden. (Posa 7.10.1919, 16)

Der Wiederaufbau des Landes verschlingt gewaltige Investitionen. "Wir haben", erinnert Posadowsky seine Kollegen am 1. März 1919 (4279) in der Nationalversammlung, "die ungeheuren Kriegs-Invalidenrenten zu zahlen." Hinzukommen die Witwen- und Waisenrenten. "Ich bin auch ferner der Ansicht, dass es durchaus gerechtfertigt ist, die Kriegsgewinne im engeren auf schärfste zu erfassen" und die besitzenden Klassen heranzuziehen. (Posa RT 27. März 1919, 836) Er hält es aber nicht für Gerecht, die bescheidene Vermögensvermehrung, als Resultat von Sparsamkeit und Selbsteinschränkung durch den Staat zu plündern. Das geschieht nicht im erforderlichen Umfang, weil es die Deutschnationalen verhindern. Und dies könnte, soll erstmal versuchsweise angemerkt werden, ein Grund der Trennung von der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) gewesen sein.

Die Erzberger`sche Finanzreform 1919/1920 führt die Einkommen-, Körperschafts- und Umsatzsteuer, Kapitalertragsteuer und den direkten Lohnsteuerabzug ein. "Mit der Umsatzsteuer kann man einverstanden sein", teilt sich Posadowsky am 7. Oktober 1919 der Nationalversammlung mit. Etwas aufreizend empfindet er die Ankündigungen von Gustav Bauer (1870-1944), Vorsitzender der Generalkommission der deutschen Gewerkschaften und Staatssekretär des Reicharbeitsamtes (RT 23.7.1919,1847):

"Gekrönt werden soll diese neue, von sozialer Gerechtigkeit getragene Steuergesetzgebung durch eine Reichseinkommensteuer, die durch das ganze Reich gleichmäßig veranlagt werden soll und die ihrerseits wiederum notwendiger Weise zur Schaffung einer Reichsteuerverwaltung führen wird."

Eine Überdehnung dieser Maßnahmen wäre volkswirtschaftlich gesehen nicht günstig, weshalb er fordert, keine Steuergesetzgebung darf soweit gehen, "daß sie den Antrieb und die Lust zur Verehrung des Vermögens unterbindet, das sie den Unternehmergeist lahmlegt. …" (Posa RT 7.10.1919, 14)

Am 31. Dezember 1919 verabschiedet die Nationalversammlung das Reichsnotopfergesetz (RNOG), welche die Abgaben auf Vermögen regelt. Im Vorfeld diskutiert die Öffentlichkeit heftig über die Vor- und Nachteile, also: Wer ist, wer kann und wer darf nicht Steuerbefreit werden? Welche Nachlässe gibt es? Graf von Posadowsky (Rede 7.10.1919, 13f.) schlägt vor: Entweder werden Abgaben zum Reichsnotopfergesetz auf einmal angefordert, dann müssen zahlreiche Steuerpflichtige einen erheblichen Teil ihres Besitzes an den Markt werfen, was wahrscheinlich eine ungeheure Entwertung der Immobilien zur Folge hätte. Das würde aber die Zahlung letztlich erschweren. Eine andere Möglichkeit besteht in der Stundung der Leistung. Doch ob man sie über dreißig Jahre lang über alle seine Vererbungen und Veränderungen verfolgen kann, ist sehr fraglich. "Ich bin deshalb der Überzeugung, dass diese Reichsnotopfer auf einen unrichtigen Gedanken aufgebaut ist. In den allermeisten Fällen wird diese Reichsnotopfer gestundet werden müssen. Das ist es schließlich nichts wie eine Einkommensteuer … "

 

 

Deutschlands Einheit ist gefährdet!  zurück

Im Alltag überall und alle Tage Gewalt. In unerhörter Weise blühen das "Schiebertum und der verächtliche Wucher mit Lebensmitteln". Posadowsky (RT 7.10.1919, 2895) leidet an seinem Land, dem Niedergang, am Staatsbankrott und den Demütigungen durch die Alliierten. Unter der Bevölkerung nimmt er große Unsicherheit wahr. "Aus tiefer Not" (56) befürchtet er am 21. März 1918:

"Jede weitere Zersplitterung Deutschlands muss seine Stellung nach außen hin schwächen und unsere Vaterland weiter entkräften."

Deutschland könnte unter den Lasten und Folgen des Krieges zerbrechen. Damit würde es gemessen an seinen Wert- und Leitideen der Gesellschaftsentwicklung auf lange Zeit die entscheidende Voraussetzung, die staatliche Einheit, für Wohlfahrt und Entfaltung der Kultur einbüßen. Ihm scheint, die Sozialdemokraten könnten den Zusammenhalt der deutschen Einzelstaaten retten und in der Republik bewahren. Möglicherweise, genauer ist es jetzt nicht zu sagen, gewisse Anzeichen sprechen dafür, verändert dies später sein Verhältnis zu den regierendenden Sozialdemokraten positiv. Achtungsvoll räumt er in Gegen Bauer und Noske am 7. Oktober 1919 ein, wartete sie nach dem 9. November [1918] mit zielstrebigen und abmarschbereiten Politikern auf, währenddessen die Bürgerlichen unentschlossen wirkten und danebenstanden.

 

 

Das große Reinemachen   zurück

Wie eine Dampfwalze rollt die Schuldfrage auf die Alten zu. Und war es denn nicht so, dass die Freideutsche Jugend vor dem Krieg wieder und wieder ihre Zweifel an der wilhelminischen Elite vorbrachte? Unfähig zur sozialen Empathie, unwillig zu Reformen. Radikalopportunistisch und indolent, zu wenig am Aufbau einer friedlichen Welt interessiert, lautete damals ihr Urteil. Als der Jenaer Verleger Eugen Diederichs (1867-1930) 1917 Intellektuelle, Politiker und Künstler zum Gespräch über die Neuordnung Deutschland auf Burg Lauenstein einlud, bestürzt ihn der Doktrinismus der älteren Generation, ihr Mangel an Demut und "an Gefühl, den Menschen Bruder zu sein".

Wer sich jetzt unverdrossen in den Führerstand der Agitations-Dampfwalze schwang, der konnte im Kampf der Jungnaturen gegen die Alten schnell Popularität erlangen. Das ist die Chance für die Neue Schar des Friedrich Muck-Lamberty. Im Gepäck eine neue, jugendliche und naturverbundene Lebensart, zieht sie im Sommer 1920 mit Gesang und Tanz durch Franken und Thüringen. Ein unglaublicher Triumph! Graf Posadowsky ist nicht dabei. Natürlich nicht. Er ist fünfundsiebzig Jahre alt. Da haben wir es doch! Einer von diesen Alten! Vom System verdorben! Und dann, gibt er am 14. Februar 1919 in der Nationalversammlung zu Weimar diese provokante Vorstellung:

"Wir haben nichts zurückzunehmen von dem, was wir bisher vertreten haben. Wir sind treue und überzeugte Diener unserer Herrschaftshäuser gewesen, mit denen das deutsche Volk durch jahrhundertelange Arbeit durch Freud und Leid unauflöslich schien."

Was bedeutet das?

Uneinsichtigkeit?

Festhalten an überlebten Gesellschaftskonzepten?

Selbstschutz vor dem Zusammenbruch?

Sturheit als Protestform?

Oder ist er ein Reaktionär?

Zur Klärung empfiehlt sich ein kleiner Umweg zur Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Sie ist, nach der SPD und dem Zentrum, die drittstärkste Partei in Deutschland und tagt am 17. Januar 1919 in Stuttgart. Der Referent Theodor Heuss (1884-1963) versucht sich an ähnlichen Problemen. Und wie bewältigt er sie? Im diplomatischen Ton legt er dar, dass die wilhelminisch konservative Anschauungsweise in Kombination mit den nationalistischen Traditionen überholt ist. Eine Einsicht, der sich Posadowsky in dialektischer Form nicht verweigert. "Die Fürsten sind nicht mehr da", ruft Heuss, "und unser Denken muss zurückgehen über Bismarck zum Jahr 1848", worauf die wichtige Stelle folgt:

"Das alte Deutschland liegt hinter uns
- wir wollen es nicht schmähen."

 

"Das Schreien hilft Euch nichts. Ihr müßt fort, um dem Neuen Platz zum machen."

"Das große Reinemachen." Der Wahre Jacob. 36. Jahrgang. Nummer 849. Stuttgart, den 30. Januar 1919

 

Posadowsky denkt ähnlich, dass heisst, er lehnt in dieser historischen Situation jede "Herabsetzung des alten Staates" ab. Das wird oft leichtfertig generalisiert als "reaktionär" bezeichnet. Ist es aber nicht. Auch mit der "Idealisierung des deutschen Kaiserreichs", die Wolfgang J. Mommsen 1987 (110) für die 20er-Jahre zu Recht beklagt, hat dies nichts zu tun, weil er sich immer wieder kritisch mit dem wilhelminischen System auseinandersetzt und sich seiner eigenen Verantwortung bewusst ist. Also, klugerweise kann sich hinter dem "nicht schmähen", durchaus eine vernünftige gesellschaftspolitische Haltung verbergen. Nämlich, wenn man beim Neuaufbau eines Staates, einer Republik, in konstruktiver und humanistischer Art und Weise an die Idee der Nation zur Mobilisierung der natürlichen Kräfte anknüpfen muss, weil ein nationales Aufbauwerk im bisher nicht gekanntem Ausmaß zu leisten ist, dann darf man ihre Quellen nicht leichtfertig zum Versiegen bringen.

Den neuen Fragen der Arbeitswelt in Industrie und Landwirtschaft, die Abschaffung der Heimarbeit, das Recht auf Wohnung für die Unterklasse, die Implantierung eines gerechten Steuersystems, ja der Reform und Umgestaltung des politischen Systems, steht Posadowsky aufgeschlossen gegenüber. Und das stets mit Empathie für die arbeitenden Klassen und Forderung nach Verantwortungsübernahme durch eine schöpferisch tätige politische Elite.

Ihn wegen oben zitierter Redepassage, dass Urteil vom rückwärtsgewandten Politiker oder Gegner der Republik aufzuherrschen, wäre irreführend und extra ungerecht. Gewiss, er kritisiert als DNVP-Fraktionssprecher der Nationalversammlung scharf die Regierung, erhält überdies von ihr gelegentlich auch Beifall. Es ist wahr, die Arbeiter- und Soldatenräte und andere Revolutionserscheinungen lehnt er ab. Aber das bedeutet nicht, dass er ein Reaktionär, Konterrevolutionär oder Monarchist ist.

 

 

Der Aufstieg des Arturo Ui  zurück

Als Folge des Weltkrieges sinken die höher gestellten Klassen unter dem Einfluss der schweren wirtschaftlichen Rezession nach unten, was schwere Integrationsprobleme verursacht und die Mentalität der Staatsdiener in der B e a m t e n s t a d t  N a u m b u r g an der Saale hin zur Stahlhelm-Organisation verschiebt. Die Submediokrität nimmt in der Existenzkrise zu. Bertolt Brecht stellt die damit verbundenen Verhaltensmuster 1941 in verdichteter Form dem Theaterpublikum in "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" (1941) vor. Es ist ein Phänomen, das staatsrechtlich und -politisch quer zu den Intentionen von Posadowsky liegt, womit er aber im fünften Karriereabschnitt (1882 / 1893 / 1912 / 1919 / 1927) als Abgeordneter immer wieder konfrontiert wird. "..... dass Personen ohne jede Vorbildung, ohne jede Kenntnisse der Gesetze, ohne jedes Studium des Rechts und der Verwaltung des Landes in die höchsten Stellen gelangen", ist grundfalsch, alarmiert er am 7. Oktober 1919 den Reichstag. "Meine Herren von der Regierung, dieses System rate ich nicht fortsetzen. Die Bevölkerung hat schweres Mißtrauen dagegen." ".... lassen Sie nur sittliche und berufliche Tüchtigkeit entscheiden." (Posa RT 7.10.1919, 2898 + 2899)

 

 

Kaiserbilder   zurück

Ende 1919 beobachtet er wie "das deutsche Volk nach Ruhe und Ordnung lechzt" und "im Volk in den letzten Monaten der monarchische Gedanke wieder an Boden" gewinnt. So sind denn folgende Worte aus seiner Rede gegen "Gegen Bauer und Noske", von ihm gut zu verstehen:

"Das bisherige Staatswesen "als Obrigkeitsstaat" verächtlich zu machen und dem Volke als Trost in seinem Unglück fortgesetzt, "die errungene politische Freiheit" an die Wand zu malen, genügt nicht." (Posa 7.10.1919 5)

Will die Regierung wirkliche Freiheit jedes Staatsbürgers gewährleisten, darf sie nicht in Einseitigkeiten verfallen, sondern muss ihre Arbeit "auf sachlicher Notwendigkeit" gestalten. (V&R 96)

Die Debatte und öffentliche Aufregung um den Traditionsabbruch hatte praktische Folgen. In der Region war die Stadt Naumburg weithin für den Streit um die Kaiserbilder bekannt, der nach Abdankung von Wilhelm II. ausbrach. Personen die einst auf den rechtesten Flügen fochten, gaben sich jetzt als Verteidiger der wahren Revolution, rissen oder hängten das Bild vom Monarchen ab. "Solch` ein schneller Wechsel der Überzeugung scheint die Erfahrung zu rechtfertigen," erhebt Posadowsky behutsam und nachdenklich die Stimme, "daß die Menschenkenntnis nicht immer geeignet ist, die Menschenachtung zu fördern". Eine gewisse Zurückhaltung ist seiner Überzeugung nach in solchen Zeiten nur vernünftig. Denn politische Bilderstürmerei ist nur eine kleinliche Maßregel gegenüber dem gewaltigen geschichtlichen Ereignis. Es ist ein "kleinlicher Jakobiner Standpunkt" "nach dem planmäßig die Erinnerung an die monarchische Zeit sowie ihre Vertreter und Anhänger in den öffentlichen Gebäuden ausgetilgt" wird. "Politisch wird man damit wahrscheinlich das Gegenteil dessen erreichen," lautet 1919 der Kern der Kritik vom Aufsatz Kaiserbilder, "was man beabsichtigt."

Er will die sozialen Kräfte erhalten und bündeln. Woher sollen sie sonst kommen? Allein die Revolutionsbegeisterung verfügt über solche Potenzen nicht, weshalb es sich empfiehlt, mit den politischen Empfindungen der Bürger zum Staat achtsam umzugehen.

 

 

Antiwestliche Tendenzen   zurück

Der Hass auf die "Kabelabschneider", die Deutschland 1914 vom Weltnetz der Kommunikation trennten, ebbte nicht ab. Trotz "völliger Amerikanisierung", taxiert der Galerist und Kunsthändler Wilhelm Uhde (1874-1947) die Lage, glimmt in "den alten Kratern" immer wieder das Feuer der nationalen Revolution auf. Die Abwehrstellung gegen den Westen war in Deutschland kein neues historisches Phänomen. Nach der Reichsgründung 1870/71 verbreitete es sich in elitären Kreisen des Bürgertums. Friedrich Nietzsches Anziehungskraft auf die Konservativen rührte wesentlich aus dessen Renitenz gegenüber dem Nivellierungsprozess der Bismarck`schen Reichsgründung her. Es war die "uralte Auflehnung Deutschlands gegen den westlichen Geist" (Thomas Mann), die Furcht vor der "Verformung des deutschen Menschen", vor "eine alle Nationalkultur nivellierende Entwicklung im Sinne einer homogenen [Welt-] Zivilisation". Obwohl sich dies in vielen Erscheinungen bei Versammlungen und Protesten, in der Presse oder in Briefen dartut, sind die antiwestlichen Tendenzen im konservativen und rechtspolitischen Lager, in abgeschwächter Form in der kommunistischen Szene, beim Wehrwolf und Stahlhelm sowie bei den Unpolitischen bisher unzureichend oder überhaupt nicht beachtet worden.

Da war vom 9. bis 12. August 1919 das Treffen der Jungdeutschen auf der Burg Lauenstein mit Frank Glatzel, Hjalmar Kutzleb, Hans Gerber und Friedrich Muck-Lamberty aus Naumburg. Ebenso waren antiwestliche Momente in der Gruppe präsent, die Ludwig Dithmar am 28. / 29. Januar 1922 aus dem Naumburger Gefängnis befreite und im Juni 1922 in Naumburg die Flucht der Rathenau Mörder von Erwin Kern und Hermann Fischer nach Saaleck unterstützte. Kräftig traten diese Erscheinungen als Folge des "Rechtsbruchs des Westens" in der Ruhrkrise 1923 hervor. "Wir sind jetzt allein in Welt", hiess es. Gustav Winter (1882-1935) aus Großjena ließ im Endkampf gegen die Reichsbank gelegentlich antiwestliche nationalbolschewistische Attitüden erkennen.

Begonnen hatte es im Anschluß an die Waffenstillstandsverhandlungen, als nach der Unterzeichnung des Vertrages am 10. November 1918 ein Notschrei an den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson erging, dass die Bedingungen - nach einer Blockade von fünfzig Monaten - durch Deutschland nicht einzuhalten sind. Wenn man hier sozusagen nicht einlenkt, würde im Deutschen Reich das Gegenteil der Gesinnung von dem erzeugt, was die eigentliche Voraussetzung für die Errichtung der Völkergemeinschaft ist. Später sprach man im Strasser- oder im Tat-Kreis-Umfeld des Journalisten Hans Zehrer von 97 Prozent Deklassierter im deutschen Volk, was eine Übertreibung darstellt, aber eine Vorstellung von der Wahrnehmung dieses Konflikts vermittelt.

Am 28. Juni 1919 wird in Versailles der Friedensvertrag unterzeichnet. Bedeutende Teile der Arbeiterklasse begreifen den Versailler Vertrag als ein Monument imperialistischer Politik, das man stürzen muss. Politiker unterschiedlicher Provenienz und Wertorientierungen, konvergieren in der Einschätzung über die Entente (Frankreich, Vereinigtes Königreich, USA, Italien).

Aber so klar, wie es eben formuliert, war es in Wirklichkeit wahrscheinlich nicht. Zumindest gab es noch eine andere Tendenz. Kürzlich erklärte der Reichsminister des Äußeren, erinnert sich 1920 der Politiker Posadowsky, dass es ein

Verschulden der Deutschen

gewesen sei, die Friedensverhandlungen in Versailles nicht ernst genommen zu haben. Jene Schuld wiegt umso schwerer, als sich der Einfluss von Massen geltend machte, die für die tiefgreifenden Bestimmungen des Friedensvertrages "und seine für unser Land vernichtenden Folgen

nicht die leistete Sachkenntnis besaßen."

Diejenigen aber, die den Friedensvertrag ablehnten, so muss man einräumen, bewiesen Scharfblick. (Coup de Jarnarc, 3.8.1920, 185)

 

Die Entente und der Bolschewismus
(Originalüberschrift)

 

 

"Also mein lieber Lenin, wir nehmen unsere Handelsbeziehungen wieder auf, bleiben aber sonst auf dem Kriegsfuß."

"Der Wahre Jacob". Nr. 876. Stuttgart, den 23. Februar 1920, Titelblatt (Ausschnitt)

 

Ein zentrales Argument der antiwestlichen Bewegung war die Missachtung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen. Ein zweites formulierte Karl O. Paetel (1965, 182), ehemaliges SPD-Mitglied und Vorsitzender des Augsburger Arbeiter- und Soldatenrates, Verfasser des "Nationalbolschewistische(n) Manifest(es)" von 1933 und Herausgeber Monatszeitschrift "Die sozialistische Nation": "Die Herren von Versailles müssen einmal die Sowjetunion auf gewaltsame Wege niederzwingen oder kapitulieren. Daher sucht man das schaffende Deutschland vor den Karren des internationalen Finanzkapitals zu spannen, um die deutschen Arbeiter, Bauern und Soldaten mit der Soldateska der übrigen europäischen Länder in den imperialistischen Krieg gegen die Sowjetunion zu hetzen."

Wladimir Iljitsch Lenin (1870-1924) erhebt am 23. August 1915 im "Sozial-Demokrat" "Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa" den Vorwurf von der "Ausraubung von rund einer Milliarde Erdenbewohner durch ein Häuflein von Großmächten". Posadowsky läßt am 17. März 1919 (8) in seiner Rede vor der Nationalversammlung keinen Zweifel, daran, dass der Feind, die Entente, uns nicht nur verwirren will, sondern "wucherisch auszubeuten entschlossen ist". "Das ist ein ungeheuerlicher Raubfrieden," erklärt am 15. Oktober 1920 der Regierungsschef der Russischen Sozialistischen Förderativen Sowjetrepublik vor den Vorsitzenden der Exekutivkomitees der Keis-, Amtsbezirks- und Dorfsowjets, "der Millionen und aber Millionen Menschen, darunter die zivilisiertesten, zu Sklaven macht." Die Entente will," webt am 19. Februar 1920 Linksozialist Heinrich Ströbel (SPD) weiter am geistigen Band der unterdrückten Nationen, "teils aus Rachelust und Konkurrenzneid, teils aus Furcht vor einer Wiedererstarkung des Gegners, Deutschland völlig unschädlich machen: durch wirtschaftlichen Ruin und politische Zerstückelung."

 

 

Revolution und Evolution  zurück

Was ist jetzt zu tun? Posadowsky wartet und vertraut nicht auf Wunder, er nimmt die Sachen lieber selbst in die Hände. Im Unterschied zu vielen anderen Persönlichkeiten aus dem konservativen, alldeutschen, völkischen, deutschnationalen und konservativ-wilhelminischen Lager, lehnt er die Revolution nicht ab.

"Wir sind keine Revolutionäre", hört man von ihm am 7. Oktober 1919 aus dem Parlament, "aber wir sind Evolutionisten."

Das Volk, das ist seine Überzeugung, muss in die Gestaltung und Führung des Staates einbezogen werden. "Zu lange schon hat man gezögert," kritisieren im März 1918 (65/66) die Schicksalsstunden, "diesen aufstrebenden Massen einen entsprechenden Anteil am politischen und öffentlichen Leben einzuräumen." Posa hilft deren Fähigkeiten adäquat in der Öffentlichkeit wahrzunehmen und erklärt: Seit langem entfalten die handarbeitenden Massen eine rege politische und wirtschaftliche Aktivität. "Gerade durch diese Tätigkeit sind aber in den Massen geistige hervorragende führende Kräfte herangebildet, und dadurch ist ihr Wunsch verstärkt, sich in weiterem Umfang öffentlich betätigen zu können. Diese Forderung lässt sich nicht abweisen .…"

Graf von Posadowsky sieht Deutschand, so lautet sein gleichnamiger Aufsatz vom 26. September 1918, "Am Scheideweg" (42 ff.). Die Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts begann wegen zahlreicher Widerstände erst unter dem Eindruck der Kriegsniederlage im Jahr 1918. Noch im Sommer und Herbst des Jahres, stellt Posadowsky fest, lassen Vertreter der großen Parteien, den Anspruch auf Parlamentarisierung der Regierung fallen. Zwar ist es wünschenswert, argumentieren die Alten, wenn man Parlament und Regierung miteinander mehr in Fühlung bringt, wozu es ihrer Ansicht nach ausreicht, die Fachministerien mit Abgeordneten zu besetzen. Ferner streiten die Interessengruppen darüber, ob die Erweiterung des Wahlrechts notwendigerweise zu einer Parlamentarisierung der Regierung führt. In der Wahlrechtskommission des Preußischen Herrenhauses leugnete der Vizepräsident des Staatsministeriums Robert Friedberg (1851-1920), "daß eine Parlamentarisierung der Regierung die notwendige Folge des Wahlrechts sein würde". Die Linken waren damit nicht mehr zu beruhigen und verlangen ohne Umschweife die Einführung der parlamentardichen Regieruing. (Am Scheideweg 42f)

In der Parlamentarisierung erkennt er einen notwendigen und wichtigen Reformschritt, kann jedoch nicht nachvollziehen die vertrauensvolle "Übereinstimmung zwischen Parlamentariern und Regierung", was offiziell als ein Vorzug dieser Form der Machtausübung gepriesen wird, nicht nachvollziehen. Schon beginnt das "Ote-toi que je m`y mette", "Hebe dich fort, damit ich mich an deinen Platz setzen kann." Wie in allen parlamentarisch regierten Staaten pflegen allmählich die eigenen Gesinnungsgenossen ihre eigen Befähigung höher einzuschätzen als ihre ehemaligen Vertrauensmänner und Führer. (Ebenba 44)

Eine "Regierung der Massen" ist seiner Ansicht nach ausgeschlossen, weil sie sich "bei großen politischen Umwälzungen" nur vorübergehend durchsetzen kann; "jedes Land wird schließlich aristokratisch regiert durch die Vertreter von Bildung und Besitz. Das ist in den Republiken nicht anders ...." (Schicksalsstunden 17. März 1918)

Nach 1921 drängt die Geld-, Inflations- und Aufwertungspolitik in sein Gesichtsfeld. Je mehr, desto stärker befremdet ihn die deutschnationale Politik, was sich bis 1925 zum unversöhnlichen Gegensatz auswächst. Sozialdemokrat Hugo Heimann (1859-1951), dessen herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Geldpolitik allgemein nicht bekannt sind, würdigt 1925 Graf von Pasadowsky in der Schrift "Der Kampf um die Aufwertung" (38):

Er war einer der wenigen Experten, die auf der Seite der enteigneten Schichten standen.

Dem deutschnationalen Reichsminister Oskar Hergt (1869-1967) kann man dies wirklich nicht nachsagen. Im Mai 1927 erinnert ihn Posadowsky an sein Versprechen:

"Sobald die Deutschnationalen in der Regierung sein würden, werde innerhalb von vierundzwanzig Stunden ein Aufwertungsgesetz vorgelegt, das eine hundertprozentige Aufwertung bringen werde." "Und dann kam die wahre Gesinnung der Reichstagsmehrheit zutage. Ein sozialdemokratischer Antrag, der die allgemeine Aufwertung der bei den Banken eingelegten Spareinlagen mit mindestens sechsmonatiger Kündigungsfrist und der Einlagen bei den Privatsparkassen verlangte, wurde abgelehnt." (Die Aufwertungsfrage in Deutschland 1927)

 

 

Dunkle Drohungen  zurück

Unlängst erklärte Herr Philipp Scheidemann (SPD) in Kassel, "die Revolution sei mit den Vertretern des alten Regimes so großmütig verfahren, wie noch nie eine Revolution verfahren ist".

 

Max Klinger (1857-1920): Erste Zukunft. Blatt 2 aus "Eva und die Zukunft", Opus III; 1880. Radierung und Aquantinta. Stadtmuseum
Naumburg (Saale)

 

"Ich weiss nicht recht," antwortet Posadowsky am 7. Oktober 1919 in der Nationalversammlung,

"was diese dunkle Drohung bedeuten soll.

Hat er geglaubt, daß es in Ordnung gewesen wäre, wenn die Revolution mit den Personen, die Träger des alten Regimes waren, mit den Beamten und Offizieren, die Kraft ihres Diensteides die Monarchie vertreten haben, so zu verfahren, wie ihr großer Vorgänger, die Revolution von 1789, wie die Jakobiner, von denen der größte demokratische Geschichtsschreiber Frankreichs Taine sagt: "Die Jakobiner bestanden aus Verbrechern, aus Narren und vertierten Taugenichtsen. (Heiterkeit rechts. Zurufe links)"".

Die Monarchie wird niemals wiederkommen", versichert Reichspräsident Friedrich Ebert, worauf Posadowsky am 7. Oktober 1919 in der Nationalversammlung antwortet: "Man soll, wenn man an verantwortungsvoller Stelle, sich hüten, solche prophetischen Erklärungen abzugeben." Wenn der Herr Abgeordnete Scheidemann fordert, "wir sollten uns hüten, die Frage anders zu beantworten als eine religiöse Überzeugung, und daran eine Drohung geknüpft hat, so kann ich den Herrn Scheidemann wiederholt versichern: es war das wirklich nicht nötig.

Wir beabsichtigen nicht einen
18. Brumaire herbeizuführen,

der übrigens nach dem vorrevolutionären Kalender auch ein 9. November war." [Es war der Tag des Staatsstreichs, der das Ende des Direktoriums brachte und Napoléon Bonaparte als Erster Konsul zum Alleinherrscher aufsteigt] " … Vor allen Dingen fehlt uns für einen solchen monarchischen Gewaltstreich, eine Voraussetzung, ein Napoleon der aus einem siegreichen Kriege zurückgekehrt war." (Posa RT 7.10.1919, 2893 f.)

 

 

Rache. Feindbild. Kühlmann-Episode  zurück

Die Kriegsniederlage und Versailles lassen ihn innerlich nicht zur Ruhe kommen. "Für die Feinde Deutschlands" werde der Tag kommen, zitiert ihn 1921 Arthur Crispien (USPD / SPD), "wo "die Rache der Götter" auf sie niederstürze". "Weder die Regierung noch das Volk", davon ist Posadowsky überzeugt, "hat den Krieg gewollt", sondern "ist von unseren offenen und heimlichen Feinden im Stillen jahrelang gegen uns geplant".

Erst kürzlich brach [zurück] in Reaktion auf die Rede von Staatssekretär Richard von Kühlmann (1873-1948) vom Auswärtigen Amt sein Ärger über die Kriegsschuldfrage durch. Es schien so, als wenn er darauf nur gewartet hatte, um am 27. Juni 1918, endlich der Presse mitteilen zu können:

"Bezüglich der Schuld Rußlands am Kriege bin ich doch der Meinung des Herrn v. Kühlmann, England und Frankreich war aber dieser Krieg nicht unwillkommen. Ich bedauere, dass gegenüber den Verleumdungen unserer Gegner unsere Regierung nicht immer prompt geantwortet hat. Durch diese Unterlassung hat sich in den Köpfen unserer Feinde der Aberglaube festgesetzt, dass wir die Schänder der Kultur sind. Die Welt muss dagegen erfahren, welche Verbrechen gegen uns und unseren Gefangenen täglich begangen werden. Dank der deutschen Siege haben sich die Randvölker befreit."

Es ist deshalb ungerecht und empörend, wenn die Alliierten jetzt Deutschland in die Rolle des Kulturschänders drängen.

 

 

Deutschtum  zurück

Posadowsky weist am 15. Januar 1919 in der Reichskronen-Reden daraufhin, dass in der Ostmark die Verhältnisse am traurigsten und gefährlichsten sind. "Unsere Ostmark ist in Gefahr!" verkündet am 5. Februar 1919 im "Naumburger Tageblatt" der Chef des Generalstabes Oberstleutnant v. Hagen. Und weiter:

"Die Hilferufe unserer bedrängten Landsleute im Osten erschallen immer lauter. In großen Teilen der Provinz Posen hausen bereits polnische Banden, die plündernd durchs Land ziehen. Gleiches Schicksal erwartet die Ost und Westpreußen, sowie Schlesien …".
Kameraden! .…
Der greise Feldmarschall Hindenburg selbst …
Eilt herbei! …

Jeder, der moralisch einwandfrei, felddienstfähig und militärisch ausgebildet, melde sich bei seinem Truppenteil, Garnison- oder Bezirkskommando, wo er weitere Auskunft erhält."

Wie dachte Posadowsky darüber?

"Jetzt kommen infolge des Friedensvertrages große gemischtsprachige Gebiete unter polnische Herrschaft oder sind in Gefahr, unter polnischen Einfluss zu kommen …. ", teilt er in "Unsere Auslandsdeutschen" (1919, 100) seine Sorgen mit. In der West- und Ostmark werden viele Deutsche gezwungen sein durch feindliche Anordnung oder durch persönliche Verhältnisse, "ihre bisherige Heimat zu verlassen". Für alle die solchen Bedingungen nicht unterliegen, "sollte es eine heilige Pflicht sein, auf ihrem Posten auszuhalten. Sie sollten sich als Vorposten der deutschen Sache betrachten und stets eingedenk bleiben, dass jeder, der kleinmütig dem Kampf um die Stellung des Deutschtums in jenen gefährdeten Gebieten ausweicht, damit auch die deutsche Zukunft jener Länder preisgibt." Jetzt wird sich zeigen, ob die deutsche Gesinnung nur Festbegeisterung und Redegut auf Versammlung war, oder der Ausdruck opferbereiter Liebe zum Vaterland und zum eigenen Volke." (101) Durch die traurigen Umstände werden viele Deutsche gezwungen sein, das Mutterland zu verlassen, um in fremden Ländern einen neuen Lebensraum zu suchen.

"Die Auswanderung kann deshalb nicht mehr bekämpft, sondern muss planmäßig gefördert werden. Pflicht der heimischen Volksgenossen wird es sein, alle die abgetrennten und in der Welt verstreuten Glieder unseres Volksstammes dem Deutschtum innerlich zu erhalten." (102) "…. um jede deutsche Seele da draußen müssen wir kämpfen; die große deutsche Familie muss sie alle, wo immer sie auch den harten Kampf des Lebens kämpfen, geistig zu umfassen suchen." "Die nächste deutsche Pflicht ist jetzt, dafür zu sorgen, das in den gefährdeten Gebieten keine deutsche Stimme fehlt ...." (103)

[Die Ostjuden-Frage  zurück] Seit 1914 wandern verstärkt Ostjuden nach Deutschland ein. Judenpogrome, der Gegensatz von Juden und Polen und ihre sich deutlich verschlechternde Wirtschaftslage stimulieren im Lauf der Zeit die Abwanderung aus Polen. "Ebenso kommen Russen herüber," lässt am 7. Oktober 1919 Posadowsky-Wehner (11) in der Nationalversammlung verlautbaren, "die hier ganz offen bolschewistisch agitieren. Dieser Zustand darf nicht weitergehen. (Beifall rechts.) Die Grenze muß geschlossen werden. Wir können diese wilde Einwanderung nicht in einer Zeit dulden, wo wir an dem größten Wohnungsmangel leiden, wo wir in den Gefahren der Ernährungsmöglichkeiten stehen."

 

"In Galizien haben die vor kurzem befreiten Polen keine Ruhe, bis sie die Russen auch in der Verfolgung des unglücklichen Volkes der Erde überboten haben." (Originalbildunterschrift)

Vom Selbstbestimmungsrecht der Völker. Judenverfolgung in Galizien und Polen. "Der Wahre Jacob". 36. Jahrgang. Nummer 847, Stuttgart, den 2. Januar 1919, Seite 9624


Kommentar

Die Grenzkontrollen, bekundet Graf Posadowsky am 7. Oktober 1919, scheinen aufgehört zu haben. „Auf der einen Seite flüchtet sich das Kapital ins Ausland, auf der anderen Seite strömen aus Russisch-Polen und aus Galizien Massen von Ausländern herein, die zum Teil auf sehr niedriger Kulturstufe stehen und vielfach verbrecherische Elemente in sich bergen.“  „Wir sehen ferner in unserem Lande die fürchterliche Unsicherheit von Person und Eigentum, Diebstahl, Gewalt .…“ (2895)

"Wir können diese wilde Einwanderung nicht in einer Zeit dulden, wo wir an den größten Wohnungsmangel leiden, wo wir in den Gefahren der Ernährungsmöglichkeiten stehen." (2895)

Graf von Posadowsky, Rede vor der Nationalversammlung. 7. Oktober 1919, Seite 2892 bis 2900

 

In der zweiten Jahreshälfte von 1919 kamen nach Angaben des Arbeitsamtes 6 000 Ostjuden nach Deutschland. Graf Posadowsky verlangt am 29. September 1919 in der Sitzung des Programm-Ausschusses der Deutschnationalen Volkspartei, dass die "Türen und Tore des Ostens" gegen die "verderblichen Einwanderer" endlich geschlossen werden müssen, weil sie das "Deutschtum" verseuchen und die Lebensmittelknappheit verschärfen. Als Parteipolitiker folgt er hier einem Paradigma, dass die Ostjuden potentiell als Revolutionäre darstellen, die undeutsches Gedankengut nach Deutschland bringen, um in Deutschland blutigen Terror wie in Russlandherzustellen. Die Klassifizierung von Menschen und Herabsetzung von definierten sozialen Gruppen durch den Propagandaapparat der DNVP, worauf Hans Dieter Bernd 2004 (108, 188) hinweist, verabsolutiert Urteile, die ideologischen Ursprung sind, nicht aber biologischen Charakter und Intentionen tragen. Graf Arthur von Posadowsky-Wehner war und bleibt Antisemit und -rassist.

Der Schriftsteller Herbert von Eulenburg (1876-1949) protestiert Anfang 1920 in der "Vossischen Zeitung" Wider der böswilligen und gedankenlosen Behandlung der osteuropäischen Juden. Er ist nicht allein, andere treten ihm bei. Zum Beispiel, die "Freiheit" das Organ der Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands. Sie enthüllt am 1. Juli 1920 die Motivationslage für den alldeutsch-antisemitischen Feldzug gegen die Ostjuden. Klar und treffend Es ist ein Eingeständnis der eigenen Unfähigkeit auf dem Gebiet des Wohnungswesens und zur Arbeiterwanderung mit irgendwelchen positiven Vorschlägen aufzuwarten.

 

 

Überfordert  zurück

"Es wäre eine Übertreibung, zu behaupten," blickt 1932 Volk und Regierung im neuen Reich (96) auf die Situation 1918/19 zurück, "dass all das politische Elend, wirtschaftliche und sittliche Elend, unter dem unser Volk leidet, eine Folge der Revolution sei. Die Ursache hierfür liegt in der seelischen, körperlichen und sittlichen Erschöpfung des Volkes als Folge eines 4 ½ jährigen Kriegs, der uns überanstrengt und unsere Widerstandsfähigkeit geschwächt. Die Revolution trägt aber die unzweifelhafte Schuld, dass sie Staat und Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert, den Beamtenkörper und sein dienstliches Pflichtgefühl vielfach gelockert und so den Wiederaufbau des Staates unendlich erschwert hat."

Deutschland das Land und seine Bürger sind überfordert. "Das deutsche Volk hat ungeheure Lasten aufzubringen," rechnet Posadowsky am 9. Juli 1919 in der Nationalversammlung aus Anlass der ersten Beratung zu Steuerfragen vor, "die seine harte Lage noch verschlimmern". Die Jahreslast von 25 Milliarden Mark, die das Land aufnehmen muss, entspricht einem Volksvermögen von 500 Milliarden Mark, dass in Friedenszeiten lediglich auf 300 Milliarden Mark geschätzt wurde. Der Steuerbetrag (25 Milliarden Mark) kann sich noch erhöhen. Bei diesen riesigen Verpflichtungen ist der Ausbau von indirekten Steuern unbedingt geboten. "In der Not der Zeit muss man unter Umständen von grundsätzlichen Auffassungen ablassen; wir sind daher bereit auch in eine sachliche Prüfung der Besteuerrung des Erbes der Kinder und der Ehegatten einzutreten." (9. Juli 1919 / s.a. Lex Stinnes 26. Juli 1924)

Im weiteren Verlauf der Reichstagsdebatte widerspricht Matthias Erzberger Posadowsky´s Behauptung, dass die Kapitalflucht eine Folge der Revolution ist. Vielmehr benutzen besitzende Kreise die Revolution, um Steuern zu vermeiden. Damit stellen sie ihrer Vaterlandsliebe ein trauriges Zeugnis aus. Das Kapital soll für die Volkswirtschaft arbeiten, jawohl.

 

Die Schmach Europas. (Originalbildüberschrift)

 

 

"Früher nannte man diese schöne Gegend Saarabien, jetzt heißt sie Entente-Paradies."
(Originalbildunterschrift)

Die Schmach Europas. "Der Wahre Jacob". Nummer 883. Jahrgang 37. Stuttgart, den 1920, Seite 9994

 

Aber es kommt darauf an, akzentuiert der Reichsfinanzminister seine Aussage, für wen es arbeitet, wer die Gewinne einstreicht. Seiner Auffassung nach wird das Kapitaleinkommen nicht genügend scharf besteuert. Zudem ist die Vergeudung von Heeresgut nicht nur den Arbeiter- und Soldatenräten zuzuschreiben. Aus den Reihen der Unabhängigen kommt prompt der Zuruf: "Die Offiziere haben alles verschoben."

 

 

Farbige Truppen im Land  zurück

Als Abgeordneter der Nationalversammlung interveniert Posadowsky am 19. Mai 1920 nach dem Friedensschluss im Rheinland zusammen mit Parlamentskollegen gegen den Einsatz von "farbigen Truppen" durch Franzosen und Belgier. "Die Deutschen empfinden," heißt es in der Interpellation Nummer 2995 an die Deutsche Nationalversammlung, "diese missbräuchliche Verwendung der Farbigen als Schmach und sehen mit wachsender Empörung, daß jene in deutschen Kulturländern Hoheitsrecht ausüben. …. Ihre Ehre, Leib und Leben, Reinheit und Unschuld werden vernichtet. Immer mehr Fälle werden bekannt, in denen farbige Truppen deutsche Frauen und Kinder schänden, Widerstrebende verletzten, ja töten. ….. Schamgefühl, Furcht vor gemeiner Rache schließen den unglücklichen Opfern und ihren Angehörigen den Mund." "Diese Zustände sind schandbar, erniedrigend, unerträglich."

 

 

 

Die Reichskronen-Rede   zurück

Zu Friedenszeiten genossen die Bürger in der Reichskrone Theater- und Opernaufführungen oder Konzerte. Vorträge fanden hier statt. Man hörte von manch anderen lustigen Beisammensein.

Am 23. November 1918 versammelten sich hier die Bürger zur bis dahin größten Volksversammlung Stadtgeschichte.

Für den 16. Januar 1919, nachmittags 1/2 4 Uhr, kündigt Sr. Erz. von Liebert in der Reichskrone einen Vortrag über Einst und Jetzt an.

Am 14. November 1919, abends 8 Uhr, spricht im Großen Saal auf einer Öffentlichen Frauenversammlung Frau Marie Wackwitz (1865-1930) aus Dresden, die bisher im Raum Weißenfels für die SPD / USPD aktiv, über Frauenwahlrecht und Nationalversammlung.

 

Reichskrone um 1910. Zeichnung.

Zum

15. Januar 1919

lädt der Vorsitzende der Ortsgruppe der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) Naumburg Doktor med. Jebsen zur Wahlkampfveranstaltung in die Reichskrone am Bismarckplatz (Bild) ein. Um 8 Uhr abends referiert Arthur Graf von Posadowsky-Wehner

Über die heutige Lage
und die Aufgaben der Zukunft.

Der an den Seiten in drei Stockwerke untergliederte Große Saal misst in der Fläche 18 mal 22 Meter und ist 13,5 Meter hoch. Der Referent wird im proppenvollen Saal freundlich empfangen. Geachtet und Anerkannt, versteht er sich auf den Streit der Parteien und das Gespräch mit den Bürgern, weicht ihren akuten Sorgen nicht aus. Auf dem Weg zur Tribüne begleitet ihn lebhafter Beifall. Erst am 17. März 1918 verschaffte er sich in der deutschen Öffentlichkeit mit dem Statement Gehör: "Das deutsche Volk fühlt sich um die Hoffnungen auf einen gerechten Frieden, die uns die Revolutionsregierung gemacht, betrogen." Was wird er dazu heute sagen?

 

Wie ist politische Lage in Naumburg?

Eine kleine Gruppe setzt am 8. November 1918 in Naumburg - wie selbstverständlich - ganz ohne Exzesse - um den Maler und Sozialdemokraten Leopold Heinrich die Revolution in Gang. Wann gab es das schon mal in Deutschland? Die politische Welt erschien dem Bürger auf einmal gestaltbar? Vier Tage darauf proklamieren die Volksbeauftragten Friedrich Ebert, Hugo Haase, Philipp Scheidemann, Otto Landsberg, Wilhelm Dittmann und Emil Barth in Berlin: Zensur findet nicht mehr statt. - Meinungsäußerung in Wort in Schrift ist frei. - Für alle politische Straftaten wird Amnestie gewährt. - Ab 1. Januar 1919 gilt der acht Stunden Normalarbeitstag.

Regierungspräsident von Merseburg Wolf von Gersdorff (1867-1949) anerkennt, wie sich allerdings bald herausstellt, nur vorübergehend, die Vollzugsgewalt des am 11. November in Naumburg gewählten Arbeiter- und Soldatenrates. Zwei Tage darauf spricht Fritz Drescher (1904-1982) in der Reichskrone von Naumburg und gibt einen Überblick über die politische Lage. Am nächsten Tag erfolgt die endgültige Feststellung der Personen zur Wahl der Arbeiter- und Soldatenräte. Mitte Januar `19 ist längst entschieden, dass sie nicht die Rolle des Parlaments übernehmen können. Die Revolutionäre sind damit nicht zufrieden.

Am 10. November kehren die ersten Truppen in die Kasernen Naumburgs zurück. "Seid willkommen in Eurer alten Garnison!", begrüßt die Stadt am 26. November 1918 die Heimkehrer. "Ihr kehrt in ein neues Vaterland zurück. Von Grund auf haben sich die Verhältnisse gewandelt." Kaiser Wilhelm II. hat Deutschland verlassen. Und seine treuen Anhänger, deren es in der Garnisonsstadt Naumburg nicht wenige gab - Was wird aus ihnen? Wie reagiert das wohlhabende Bürgertum im Bürgergartenviertel und in den Wohnarealen um die Kadette auf die Revolution?

1910 zählte die Stadt 25 438 Einwohner, zuzüglich 1 400 Militärpersonen und 35 männliche und 51 weibliche Personen vom Gutsbezirk. 1081 Naumburger Männer kehren 1918 aus dem Großen Krieg nicht zurück. Die Gefallenen und Vermissten hinterlassen Kinder, Frauen, Eltern und Freunde.

In den Köpfen herrscht ein großes Durcheinander. Wofür haben wir gekämpft?, fragen die heimgekehrten Kriegsteilnehmer. Sind wir wirklich unbesiegt? Soldatenräte dämpfen und kanalisieren in den Kasernen die aufkommende Kritik am wilhelminischen Sozialverhalten der Offiziere. Wider Erwarten gab es keine materiellen Gewaltakte. In symbolischer Form in unterschiedlicher Art und Weise schon, zum Beispiel um die Rangabzeichen, Grußpflicht und einiges mehr. Sie sind nicht von vornherein als unwichtig einzustufen und zu unterschätzen.

Am 2. Dezember 1918 hebt die Stadtverwaltung das Tanzverbot auf. Es beginnt die Registrierung der Erwerbslosen. Die Ernährungslage ist kritisch. Freiwillige organisieren Kleidung, Lebensmittel und Heizungsmaterial und stellen sie der Bevölkerung bereit. Einige von ihnen begegnen wir nach 1933 wieder, als sie im Gemeinderat und im Parteiapparat der NSDAP sowie den neuen Institutionen verantwortungsvolle Aufgaben übernehmen.

Georg Wilhelm Schiele (Naumburg), Mitglied der Vaterlandspartei, hält im Januar 1918 vor dem Bund der Kriegsgeschädigten einen Vortrag, aus dem die Worte bezeugt:

"Wenn ich auf die heranwachsende Jugend sehe, so lege ich mir die Frage vor, werdet ihr auch wieder zu Hunderttausenden geopfert werden müssen".

Worauf es aus dem Publikum zurückschallt:

"Wir wollen keinen Krieg wieder!"

Nicht laut genug, doch ab und an war es aus dem Volk zu hören: Wir wollen endgültig Frieden mit unseren Feinden.

Unter Leitung der örtlichen SPD tagt in der Stadt ein Gremium zur Schulreform. Die neuen Parteien - DNVP, DDP, DVP, KPD - gründen Ortsgruppen, die personell schwach aufgestellt, organisatorisch ungeübt, ideologisch nach Orientierung suchen, den Erwartungen der Bürger oft nicht genügen. Die Bürgerlichen und Konservativen sind mit ihrer Organisationskraft unzufrieden. Während die Revolutionäre wiederum etwa seit Mitte Dezember 1918 mit dem Scheitern der Arbeiter- und Soldatenräte hadern.

Neue Akteure treten hervor. Wer von den Naumburgern hätte erwartet, dass am 29. November 1918 zur Bürgerversammlung in der Reichskrone über die "Neugestaltung Deutschland auf demokratischer Grundlage" ein gutsituierter Rechtsanwalt für die arbeitende Klasse Partei ergreift? Es war der Paul Hermann (1876-1945) aus der Schönburger Landstraße 5, der, dass Unverständnis der Regierungen für die Lage Arbeiter und Arbeiterinnen beklagte.

In Halle, Kurallee 11, schafft die Verwaltung eine Technische Bezirksdienststelle, die sich um die Registrierung Wiederaufbau der Produktion, also um die Beschaffung von Maschinen in Industrie und Landwirtschaft kümmert.

 

Worüber wird der DNVP-Kandidat für die Nationalversammlung sprechen?

Graf von Posadowsky hebt zum Vortrag an:

"Wir sind militärisch niedergebrochen .... damit brachen wir aber auch politisch zusammen." Unser Volk hat jetzt fast die ganze Welt zum Feinde.

Deutschland baute bekanntlich mit viel Kraft und Geld eine Flotte auf. "Nach dem Ausscheiden des Fürsten Bismarck, fuhren wir mit vollen Segeln in die Weltpolitik. Wir suchten uns eine starke Flotte zu schaffen und einen grossen Kolonialbesitz zu erwerben." Es stiegen die Heeresausgaben. Sich schnell wiederholende Flottenvorlagen wurden damit begründet, "unseren Handel zu schützen. Im Frieden hat unser Handel, ....., des Schutzes einer Schlachtflotte nicht bedurft." - Wir erinnern uns, darüber dachte er einst etwas anders. Es war am 14. Dezember 1899 im Reichstag als er mit Eugen Richter um die Flottenvermehrung stritt. Jemand mit einer "starke(n) Waffe in der Hand", wer seine Überzeugung, wird anders behandelt als der "Waffenlose".

England, fährt die Rede fort, war die deutsche Flotte im Krieg zahlenmässig nicht gewachsen. Die Flotte konnte "keine ihrer Aufgaben lösen". Sie konnte weder unseren Handel schützen noch zur Verteidigung der Kolonien beitragen. Damit nicht genug. Nicht mal die Überführung der Truppen der feindlichen Länder auf die belgischen und französischen Schlachtfelder verhinderte sie. So war die Flottenrüstung völlig umsonst.

"Man kann sehr zweifelhaft sein, ob es richtig war, durch den unbeschränkten U-Boot-Krieg uns die gewaltige wirtschaftliche und finanzielle Macht Amerikas zu offenem Feinde zu machen; die U-Boot-Waffe hatte aber grossen Erfolg, wenn auch nicht den erhofften und in bestimmter Aussicht gestellten Erfolg ...." Besser wäre gewesen, den Bau von U-Booten nicht so zögerlich und spät zu betreiben. Dann hätte "das Resultat des Weltkrieges ein wesentlich anderes" sein können.

Deutschland leitete eine verfehlte Kolonialpolitik. Der Wunsch nach Kolonien erschien oberflächlich betrachtet wirtschaftlich verständlich. "Die Begründung aber, dass wir Kolonien haben müssten, um dorthin unseren Menschenüberfluss abzuführen und dem Vaterlande zu erhalten, war für ein Land wie Deutschland, welches jährlich 1 ¼ Million fremder Arbeiter einführte, um seine Bergwerke auszubauen, seine Fabriken zu betreiben und den deutschen Acker zu bestellen, tatsächlich unrichtig."

"Es würde sich empfehlen, bei den Friedensverhandlungen zu versuchen, unsere Kolonien, teilweise wenigstens, gegen ein geschlossenes Kolonialgebiet einzutauschen."

"Wollten wir erfolgreich Weltpolitik treiben, so durften wir uns bei der Annexion Bosniens und der Herzegowina nicht als Sturmbock Oesterreichs gegen Russland ausnutzen lassen."

"Heute kann kein Zweifel mehr darüber sein, dass diese verfehlte Weltpolitik die Möglichkeit geschaffen hat, einen Ring von Feinden um uns zu schmieden, der schliesslich droht, zur Sklavenfessel für uns zu werden."

Das System des multilateralen Bündnisgeflechts war die entscheidende Ursache für die unheilvolle Entwicklung zum Weltkrieg. Vom Völkerbund erwartet und verlangt er in einer Rede vom Oktober 1918, eine wirksame Verhinderung von Kriegen. Er plädiert dafür, dass die Kriegserklärung nur mit Zustimmung des Reichstages erfolgen darf. In einem parlamentarisch regierten Staat darf, was die Stellung der Regierung stärkt, das nicht anders sein. (Posa RT 23.10.1918, 6202)

Deutschland darf seine nationalen Kräfte nicht überschätzen, lautet eine zentrale Aussage der Reichskronen-Rede. Deshalb muss es der Rüstungs-, Kolonial- und Außenpolitik Fesseln anlegen.

Dass der Referent des Abends sich so forsch den Ursachen des Krieges, was zwangsläufig zur deutschen Flotten-, Welt- und Hegemonialpolitik führt, in der kaisertreuen Stadt Naumburg zuwandte, kam für die Mehrheit im Großen Reichskronensaal unerwartet. Es war der Versuch, aus dem Niedergang, der Isolierung und hoffnungslosen Lage Deutschlands auszubrechen. Folgende Probleme sind jedoch nicht zu übersehen.

[1. Kriegsschuldfrage] Im verschrifteten Referat taucht die Kriegsschuldfrage nicht auf. Wahrscheinlich opferten die Redakteure diese Textpassage der Schere. Denn eine entsprechende Stelle findet sich im Manuskript der Posadowsky-Rede vom 14. Februar 1919 (82) als DNVP-Faktionsvorsitzender in der Nationalversammlung, wo es heißt:

"Wir lehnen es .... ab, die Schuld des Krieges auf Deutschland zu schieben. Wir mögen durch unsere auswärtige Politik an manchen Stellen Verstimmung hervorgerufen haben, ein sachlicher Grund gegen uns Krieg zu führen, lag in keiner Weise vor; die sachlichen Gründe, uns mit Krieg zu überziehen, lagen auf der Seite unserer Feinde."

[2. Überfordert] Daß mit den Kriegsplänen und der Flottenrüstung ü b e r f o r d e r t e  Deutschland, findet nicht genügend Aufmerksamkeit. Zwar erörtert der Redner diese Frage im Zusammenhang mit der Kolonialpolitik, aber sie hätte es vertragen, insgesamt auf die Finanz-, Haushalt- und Geldpolitik des Staates erweitert zu werden.

[3. Deutschlands Verhältnis] "Wir haben die vernünftige Einsicht unserer Feinde überschätzt und ihre Leidenschaften unterschätzt", eröffnet Friedrich Meinecke (1862-1954) in "Deutscher Friede und deutscher Krieg" (55), veröffentlicht am 17. September 1914 in Die Hilfe: Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und geistige Bewegung, sein Plädoye für den g e r e c h t e n  K r i e g. Da ist die "zügellose Leidenschaft des Panslavismus" und der überreizte "Chauvinismus und Rachedurst der Franzosen". Während die "kalt berechenbare Krämerleidenschaft der Engländer" hoffte, "unserem Wettbewerb jetzt ein Ende mit Schrecken bereiten zu können". Diese "trüben und gemeinen Leidenschaften" haben wir durch die "edleren und größeren Leidenschaften eines gerechten Kampfes, eines heiligen Krieges zu überstrahlen begonnnen."

Posadowsky drehte am diesem Abend die alte Walze vom britischen Handelsneid, dem französischen Rachdedurst und russischen Panslawismus ab. Ob nun von Friedrich Meinecke oder anderen entliehen, ist nicht genau zu sagen.

Wollte man das deutsche Verhältnis zu Frankreich und Russland im neuen Licht betrachten, könnte man, trotz Rücksichtnahme auf die massenpsychologische Stimmung des Reichskronen-Publikums, beispielsweise auf die geopolitische Lage Deutschlands um 1870/71 eingehen, als Rußland Rückendeckung für Vereinigung gab und Deutschland sich das Elsaß nahm.

[4. England-Politik] Dass die Flottenrüstung den Wünschen des Kaisers diente, um England in die Neutralität zu zwingen, lässt der Referent beiseite, womit nicht genügend die (Gegen-)Reaktionen auf die deutsche Welt- und Hegemonialpolitik und Veränderungen im Kräfteverhältnis zwischen den Mittelmächten erfasst werden. "Die Entwicklung zum Weltkriege", erhärtet diese Einsicht Paul Rohrbach 191919 in Woher es kam, "geht in ihren Anfängen auf die von uns in den Jahren 1900 und 1901 getroffenen Entscheidungen gegenüber England zurück."

[5. Ablehnung der Weltpolitik] "Ich habe oft bedauert," erklärte Posadowsky im Oktober 1918 zur Weltpolitik, "dass der Reichstag von seinen Machtmitteln nicht entschiedeneren Gebrauch gemacht hat auf den Gebieten, die die Grundlage bildeten für eine meines Erachtens vollkommen verfehlten Weltpolitik." (RT 23.10.1918, 6202) - Ja, aber seinerzeit unterstützte er die Flottenrüstung, ja sogar die Notwendigkeit der Darstellung einer überlegenen Waffengewalt im internationalen Raum, um Ansehen zu erringen und Vorteile, oft als "Notwendigkeiten" deklariert, im Handel zu erreichen. Er ist auf dem Weg, diesen Zweck von militärischer Gewalt in Frage zu stellen und zu ächten. In den nächsten Jahren analysiert er die Folgen von staatlich organisierten Feindbildern und zieht daraus Schlußfolgerungen.

[6. Verhängnisvolle Bündnismechanik] Manchmal blieb er in althergebrachten Schöpfungen der wilhelminischen Weltpolitik stecken. Dann wieder überschritt er sie deutlich, speziell in der Kritik der Bündnismechanik, wenn er einschätzt: Deutschlands Einlassungen gegenüber gegen Österreich-Ungarn im Juli / August 1914 waren nicht klug. Doch Serbien "sollte verschwinden", es stört in den Augen der deutschen Führung in Europa, womit zwangsläufig das Sicherheitsinteresse von Russland initialisiert.

 

Nicht alle Feuer konnte der DNVP-Redner, was in den Tagen der Revolution kaum jemand erwartete, mit einer zweistündigen Rede löschen. So war die Überraschung nicht gar zu groß, als sich tags darauf aus der Zuhörerschaft ein Deutschdemokrat mit einer

"Offene(n) Anfrage an den Grafen Posadowsky"

meldet. Er wirft, wie am 17. Januar im Naumburger Tageblatt zu lesen, der DNVP vor, dass sie bestimmte politische Abteilungen mit dem Schlagwort "Schutzzollfeinde" angreift und auf Versammlungen über Land Bauernfang betreibt. Dies ist deplatziert und weltfremd, weil die Bevölkerung darauf angewiesen ist, dass Lebensmittel und Rohstoffe in das Land fliessen. Um dies zu erhärten, verweist der unerwartete Diskussionspartner auf den Zusammenhang zur sozialen Frage:

"Wir alle wissen, unser Brot reicht nicht bis zur nächsten Ernte und auch später nicht. Unsere Kranken können nur nach langen zeitraubenden Laufereien auf Grund eines ärztlichen Attestes eine weiße Semmel bekommen, dass Kind bekommt nur ganz wenig, der Säugling ungenügend Milch, Fett fehlt gänzlich. Der Krieg hat alle Handelsbeziehungen aufgelöst. Der Feind blockiert uns und die Entente hat`s Wort. Und da wagt es jemand, eine solche Frage aufzuwerfen. Ja, kennen denn diese Leute noch immer nicht die Not der Zeit? Wissen sie allein nicht, dass Hungerrevolten kommen müssen, wenn das Ausland nicht bald und reichlich hilft? Sind diese Leute selbst so satt, dass sie die Not ihres Volkes übersehen?

Herr Graf! Man sagt ihnen nach, dass sie von jeher sich von vielen ihrer Standesgenossen vor allem dadurch ausgezeichnet hätten, dass sie ein Herz für das Volk und Verständnis für die Nöte derselben gehabt hätten, dass sie gewußt hätten, was die Stunde erfordert."

Zum Schluss klärte es sich auf, der Referent gebrauchte die irreführende Formulierung von den "Schutzzollfeinden".

Ungleich wichtiger als diese Kontroverse war, dass Posadowsky am 15. Januar 1919 in der Reichskrone zu Naumburg die deutsche Machtfrage formulierte:

"Volksstaat unter Mitwirkung sämtlicher Klassen unseres Volkes oder sozialistischer Staat unter alleiniger Führung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei".

Vier Tage später finden die ersten Wahlen zur Nationalversammlung statt. Für die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) stimmen national 10,3 Prozent und in Naumburg 21,8 Prozent der Wähler.

 

 

Ergebnisse der Nationalratswahlen vom 19. Januar 1919 in Naumburg Stadt und Land mit Bad Kösen: Posadowsky-Wehner, DNVP: 3.483 Stimmen. Fritz Kunert, USPD: 1.784 Stimmen. Gerlich: 272 Stimmen. Carl Delius, DDP: 4.820 Stimmen. Karl Dietrich, SPD: 183 Stimmen. Adolf Thiele, SPD: 4.948 Stimmen.

 

 

 

Neben der Machtfrage verdient ein zweites historisches Moment der Reichskronen-Rede Würdigung: Die Versammlungsteilnehmer hörten eine ehrliche und tiefgreifende Analyse zur Politik des wilhelminischen Kaiserreichs. Dies war nicht selbstverständlich. "Die Deutschen der Weimarer Republik scheuten sich," erinnert 1987 Wolfgang J. Mommsen (110) an die ansonsten im Ganzen ausbleibende Geschichtsbewältigung in Deutschland, "der eigenen jüngeren Vergangenheit mit offenem Visier entgegenzutreten und waren schon deshalb nicht in der Lage, kritisch mit den Fehlern des Kaiserreichs abzurechnen und daraus die entsprechenden Schlussfolgerungen zu ziehen".

Wozu viele konservative Politiker weder willens noch fähig waren, Graf Posadowsky fand den Mut und schaffte es: Aus Anlaß der bevorstehenden Reichstagswahlen rechnete er in der Reichskrone mit der Welt-, Flotten- und Kolonialpolitik von Wilhelm II. (1859-1941) ab. Nicht in umfassender Weise, wer könnte das? Doch im Geist vereint mit dem reformfreundlichen konservativen Bürgertum, macht er sich auf den Weg in die Republik. Und darauf kam es in dieser Stunde der Geschichte an.

Das wird kein einfacher Weg. Ihm ist klar, die Parteizersplitterung erlaubt es nicht, "eine klare grundsätzliche Politik durchzuführen". Zurzeit ist jede Partei gezwungen, wenn Deutschland nicht in einen geradezu zerrüttenden fortgesetzten Wechsel der Regierung stürzen soll, selbst unliebsame Regierungsbildungen zu stützen. "Eine Partei, die sich dieser Not der Tatsachen nicht fügen will, muss über eine Volksmehrheit verfügen, die zur Herstellung einer anderen Regierungsform gewillt ist; solange diese Voraussetzung fehlt, ist der rücksichtslose Kampf gegen jede Regierung, die den eigenen Parteiauffassungen widerspricht, mehr Wahl- als Staatspolitik." (Posa: Rechts oder links, 182 f.)

 

 

Oppositionsführer in der Nationalversammlung  zurück

Arthur Graf von Posadowsky-Wehner unterliegt am 11. Februar 1919 in der Wahl zum Reichspräsidenten dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert mit 49 gegen 277 Stimmen der Weimarer Koalition (SPD, Zentrumspartei, DDP). Drei Tage darauf hält er als DNVP-Fraktionssprecher im Nationaltheater zu Weimar, dem Tagungsort der Nationalversammlung, die Gegenrede.

 

Das Nationaltheater in Weimar.

 

 

Das Nationaltheater in Weimar. "Der Wahre Jacob". 36.Jahrgang Nummer 850. Stuttgart, 1919, Seite 9647

 

Was kann, was muss der Bürger und Parlamentarier angesichts der tiefen politischen Krise des Konservatismus und desolaten Lage der bürgerlichen Parteien von ihm erwarten? Verheddert sich der Dreiundsiebzigjährige in programmatische Debatten? Oder ufert alles in Anwürfen oder personellen Streitereien aus? Die Parteien müssen, um das Land aus der Krise zu führen, jetzt ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis stellen, forderte am 17. Januar 1917 in Stuttgart Theodor Heuss vor der Deutschen Demokratischen Partei. Darauf ist die DNVP aber nicht vorbereitet. Was kann der Graf in dieser wahrlich historischen Situation vor der Weimarer Nationalversammlung leisten? Er beginnt:

"Wir haben in den letzten vier Jahren Gewaltiges und Furchtbares erlebt, und wie steht es jetzt? Die staatliche und bürgerliche Ordnung ist auf das schwerste gestört und fortgesetzt gefährdet." Die Staatsfinanzen sind schwer in Unordnung. Das Verkehrswesen liegt danieder. Unsere Ernährung ist bedroht. Das Wirtschaftsleben ist gelähmt. Die Waffenstillstandsbedingungen lassen alle Gerechtigkeit vermissen. Als Staatsform muss sich die Demokratie in Deutschland erst bewähren. Unversehens tauschten die Sozialdemokraten 1919 beim Aufbau der Republik den Widerspruchsgeist zum Klassenstaat gegen den grenzenlosen Glauben an die heilende Wirkung der Legalität demokratischen Handelns. Daß bei einem Großteil der regierenden Linken hierzu kein ausreichendes Problembewusstsein bestand, gehört zu den tragischen Umständen des politischen Fortschritts dieser Jahre.

Im alten System erblickt er weder einen Obrigkeitsstaat noch staatliche Gewaltherrschaft. Ja bitte, spricht der Oppositionsführer die Regierung freundlich an, es gibt keinen Staat, der auf eine Obrigkeit als Führungsschicht verzichten kann, bildet sie doch die "Grundlage jeder kultivierten Staatsverfassung". Aus dem Saal hört man jetzt Rufe wie: Kastenregierung, Obrigkeitsstaat, Junkerherrschaft. Flugs notiert er den Genossen auf der Regierungsbank den Merksatz ins Poesiealbum:

In Deutschland war es möglich aus den niedrigsten Schichten bis in die höchsten Funktionen des Staates aufzusteigen.

Bezogen auf ihre Karriere als Abgeordnete, mag er es getroffen haben, nicht aber mit Blick auf die Gesellschaft als Ganzes. "Die Regierung machte ausgiebig von ihrem Recht Gebrauch," skizziert 1987 John C. G. Röhl (147), "qualifizierte Kandidaten aus politischen oder anderen Gründen abzulehnen." ".... in der Praxis wurden mehr als die Hälfte aller Bürger aus Gründen, die nichts mit ihrer Befähigung zu tun hatten, ausgeschlossen."

[Zweikampf Posadowsky-Juchacz   zurück] Im angeblichen "Zustand der Freiheit", klagt er der Nationalversammlung, müssen wir "gewaltsame Eingriffe in die Rechtsordnung erleben. Fortgesetzt werden Gesetze verletzt, die Presse wird durch Gewalt unterdrückt, Versammlungen werden gesprengt, die freie Meinungsäußerung wird unterdrückt." Unter der neuen Freiheit registrieren die Bürger, beanstandet der Oppositionsführer, "gewaltsame Eingriffe in die Rechtssphäre". Reichspräsident Ebert sprach hier von "Kinderkrankheiten". "Es mag sein", lenkt er etwas ein, "aber diese Kinderkrankheit dauert nun schon drei Monate, und das finde ich etwas lang." (14.2.1919, 83) Ein typischer Einwurf, der erkennen läst, dass die Frage der Demokratie sich jetzt in der Einhaltung des Rechts und Pflege des Rechtsbewußtseins bewähren muss.

Marie Juchacz lässt ihm die Angriffe nicht durchgehen und stellt die Frage, wo war den Pressefreiheit während des Krieges? Eine durchschlagende Wirkung erzielt sie damit nicht, schließlich gehört sie als SPD-Abgeordnete zur politischen Hintergrund-Abteilung des Kabinetts Scheidemann, bestehend aus Zentrum, Deutsche Demokratischer Partei, einem Parteilosen und SPD (also: 7 SPD, 3 Zentrum, 3 DDP, 1 Parteiloser).

Keine Partei existiert und arbeitet ohne Ideologie. Den Konsequenzen muss die ParteiGenossin huldigen. Hingegen erkannte Posadowsky früh die Deformationskräfte der Parteien und entzog sich ihnen so gut er konnte. ".… Was sind parlamentarische Reden wert, wenn nicht Staatsweisheit dahintersteht und ein sittliches Rechtsbewusstsein?", fasst er seine Erfahrungen am 27. Februar 1929 als Abgeordneter den Preußischen Landtag zusammen. In der Politik, dass ist seine Überzeugung, muss die Wahrheit unbedingt leitender Grundsatz sein. Ihm wird unheimlich, wenn er daran denkt, dass "parlamentarische Politiker" "aus wahltaktischen Gründen, häufig zu sehr auf wechselnde und irrende Volksbestimmungen zu hören" pflegen, "statt unter Umständen auf Gedeih und Verderb auch gegen den Strom anzugehen." (1932, 227)

Wesentlich ungünstiger verläuft für Posa der Zweikampf in der Runde zum Junkertum. Sofort trumpft die SPD-Frau auf: "Was ist unter Junkerherrschaft zu verstehen? (Lachen bei den Soz.) Das weiß alle Welt (Sehr richtig!) ...." Ihre Frage deutet auf die Schwäche im Vortrag hin und läuft in der Anklage zusammen: "Der Einfluss der Junker war stets stärker, als er ihnen zahlenmäßig gebührte." (Juchacz) Als Sozialistin erwartet sie eine durchdachte Haltung zum Junkertum. Posadowsky pflegte mit ihm keinen geistig liederlichen Umgang. Ein Junker-Knecht wäre kaum in der Lage den Ersten Hauptsatz der Sozialpolitik zu formulieren. Er trat ihnen in der Frage des Zolltarifs auf den Hühneraugen rum, schilderte im April 1902 Franz Mehring in "Posadowskys Osterfahrt" sein Engagement. Warum verteidigt er sich nicht aktiv? Es entsteht der Eindruck, dass sich der Oppositionsführer kampflos dem Angriff von Marie Juchacz ergibt.

Eine neue Runde im Zweikampf läutet Posa`s Frage ein: Warum musste Deutschland die Bedingungen des Waffenstillstandes annehmen?, worauf Frau Juchacz antwortet: "Weil dieser Krieg durch ihre Politik bis zum moralischen Zusammenbruch unseres Volkes geführt hat." Wahr ist, Posadowsky trat für den Siegfrieden ein. Würde er verwirklicht, kostete dies tausende Menschenopfer. Doch an der Politik bis zum moralischen Zusammenbruch, war die Sozialdemokratie, wie der Fall Paul Lensch zutage förderte, beteiligt und mitverantwortlich. Prompt verschluckt die SPD-Abgeordnete nun einige klärende Worte. Doch es ist bekannt, "Erst nach dem Ausbruch der russischen Februarrevolution griff Scheidemann unter dem Druck der in Bewegung geratenen Arbeiterschaft die russische Formel "Keine Annexion und Kontributionen" auf und propagiert sie nachdrücklich, daß sie von nun an zur Bezeichnung eines "Verzichts" diente." (Fritz Fischer 150)

[Kriegsschuldfrage   zurück] Dann biegt die Rede zur Kriegsschuldfrage ein. "Wir lehnen es .... ab," stellt er in unnachgiebiger Tonlage fest, "die Schuld des Krieges auf Deutschland zu schieben." "Dieser Krieg ist aus dem übelwollen unsere Feinde fast automatisch entstanden. Nur aus diesem verschiedenen Gründen konnte sich dieser Ring bilden, der jetzt allerdings droht, für uns zu einer wahren Sklavenfessel zu werden. Ich halte es aber für die größte Ungerechtigkeit und Lüge, wenn unsere Gegner fortgesetzt wiederholen: Deutschland hat den Krieg gewollt. Deutschland hat den Krieg nicht gewollt, weder die deutsche Regierung nicht das deutsche Volk. (Lebhafte Zustimmung rechts)"

Ansonsten darf man im außenpolitischen Teil der Weimarer-Rede, den über die Aufgaben der Opposition weit hinausreichenden Versuch sehen, dass allgemeine deutsche Staatsbewußtsein zu stabilisieren. Wohl deshalb spendeten auch ab und an die Sozialdemokraten lebhaften Beifall, beispielsweise als er sagt:

"Frei will das deutsche Volk seine Kräfte entfalten, frei nach innen und frei nach außen zum Wohle seiner selbst und zum Wohle der Menschheit."

[Exkurs: Spitzen beschneiden  zurück] "Den Luxus," worauf Wilhelm Keil (1870-1968) besteht, "der bisher von einer kleinen Oberschicht unseres Volkes betrieben worden ist, kann sich unser verarmtes Volk in der Zukunft nicht mehr gestatten und nicht mehr ertragen." "Besonders auf dem Gebiet der Steuergesetzgebung werden wir Gelegenheit bekommen, sozialistische Gedanken zu vertreten," kündigt frohen Sinnes 1919 der SPD-Finanzexperte im Reichstag an. Wir stehen auf diesem Gebiet vor geradezu gigantischen Aufgaben und notwendigen Veränderungen, war doch die Kriegssteuerpolitik unbestreitbar "eine verfehlte, nicht nur, weil sie den Grundsätzen der Gerechtigkeit nicht entsprach, sondern weil mit der Schonung, die sie dem Besitz gewährte, eine kriegsverlängernde Wirkung verbunden war." Noch am selben Tag wie Posadowsky trat der SPD-Reichstagsabgeordnete an das Rednerpult und veranschaulichte zügig, wie sich das die SPD vorstellt:

"Die wirtschaftliche Lage unseres Volkes erfordert, dass mit der Steuergesetzgebung die Spitzen oben beschnitten werden, so etwa wie man bei den Bäumen die Spitzen beschneidet, damit der Unterbau nicht verkürzt."

[Dreiklassenwahlrecht  zurück] Weiter fließt die Weimarer Rede des Fraktionsvorsitzenden der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und erreicht das Thema Demokratie.

Posadowsky fällt der Abschied vom preußischen Dreiklassenwahlrecht nicht leicht. Noch am 7. Oktober 1919 (5) erklärt er vor der Nationalversammlung, dass die konstitutionelle Monarchie die beste und sicherste Staatsmaschine sei. "Wir hatten also in Deutschland das freieste Wahlrecht, das man in Europa kennt ....".

Typisch für die Konservativen ist ihre Frage, ob das allgemeine und gleiche Wahlrecht wirklich den Volkswillen abbildet? Und wenn, ist es dann eine geeignete Grundlage für staatspolitische Entscheidungen? Thomas Mann warnt 1918 in den Betrachtungen eines Unpolitischen (394) vor dem demokratischen Votum: "Eine mechanisch demokratische Abstimmung im dritten Kriegsjahr würde mit kläglicher Wahrscheinlichkeit eine erdrückende Majorität zugunsten eines sofortigen und bedingungslosen, dass heißt ruinösen Frieden ergeben." Mitnichten verkörpert deshalb das Prinzip der Volksabstimmung (280 ff.) den Willen des Volkes. Als Ersatz für demokratische Idee fungiert hier die Bismarcksche Fürstenversammlung von 1870, eine Form von verstaatlichter Demokratie, wo es am Ende nur auf Eins ankam:

"Der Wille eines historisch aufstrebenden Volkes soll übereinkommen mit seinem Schicksal."

"Kein Volk eignet sich so wenig für die parlamentarische Regierungsform," behauptet Posadowsky 1920 in Der starke Mann (18),

"wie das deutsche mit seinem ausgeprägten politischen und sozialen Individualismus, der unaustilgbar zu sein scheint."

Dies könnte den Eindruck erwecken, als wenn er der Demokratisierung und Parlamentarisierung distanziert oder ablehnend gegenübersteht, was jedoch nicht der Fall ist. Zur Demokratie gehört nach seiner Überzeugung der Wille und das Bewußtsein eines rechtsstaatlichen Umgangs mit dem politischen Gegner, wozu er sich bereits 1911 in seiner Bielefelder-Rede bekannte. Überdies äußern sich in anderen Zusammenhängen Züge seines demokratischen Bewußtseins.

Allerdings verschwimmen, was die differenzierte Darstellung seiner Auffassungen etwas erschwert, in seinen spontanen Äußerungen und Reden nach 1918 zu Demokratie und Wahlrecht öfter mit den parlamentarischen Erfahrungen der Kaiserzeit. Trotzdem ist gut erkennbar, dass er sich nach der Revolution auf den Hintergrund der Debatten zur Reform des Wahlrechts im Reichstag und im preußischen Abgeordnetenhaus das Dreiklassenwahlrecht endgültig verabschiedet.

[Hauptsache keine kommunistischen Experimente  zurück] Bereits im Dezember `18 dünkt ihn, der "bevorstehende Friede droht uns mit fürchterlichen Prüfungen". Er meint damit nicht "Versailles", sondern eine kommunistische Steuergesetzgebung, eine Vorstellung, die ihn innerlich in Panik versetzen kann. Denn sie läuft seiner Überzeugung der Erfahrung zuwider:

"Nimmt man den Menschen durch eine kommunistische Gesetzgebung und ein ebensolches Erbrecht den Ansporn, sich wirtschaftlich emporzuarbeiten, so versperrt man damit allen Tüchtigen die freie Bahn und lähmt das gesamte Wirtschaftsleben." (13.1.1913)

Das "müsste schließlich den Niederbruch des Kulturlebens für alle Schichten der Gesellschaft herbeiführen". Man darf, warnt er, das Kapital nicht "wegsteuern". Andernfalls würde dies "schließlich den Niederbruch des Kulturlebens für alle Schichten der Gesellschaft herbeiführen". Aber das Kapital darf auch nicht flüchten und sich der nationalen Verantwortung entziehen. Die finanziellen Heilmittel liegen seiner Meinung nach in der Vereinfachung der Staatsregierung, "in der Streichung aller Ausgaben, die nicht auf erworbenen Rechten beruhen" (Weltwende 52).

Vor 1918 herrschte nach seiner Ansicht nicht der Militarismus, doch ist er jetzt in Gestalt der Arbeiter- und Soldatenräte "in der weitesten Form zur Macht gelangt". Hauptsache, so leutet seine Devise,

"keine kommunistischen Experimente"

Die Arbeiter- und Soldatenräte, die "fortgesetzt in die lokale Verwaltung" eingreifen und zur "Desorganisation" beitragen, sind unerwünscht. Wir wollen keine Zustände wie in England, äußerte er bereits am 17. Januar 1896 der Reichstagssitzung. "Dort wollen die organisierten Arbeiter bestimmen, wen der Unternehmer zu beschäftigen hat. Das kann kein Vorbild für uns sein. Dann ist ja der Besitzer der Fabrik nicht mehr Eigenthümer der Fabrik, sondern die Fabrik ist Kollektiveigenthum." Die Arbeiter und Angestellten in größeren Betrieben solen auch ein Organ haben", das ihre Rechte in geordneter Weise vertritt. (Posa RT 7.10.1919, 2898) Das Betriebsrätegesetz ist vernünftig, doch dürfen die Arbeitnehmer nicht "in die Art des Betriebes selbst hineinsprechen können, dass ihnen die Bilanzen vorgelegt werden müssen." Maximal unbeliebt machte er sich bei den Arbeitern mit seiner Haltung zur Akkordarbeit und widersprach ihren Erwartungen: Sie kann "in Großbetrieben nicht entbehrt werden, und wenn man das Schlagwort geprägt hat: "Akkordarbeit- Mordarbeit", so trifft das für Deutschland nicht zu." (2895)

Die Vergesellschaftung der Betriebe ist für den DNVP-Frontmann eine Frage, ob dadurch "die Produkte billiger und besser gestaltet" werden können. Es dürfe keine "unsinnigen Lohnsteigerungen" geben, weil das zur Inflation führt. Drohungen gegen das "arbeitslose Einkommen" sind volkswirtschaftlich gefährlich und zersetzend, denn die Betriebe benötigen dringend Kredite und Investitionen. Deshalb darf man das Kapital nicht wegsteuern.

 

Unter  F ü h r u n g  von Arthur Graf von Posadowsky-Wehner will die Fraktion der Deutschnationalen Volkspartei in der Nationalversammlung helfen, die wirtschaftliche Katastrophe abzuwenden. "Wir werden daher", sichert der Oppositionsführer zu, "an der Wiederaufrichtung des Vaterlandes sachlich und gewissenhaft mitarbeiten. Den gewaltsamen Umsturz haben wir jederzeit verurteilt und halten auch jetzt …. an dieser Auffassung fest." Teile der DNVP-Führung, Mitglieder und ihre Multiplikatoren lassen sich davon nicht leiten. Im März 1920 organisieren sie den  Kapp-Putsch oder beteiligen sich aktiv daran.

 

Posadowsky gerät über die Frage zur Ausschreibung der Wahlen für den neuen Reichstag in Streit mit den Sozialdemokraten. Als die Verfassung beschlossen, argumentiert er, hat die Nationalversammlung ihre Aufgabe erfüllt, weshalb sie nur, so der öffentliche Tenor, etwa im Februar, März oder April tagen sollte. Jetzt arbeitet sie schon weit darüber hinaus, kritisiert er am 9. Juli 1919 (1426) im Reichstag. Wir, die Deutschnationalen, "würden es für unverantwortlich halten, wenn man so ganz stillschweigend die Nationalversammlung in den Reichstag konvertierte." Zunächst, so scheint es, eine Marginalie, die sich zu einem Problem auswächst.

 

Am 5. November 1919 tagt in den Thaliasälen von Halle, Geiststraße 42, der 1. Landesparteitag der Deutschnationalen Volkspartei. Exzellenz Generalleutnant Lothar von Trotha hält die Eröffnungsansprache. Neben Rektor Hermann aus Naumburg und Arthur Graf von Posadowsky-Wehner, der zu Verfassungsfragen spricht, sind weitere bekannte Persönlichkeiten als Referenten erschienen, zum Beispiel der Russland-Experte Professor Otto Hoetzsch (Russland als Gegner Deutschlands) und Kuno Graf von Westarp.

 

 

 

Posadowsky und die konservative Ideologie  zurück

Wer wollte sich nach Gaskrieg und Verdun dazu aufschwingen, den Staat als eine die Vernunft entfaltende Idee, der Recht von Unrecht scheiden kann, anzuschauen? Nach dem verlorenen Krieg bricht in Deutschland das System bürgerlicher Werte zusammen. Die wilhelminische Staatsidee, Kernbereich konservativen Denkens, ist im Ganzen moralisch abgeschrieben. An dessen Stelle schiebt sich das Völkische. Die Konservativen, ahnt Theodor Heuss 1919, haben uns über das neue Reich nichts mehr zu sagen. ".... und das Vaterländische zu einer Spielart der Parteimeinung zu machen, dürfte doch nach diesem Krieg nicht mehr erlaubt sein." (Heuss 19.1.1919, 870). Ein Irrtum, wie sich bald herausstellen wird. Aus der im Bürgertum verbreiteten Unsicherheit im Umgang mit der deutschen Kriegsniederlage und Wut auf den Versailler Vertrag entsteht und stabilisiert sich der Völkisch-soziale Block und die Deutschnationale Volkspartei Partei (DNVP), die von den Vaterländischen Verbänden unterstützt werden.

Sind das im Verständnis von Posadowsky die neuen Konservativen? Oftmals tut man so, als ob die Frage problemlos zu beantworten wäre. Ebenso oft redet man aneinander vorbei. Um nicht  Missverständnisse hochkommen zu lassen, ist es zweckmäßig, die Facetten, Wesensart und Werte des konservativen Weltbildes und Denkens kurz zu rekapitulieren:

Der Zusammenhalt des Ganzen, ist zu garantieren. Dann heißt es oft verharren, festhalten, erhalten und verteidigen. Temporär oder regional treten, zum Beispiel beim 1893 gegründete Bund der Landwirte, weitere Werte, wie "Volksgemeinschaft", "gesundes Volksempfinden" und "Blut- und Bodenmythen" hinzu.

Gehorsamkeit ist wichtiger als Widerstand. Autorität, nicht Majorität!, heisst es bei Friedrich Julius Stahl (1802-1861).

Der Stolz auf die Nation und die Wertschätzung des Staates steht über jeder Kritik.

Die Ungleichheit bleibt ein unantastbares Gut.

"Gut oder schlecht, regiert muss werden," lautet ein beliebter Wahlspruch der Konservativen. Mit dieser Methode können "die Konservativen seit Jahrzehnten alle Forderungen für Heer, Flotte und Kolonien bewilligen." (Ludwig Frank 1911, 21) - Georg Schiele (Naumburg) hängt daran die apodiktische Behauptung, dass die konservative Partei oder der konservative Teil des Volkes, der einzig regierungsfähige ist. "Er allein fühlt die Verantwortung für den Schutz des Landes nach außen und auch der Ordnung im Inneren, er allein hat Verständnis für die Nöte einer Regierung ...." (1897, 12).

Arbeiter und Unternehmer stehen idealerweise in einem pietätvollen und paternalistischen Verhältnis.

Einige klassische Normen des konservativen Denkens, wie der Stolz auf die deutsche Nation oder das pietätvolle Verhältnis, verinnerlichte Posadowsky. Entscheidend ist jedoch, was er im Oktober 1919 in der Nationalversammlung ausführt: "Wir müssen es auch ablehnen, das wir immer mit der alten konservativen Partei identifiziert werden. …. Meine Herren das lehnen wir ab. Ich habe nie der alten konservativen Partei angehört, und bin gegenwärtig Vorsitzender der Deutschnationalen Fraktion." (Posa RT 7.10.1919, 2898)

Trotzdem ist damit sein konservativer Typus noch immer nicht hinreichend beschrieben. Eine Möglichkeit, und vielleicht die letzte überhaupt, diese Schwierigkeiten zu überwinden, bietet die Erarbeitung einer genetischen Definition. Zu diesem Zweck müssen vermittels eines kurzen Beobachtungsprotokolls die Aktivitäten der verschiedenen Richtungen und Schattierungen des Konservatismus, seine Werte, Ambitionen und politischen Ziele, beschrieben werden, um dann zu erkunden, welche Konzepte oder Impulse er überhaupt aufnimmt und woran er sich beteiligt? Auf welche Wertorientierungen stützt er sich und von welchen grenzt er sich ab? In der Arbeitsphase der Analyse verdichten sich die Ergebnisse - hoffentlich - zu einem begrifflichen Verständnis des konservativen Denkens.

[Das Dritte Reich  zurück] Einen Ansatz zur Überwindung der Identitätskrise des konservativen Denkens entwirft und popularisiert 1923 Arthur Moeller van den Bruck (1876-1925) mit der Idee des Dritten Reiches. Eudomisten und Opportunisten versicherten ihn zu seiner großen Verwunderung, dass dieses bereits aus den Trümmern des 9. November hervorgegangen ist. Warum, fragt er, sind dann die Parlamente lediglich Sprechart des politischen Lebens, statt Tatwort zu sein?

Das kann also nicht sein! Und er zerpflückt im Brief an Heinrich von Gleichen vom Dezember 1922 diese Erzählung. Wer öffentlich politisch tätig sein will, der muss sich den Parteien anschließen. So schaffen diese Organisationen den Parteienmenschen und verleiben sich den politischen Menschen ein, weshalb Moeller van den Bruck sie weltanschaulich zertrümmern will. An ihre Stelle tritt die Idee vom Dritten Reich. Posadowsky lehnt die konservative Revolution ab, betrachtet indes die Arbeitsweise der Parteien kritisch, stärkt aber aus der Einsicht für die Konstituierung des Parlamentarismus ihre gesellschaftliche Stellung.

Mit der Französischen Revolution kommt die Welt zum Sieg, schreibt 1972 (11) Armin Mohler, die der "konservativen Revolution" eigentliche Gegner ist, weil sie nicht "das Unveränderliche im Menschen" "in den Mittelpunkt stellt, sondern glaubt das Wesen des Menschen verändern zu können". Ein Anschluss an die Konservative Revolution durch Posadowsky ist insoweit ein kleines Stück vorstellbar, weil er die gesellschaftspolitisch radikalen Tendenzen der Französischen Revolution ablehnt. Sein Ziel ist die Unveränderlichkeit der Verhältnisse, sondern ihre soziale und ökonomische Entwicklung. Diese Menschen- und Gesellschaftsbild gründet auf ein dem konkreten ökonomischen Niveau der Produktivität der Arbeit angemessene stufenweise Höherentwicklung der sozialen Welt. Bei der Dienstbarmachung der Kräfte der Natur zum Besten der Menschheit misst er den Natur- und Technikwissenschaften eine herausragende Rolle zu. Die Höherentwicklung der Gesellschaft gilt ihm durch die Überzeugung von der Beständigkeit der Naturgesetze und der Akkumulation des natur- und technikwissenschaftlichen Wissens als verbürgt.

[Deutschlands als Erzieher der ganzen Menschheit  zurück] In den "Betrachtungen eines Unpolitischen" (257) lockt Thomas Mann die Konservativen auf einen anderen Irrweg. Er behauptet, der Deutsche ist "kein Figurant, kein soziales oder politisches Tier im Sinne der Franzosen". Er ist ein "Charaktermensch" (Mann). "Die deutsche Nation kann keinen Charakter im Sinne der anderen Nationen haben, da sie sich durch die Literatur, durch Vernunftbildung zu einem Weltvolke generalisiert und geläutert hat,

in welchem die gesamte Menschheit
ihre Lehrer und Erzieher anzuerkennen beginnt."

Es ist eine höchst befremdliche konservative Weltbetrachtung am Ende des Weltkrieges, der Posadowsky die Verbeugung verweigert.

[Völkisch-alldeutscher Konservatismus  zurück] Die Synthese von kanonisierter Wehrhaftmachung, Forderung nach der Revision europäischer Verhältnisse und Verdammung des Westens bildet im Kraftfeld der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) um Georg Schiele in Naumburg eine weitere Abteilung der Konservativen in völkisch-alldeutscher Tracht. Sie ist politisch nicht konsens- und gesellschaftsfähig, charakterisiert sie im Jenaer Volksblatt vom 29. August 1928 Posadowsky als Politik der krassesten Widersprüche.

 


Der Schrittmacher. Der Wahre Jacob. 53. Jahrgang. Stuttgart, den 3. Dezember 1932, Seite 3


[Glühende Vaterländer   zurück] Zusammen mit den Vaterländischen Verbänden und wilhelminischen Generälen feiert am 11. Mai 1924 der Stahlhelm in Halle zum Deutsche Tag die Einweihung des Moltke-Denkmals. Wir sind wieder wer!, lautet die Botschaft des Marschblocks der 100 000 für Europa auf der Rennbahn . Jetzt beginnt der nationale Befreiungskampf und Umbau "zu einer Festung nationaler Ordnung" (Naumburger Tageblatt). Überall schwarzweißrote Fahnen und Blumen, Reichswehruniformen, Spielleute, Kommandeure und Wilhelms Generäle. Ein Grossfeldversuch für weitere Aufmärsche. Der sozialpsychologische Kompressions-Effekts formt die Bürger zu einer gedanklich trägen und einsichtslosen Masse, der ihren individuellen Willen und die Fähigkeit zur Einsicht schwächt, zugleich aber ihre Suggestibilität als Masse steigert, bis die Vernunft-Kraft des Einzelnen bricht und der Rausch beginnt. Sie lieben nicht den Triebverzicht, lautet 1927 die Diagnose von Sigmund Freud in Die Zukunft einer Illusion (241). Unvermeidliche Argumente überzeugen sie nicht. Vielmehr bestärken sie einander im Gewährenlassen ihrer Zügellosigkeit.

Wollte Posadowsky etwa daran teilnehmen? Natürlich nicht, denn er sympathisiert nicht mit den republikfeindlichen Umtrieben des Stahlhelms und lehnt dessen Ziele und Machtambitionen ab. Er will eine stabile europäische Ordnung schaffen und die Feindbilder zwischen den Nationen abbauen.

[Nationalbolschewismus   zurück] Eine weitere Variante des Konservatismus dieser Zeit war der Nationalbolschewismus, dessen Narben in Naumburg und Umgebung mit dem historischen Blick noch immer sichtbar sind.

Das Löwendenkmal. Aufnahme 2009.

Die Firma Philipp Holzmann A.G. aus Frankfurt am Main installiert 1926 unweit der Rudelsburg das Löwendenkmal. Es ist 14 Meter lang und 10 Meter hoch. Daneben befinden sich Gedenktafeln. Das Monument,
nach einem Entwurf von Professor Hermann Hosaeus (1875-1958), erinnert an die Gefallenen des Kösener Senioren-Convents-Verbandes (KSCV).

Im Umfeld der Einweihung des Löwen-Denkmal zu Ehren der gefallenen Korpsstudenten am 16. Oktober 1926 unweit von Bad Kösen, waren nationalbolschewistische Töne zu hören. Von Schmerzen gepeinigt, bäumt sich der Steinerne Löwe brüllend gegen den Westen auf. - Unter den Ehrengästen, die zu diesem Anlass reichlich erschienen, war Posadowsky nicht zu sehen.

Ziemlich unerwartet stand die antiwestliche Bewegung nach der deutschen Revolution 1918/19 vor der Frage des Klassenkampfes. Konnte er vielleicht ein Durchgangsstadium zum Neubau der Nation sein? "Mit oder gegen Marx zur Deutschen Nation?", lautet die zentrale Frage über die der III. Reichskongresses der Kampfgemeinschaft revolutionärer Nationalsozialisten (KGRNS) am 8./9. Oktober 1932 zum Treffen auf der Leuchtenburg bei Kahla verhandelte. Adolf Reichwein schlug mit dem nationalen Sozialismus die Brücke zu den Nationalrevolutionären, die letztlich eine nationalsozialistische Oppositionsbewegung um Strasser war. Auch in Naumburg an der Saale hörte man den Ruf der "Schwarzen Front". Ihre "antitotalitäre Haltung" wollte "der realen Interessenpolarität in der Gesellschaft durch Repräsentation der Ansprüche der Unterschicht Ausdruck" verleihen. Das Besondere war, analysierte 1960 Wolfgang Abendroth (183), dass sie nicht die Beherrschung anderer Völker durch ein imperialistisches Deutschland anstrebte. Vereint vom Geist unterdrückter Nationen, kamen Vertreter von 140 Ortsgruppen der NSDAP, SPD, KPD und Jungendorganisationen zur Leuchtenburg.

Mit dem Nationalbolschewismus liebäugelten Mitglieder der streng nationalen Familie und des Stahlhelms, einige Völkische, Alldeutsche und Nationalkonservative aus dem Heer. Den "Blick nach Osten" richten Freikorps-Männer, Revolutionäre Nationalsozialisten oder der Leuchtenburg-Kreis (1932). Nicht jedoch Posadowsky! Der bolschewistische Umgang mit dem Eigentum in der Sowjetunion und das brutale Verbot der Religionsfreiheit waren ihm höchst Suspekt.

Motive des Nationalbolschewismus finden sich im Oktober 1929 im Widerstand gegen die Unterjochung Deutschlands durch den Young-Plan. Es war eine strategische Idee von Georg Schiele, die in exklusiven Kreisen antiwestliche Stellungen revitalisierte.

 

Ultralinks und ultrarechts. "Der Wahre Jacob". Berlin, den 7. Juli 1928. Grafiker Jacob Beisen

 

[Reaktionär-konservativer Kulturkampf zurück] Im Frühjahr 1930 organisiert die NSDAP-Ortsgruppe Naumburg den "Kulturkampf am Domgymnasium". Die Bannerträger der heldischen Weltauffassung finden sich in Naumburg (zum Beispiel) im Nationalsozialistischen Schülerbund zusammen. Um den verderblichen Einfluss der großstädtischen Literatur zurückzudrängen, ist zum 23. März 1930 in den Ratskeller von Naumburg Parteigenosse Papenbrock aus Weimar zum Vortrag einbestellt. Pflichtgemäß wetterte Friedrich Uebelhoer, später NSDAP-Kreisleiter und Oberbürgermeister von Naumburg, gegen die schmutzigen Machwerke der Judenliteraten und den Marxismus. Ging es nach ihnen, sollte der Kampf um Macht bald beginnen. Noch floß genügend heldisches Blut durch die Adern der Deutschen. Der phallische einzelne Held sah sich gern in sturmumbrauster Schlacht und genoss im Rausch des Kampfes den Tod. Es begann, was wenige Jahre später sich zum allmächtigen Topos der nationalsozialistischen Erziehungsideologie mauserte, die Entpersönlichung des Schülers durch Standardisierung des staatlich erwünschten Charakterbildes, dem später als politischen Bürger das Aufgehen in der Masse ein inneres Bedürfnis ist. Das war absolut mit dem Welt- und Gesellschaftsbild und den von Graf Posadowsky bekundeten Erziehungszielen der Jugend unvereinbar.

 

1932 entdeckt Doktor Andreas Grieser (1868-1955) seine Fähigkeit,

die konservativen Ideen und Werte,
organisch mit dem Fortschritt

verbinden zu können.

Für Posadowsky heisst "konservativ" nicht, "die Interessen und Überlieferungen einer Gesellschaftsklasse dauernd festlegen, konservativ im echten und staatsmännischen Sinne heißt vielmehr: den Staat und die Gesellschaft entsprechend den Anforderungen und Bedürfnissen der Zeit organisch fortzuentwickeln, damit allen Klassen der Bevölkerung die Überzeugung erhalten bleibt, dass der geschichtlich gewordne Staat nicht nur eine innere Notwendigkeit, sondern auch die höchste Wohltat für alle Gesellschaftsklassen ist." (Grieser 1932, 6) Auf diese Weise übernimmt der Staat den Schutz vor der Revolution, womit sich eine zentrale und fundamentale Erwartung der Konservativen erfüllt.

Es ist zu verstehen und zutreffend, wenn die SPD "Volksstimme" aus Magdeburg am 25. Oktober 1932 im Rückblick auf das Schaffen von Graf Posadowsky feststellt:

"Mit seiner konservativen Gesinnung
behielt er einen klaren Blick für die Aufgaben."

 

 

 

Abkehr von der deutschnationalen Politik

 

Krisenbewältigung  zurück

Jetzt müssen die Folgen des Krieges bewältigt werden. Die positiven Ergebnisse der Revolution müssen institutionell implantiert und in der Verwaltung umgesetzt werden. Die Reichstagswahlen vom 6. Juni 1920 nimmt Posadowsky erleichtert auf, da sich die Deutsche Volkspartei (Gustav Stresemann, Rudolf Heinze) entschließt, der neuen Regierungsform beizutreten. Dem zollt er Lob und Anerkennung. Den Drehpunkt der Regierungsgeschehen verkörpert das Zentrum. Wohltuend daran für ihn, die sie begleitende Abneigung gegen radikale Wirtschaftsexperimente. Die rechtsstehende Deutschnationale Volkspartei (DNVP), repetiert er in "Rechts oder links" (1920), ist in die Gruppe Regierungsbildung nicht einbezogen. Entscheidend ist, "nur wenn unsere innere Staatsverwaltung

das Vertrauen der Welt wieder erwirbt,

wird der Wert unserer Banknoten und damit ihre Kaufkraft wieder steigen. Hier muss die Heilung beginnen." (Totes Rennen 12.6.1920) Mit der Deutschnationalen Volkspartei ist dies, erkennt Posadowsky, nicht realisierbar.

 

 

Gegen die antisemitische Aufheizung  zurück

Die Deutschnationale Volkspartei, der Graf Posadowsky von 1919 bis etwa 1920 angehörte, war stark von antisemitisch denkenden Politikern und Personen durchsetzt. Dagegen steht seine Erklärung vom 18. Januar 1912 auf einer Wählerversammlung im großen Volkshaussaal (Bild) zu Jena:

"Wer wirklich auf christlichen Boden steht, der muß wahre Toleranz üben gegen jede Religion und jede Konfession (….). Ich gestehe das ganz offen, dass ich deshalb ein Gegner der antisemitischen Agitation bin (….)."

Gegen die antisemitische Aufheizung der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) unternahm Doktor Max Naumann (1875-1939), 1922 bis 1932 Herausgeber der Zeitschrift Der nationaldeutsche Jude" eine bemerkenswerte Attacke. Im Dezember 1921 rief der von ihn geleitete Verband nationaldeutscher Juden zur Versammlung, wo nichtjüdische Deutsche aus allen Lagern eingeladen und sehr willkommen waren. Es erschienen unter anderen der deutschnationale Friedrich von Oppeln-Bronikowski (1873-1936), der sich energisch gegen den antisemitischen Rummel in der Partei wandte und scharfe Kritik an Ludendorff übte. Ebenso wollten einige andere die antisemitische Agitation nicht mitmachen, darunter der Abgeordnete Ritter, Clemens von Delbrück (1856-1921) und Arthur Graf Posadowsky-Wehner. Aber, instruiert am 10. Dezember 1921 der Vorwärts (SPD) seine Leser, "das geistige Wesen der Deutschnationalen wird .... nicht von Delbrück und Posadowsky präsentiert, sondern von [Reinhold] Wulle [1882-1950]."

 

 

Krise des konservativen Denkens  zurück

Infolge des verlorenen Krieges war der Untergang der wilhelminischen Staatsidee und Ansehensverlust konservativer Gesellschaftspolitik unabwendbar. Wer von ihren Politikern wollte sich nach dem Gaskrieg und Verdun dazu aufschwingen, den Staat als eine die Vernunft entfaltende Idee anzuschauen, der Recht von Unrecht unterscheiden konnte? War doch der "Staat als das Vernünftige" zur Maschine geworden, die nur noch mit dem Recht auf den Erhalt des Ganzen klagend, den Mord und Totschlag organisierte, was des einzelnen Opfers und die Vernichtung einschloss. Das war die reale Existenz des Staates als die "Wirklichkeit der sittlichen Idee" (Hegel). Ehre, Treue, Nation und Staat geraten schwer ins Wanken. Untertanengeist, Etikette oder Standesdünkel gelten bald als Gesten von Gestern. Viele Nationalkonservative, erklärt Gustav Stresemann im April 1919 in "Zur Lage der Nation", überwinden die wilhelminische Denkweise nicht und lehnen oftmals das demokratische Weltzeitalter ab. Nicht Posadowsky. Eine Hürde, die er ohne zu reißen überspringt. Trotzdem schaut man, was sein Verhältnis von Demokratie und Staat betrifft, nach dem Zweiten Weltkrieg anders, kritisch auf ihn. Bis heute warten wichtige, durch ihre Arbeit anerkannte, namhafte Institutionen und Publikationsorgane mit dem Fehlurteil vom "Gegner der republikanischen Staatsordnung" auf.

 

 

Die liberale Wende  zurück

Demokratie und Liberalismus bedingen und setzen einander voraus, grenzen sich deutlich voneinander ab, bilden einen Widerspruch in sich. Kommentieren wir es mit Gustav Radbruch Rechtstheorie, dann heißt das: "Nach [klassischer] demokratischer Auffassung stellt .... der Einzelne seine vorstaatliche Freiheit restlos zur Disposition des Staatswillens, des Mehrheitswillens, um als Entgelt dafür nur die Möglichkeit zurückzuerhalten, sich an der Bildung dieses Mehrheitswillens zu beteiligen." Hingegen verlangt der Liberalismus für den Einzelwillen die Möglichkeit, sich unter Umständen gegen den Mehrheitswillen zu behaupten. (Vgl. Radbruch 67) Exakt dieses Anliegen verfolgt Posadowsky, wenn er nach der Revolution 1918/19 dem sprunghaft wachsenden Bedürfnis nach demokratischer Mit- und Selbstbestimmung beim reformfreudigen Staatsbürger, Geltung verschaffen will.

"Sie sind unfähig, den Begriff der Nation mit der Freiheit zu vereinigen," wirft Thomas Mann den Deutschen in einem Vortrag am 29. Mai 1945 vor, "was immer wieder dazu führte, dass ihr Freiheitsdrang in Unfreiheit endete." So war es nicht. Es gab diese Versuche. Einen unternahm Arthur Graf von Posadowsky-Wehner mit der Hinwendung zum liberal-konservativen Gesellschaftskonzept modernen Typs. Das erfolgte in Teilschritten, beginnend während seiner Tätigkeit als Reichstagsabgeordneter, intensiver, als er die Deutschnationale Volkspartei nach dem Kapp-Putsch (1920) verlässt, gedrängt und inspiriert von den aktuellen Ereignissen: Versailler Vertrag (1919), Wahlen zur Nationalversammlung (Januar 1919), Kapp-Putsch (1920), Ermordung von Matthias Erzberger (26. August 1921), Streikbewegung (1923), Ruhrkrise (1923), Hyperinflation (1923) nebst Aufwertungsgesetzgebung und Fürstenentscheid (1926).

Erste Überlegungen, Regungen und Ideen sind in dieser Richtung noch während seiner Tätigkeit als Reichstagsabgeordneter auszumachen. Intensiver werden diese Bemühungen, als er 1920 nach dem Kapp-Putsch die Deutschnationale Volkspartei verlässt. Den Zenit erreicht sein republikanisches Engagement im politischen Ringen um eine volkswirtschaftlich vernünftige Geldpolitik, denn die Aufwertungsgesetze "sind ja nichts anderes als Ausführungsverordnungen mächtiger wirtschaftlicher Gruppen" (Posadowsky PLT 27.2. 1929, 4195) Freiheit, Republik, Demokratie, Nation und Verfassungsstaat bilden das Fundament seiner Gesellschafts- und Staatstheorie, dass alle Bürger in einem gemeinschaftlich zu schaffenden Staatswesen integriert und die

"Grundrechte des Menschen" (Posadowsky-Wehner)

achtet und wahrt.

In der Eigentumsfrage stützt er sich nach 1918 auf rechtspolitische Normen und gesellschaftspolitische Vorstellungen des kontinentaleuropäischen Liberalismus: Die Freiheit des Individuums forderte die Sicherung des Eigentums und gleichzeitig seine Begrenzung im Interesse der Entwicklung des (bäuerlichen) Mittelstandes und Begrenzung der "häßlichen Geldaristokratie" (Rotteck). Hier ordnet sich ideologische Kollision mit Minister Hans Schlange-Schöningen (1886-1960) am 23. Januar 1932 im Preußischen Landtag zur Unverletzlich des Privateigentums ein. Degtaisls dazu unten im Abschnitt zu Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Eigentums?)

Er will der Unterdrückung des Bürgers durch den Staat und die Regierung vorbauen und wirksam begegnen. Ebenso sieht er im Terror der Mehrheit gegen die Minderheit Gefahren. Es sind Momente, die in der deutschen Demokratietheorie und -praxis oft eine neben- und untergeordnete Rolle spielen, wohl aber aus der utilitaristischen Lehre des John Stuart Mill in Über die Freiheit (1859) hergeleitet werden können. Die in dieser Frage von ihn vertretenen rechtspolitischen Leitideen, erinnern an die später von Karl Löwenstein (351) inaugurierte moderne Verfassungstheorie mit dem Lehrsatz:

"Die wirkliche Demokratie ist zur gleichen Zeit auch der Schutz der Minderheiten und zwar selbst der Minderheiten, die unpopuläre politische Meinungen vertreten. Nach den demokratischen Grundsätzen ist die Ächtung irgendeiner politischer Auffassung, was immer auch ihr unterstelltes, vorgegebenes oder wirkliches politisches Ziel sei, unzulässig …."

Viele Gleichgesinnte aus der Kaiserzeit können oder wollen ihm da nicht nacheifern. Warum sie sich abwenden oder einfach nur zurückbleiben, ist oftmals nicht klar, weil die Gründe aus den vorliegenden Quellen nicht extrahierbar sind. Ob die liberale Wende der Grund war oder ob sie sich schlicht schon an seinem sozialpolitischen Reformeifer im Interesse von Werkmann und Werkfrau störten oder gar abgestoßen fühlten, ist oft nicht entscheidbar. Wenn er gezielt gegen die Inflations- und Aufwertungspolitik ins Feld zieht, gegen verschiedene Facetten einer auffällig unvernünftigen Politik protestiert, sie auf parlamentarischen Wege angreift, so bedeutet dies - was bisher oft übersehen - die Erneuerung liberaler Prinzipien und ihrer Philosophie. Ein nicht geringer Teil seiner persönlichen Schwierigkeiten nach 1919 rühren daher, dass eben diese als Handlungsorientierung ihre Geltung verlieren oder von der politischen Öffentlichkeit nicht genügend Anerkennung erfahren.

 

 

 

Weltwende  zurück

1920 veröffentlicht der Walter Hädecke Verlag in Stuttgart sein Buch "Weltwende". Eine Aufsatzsammlung zu aktuellen und drängenden politischen Fragen, dass mit philosophischem Impetus verfaßt und, wo es paßt, heftige Schläge gegen den Zeitgeist führt. Kontinuität und Umbruch, Bewahrung und Reformeifer ringen miteinander.

Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs ordneten viele sein politisches Denken einfachheitshalber in die Schublade Konservativ ein, was damals die allgemeine Ablehnung der parlamentarischen Demokratie bedeutete und mit dem Vorwurf "Reaktionär" verschwamm. Das widerspricht nicht nur seiner Staats- und Verfassungstheorie. Bereits während der Revolutions- und Umbruchzeit unterstützt er das Konzept der Massendemokratie, die mit der klar und öffentlich formulierten Wertschätzung der "handarbeitenden Massen" (Posadowsky) verkettet.

Seine Lehre von Staat und Recht stützt sich auf geistesgeschichtlich erworbene Grundsätze der liberalen Staatstheorie, der Trennung von exekutiver und legislativer Macht und den Verfassungsstaat. Das sagt sich so leicht. War es denn nicht aber so, wie wir es aus vielen seiner Äußerungen bereits erfahren mussten, dass sein Verhältnis zu Preußen recht traditionell war, also in Richtung Heinrich von Treitschke tendierte, das herrliche Staatsideal, dem alles zuströmt. Es ist der Glaube verbreitet, heißt es noch 1918 im Aufsatz "Schicksalsstunden" (64), dass die preußische Regierung und der preußische Landtag "seit Jahrzehnten hinter den Aufgaben der Zeit zurückgeblieben", worauf das innere Recht der Forderung gegründet, die preußische Staatsverwaltung grundsätzlich umzubauen und insbesondere den Landtag auf breitere Grundlage zu stellen. Er nennt es "Glaube", nicht notwendige "Aufgabe". Daraus könnte man schließen, dass er den institutionellen staatlichen Wandel scheut, was aber nicht zutrifft.

 

 

Zur Reparaturbedarf der parlamentarischen Demokratie  zurück

Preußen steht Ende 1918 vor der unaufschiebaren Aufgabe, das Dreiklassenwahlrechts zu überwinden und das System der demokratischen Legitimierung der Regierung zu installieren. Entscheidend ist, dass das Wahlrecht seine "nationale Aufgabe" erfüllt. Selbst die Gegner müssen anerkennen, notiert Posadowsky am 1. März 1919 im Manuskript zur Innere(n) Reichspolitik (73), dass "unter der Herrschaft dieses Wahlrechts" zu einer gewaltigen Kulturarbeit kam. Dass das Dreiklassenwahlrecht große Gruppen von Bürgern von der Mitbestimmung ausschloss, die Wahlkreisaufteilung und Berechnung der Sitze interessengebunden war, dazu will er sich in diesem Moment nicht äußern, mahnt aber am 7. Oktober 1919 (2898) in der Nationalversammlung als Fraktionsführer der Deutschnationalen Partei Verbesserungen am republikanisch-demokratischen System an. Verschiedentlich geschah das auch vor 1918, wobei allerdings überzogene nationalistische Erziehung und ihre Folgen nicht ausreichend zur Sprache kamen.

Dabei ist typisch wie er jetzt im Oktober 1919 zur Debatte um die palamentarische Demorkatie einsteigt: "Wir hören jetzt so viel von Republik von Demokratie, von Freiheit. Aber Republik, Demokratie und Freiheit sind doch nicht Selbstzweck, sondern die, welche diesen Begriff fortgesetzt im Munde führen, wollen doch damit behaupten, dass in diesen politischen Formen, das Volk besser bestellt ist als in der alten Staatsform; diesen Beweis muss die neue Regierung erst erbringen."

Er bringt sich in die Debatte mit den folgenden Erfahrungen und Vorschlägen ein:

• Politische Vorstellungen, wie "wir müssen einen starken Mann haben!", "und dieser muss dann Sozialdemokratie an der Gurgel fassen", lehnte er strikt ab und erlag in den zwanziger Jahren - nicht wie viele andere - dem Führer-Kult. - 1899 fielen in einer Generaldebatte des Reichstags die Worte vom "starken Mann". "Wenn ein solcher starke Mann in Deutschland existirte," erklärt Posadowsky, "so wünschte ich, daß er in diesem Hause recht bald zum Vorschein käme (große Heiterkeit). …. Dieser starke Mann würde nämlich sehr bald die Erfahrung machen, dass man eine Partei, wenn sie einer Regierung auch noch so unsympathisch ist, in einem Rechtsstaate nur behandeln kann auf Grund der bestehenden Gesetze (sehr richtig!); und daß man Gesetze in einem konstitutionellen Staate nur machen kann mit der Volksvertretung (sehr richtig!) ….." (Posa RT 13.12.1899, 3350)

Stimmungsmache, Sprüche klopfen und Kampfrhetorik, was das Wahlvolk sonst noch so liebte, war bei seinen Wahlkampfauftritten zu Reichstagswahlen am 12. Januar 1912 im Raum Bielefeld zu beobachten, ist nicht nach seinem Geschmack. Effekthascherei mochte er ebenso wenig wie die Absonderung nach Volksgunst haschende Gemeinplätze. Von den üblichen Wahlkampfszenarien der richtigen Signale hielt er nicht viel. Nachdenkswert sind folgende Aussagen zur Wirksamkeit der üblichen Vorträge im Reichstag:

"Im allgemeine haben Reden auch nur eine geringe suggestive Kraft. Ich glaube nicht, daß jemals z.B. der Herr Abgeordnete von v. Kardorff überzeugt worden ist durch eine Rede des Herrn Abgeordneten Bebel, wenigstens glaube ich nicht, daß er jemals anders gestimmt hat; und so glaube ich auch umgekehrt nicht, daß der Abgeordnete Bebel durch eine Rede des Herrn Abgeordneten von Kardorff ins seiner Ansicht oder Abstimmung wesentlich beeinflusst wird. Es kommt eben nicht so sehr darauf an, was zur Begründung oder Bekämpfung einer Vorlage gesagt wird, sondern wie durch die gesetzgebende Versammlung im Wege der Gesetzgebung den geistigen, wirtschaftlichen und politischen Bedürfnissen des Landes genügt wird, und wie die Gesetze im Lande demnächst ausgeführt werden." (Posa RT 12.12.1905, 238)

• In einem Aufsatz vom 1. März 1910 befasst er sich mit Fragen der inneren Reichspolitik. Bei den Verhandlungen zum Wahlrecht sind Stimmungen spürbar, die dem föderativen Geist nicht zuträglich. Gegensätze und widerstreitende Interessen, berichtet er, sind im Reich reichlich vorhanden. Ein zu starkes partikuläres Selbstinteresse, wie etwa bei den Verhandlungen über die Schifffahrtsabgaben, ergeht die Warnung, könnte die bereits vorhandenen Reibungsflächen vergrößern. Noch bedenklicher ist die Stimmung zur Änderung des preußischen Wahlrechts. Immerhin haben die auf Grundlage dieses Wahlrechts gewählten Körperschaften, "noch stets die Mittel gewährt", "welche zur Verteidigung unseres Vaterlandes zu Land und zu Wasser notwendig waren", weshalb seine Gegner endlich anerkennen sollen, - fordert er - dass unter der Herrschaft des bisherigen Wahlrechts "in Deutschland auf gesetzlichem und wirtschaftlichem Gebiete eine ungeheure Kulturarbeit geleistet wurde".

Etwas unerwartet kommt, dass er hier unkritisch über das vom Reichstag organisierte System zur Finanzierung der Flottenrüstung und Kopplung von Militär- und Haushaltspolitik hinweggeht. Und die Finanzpolitik im Dienste des Krieges? - 1913 Wehrbeitrag, 1916 Kriegssteuer und 1918 außerordentliche Kriegsabgabe.

• In einem Aufsatz von 1910 über die "Innere Reichspolitik" verweist er aus Anlass der Auflösung des Reichstags im Winter 1906 auf die Stabilität und Brauchbarkeit des Wahlsystems. Was zur parlamentarischen Krise führte, flechtet er ein, war nicht wirklich das Versagen der Mittel zur nationalen Verteidigung. Ihm scheint es nicht gerechtfertigt, wenn man das Reichstagswahlrecht als eine für Deutschland verfehlte und schädliche Einrichtung darstellt. Die Reformer, wendet er ein, sind wahrscheinlich kaum in der Lage "ihre Gegnerschaft in gesetzgeberische Beschlüsse zu übertragen".

• "Zu all diesen symptomatischen Äußerungen und verschleierten Stimmungen," illustriert die Innere Reichspolitik, "kommt noch die bekannte Erklärung des Reichstages, dass der König von Preußen …." Es war nicht die "Erklärung" des Reichstages, sondern die Äußerung des Reichstagsabgeordneten

       von Elard von Oldenburg-Januschau (1855-1937),

vom 29. Januar 1910, die im Hause enorme Unruhe erzeugte und auf Unverständnis traf. Konkret handelte es sich um den Passus:

"Ja, meine Herren, das ist auch eine alte preußische Tradition …. Der König von Preußen und der Deutsche Kaiser muß jeden Moment imstande sein, zu einem Leutnant zu sagen: Nehmen Sie zehn Mann und schließen Sie den Reichstag." (Oldenburg RT 29. 01.1910, 898)

"Wer den gesamten Inhalt der Verhandlung und insbesondere jener Rede vorurteilfrei von der Hitze des politischen Kampfes unbeeinflusst liest," kommentiert Posadowsky, "muss zugestehen, daß die Äußerung nur ein Beispiel für den unbedingten Gehorsam des Soldaten gegenüber der Allerhöchsten Kommandogewalt geben sollte, und daß es eine arge Übertreibung ist, in jener Äußerung eine Aufforderung zum Verfassungsbruch zu erblicken. Trotzdem ist ein solch drastisches Beispiel schon deshalb höchst gefährlich, weil es, wenn auch nur theoretisch, die Möglichkeit zulässt, dass der höchste Vertreter von Recht und Gesetz einen Befehl erteilen könnte, der gegen die Grundverfassung des deutschen Reiches verstieße." (Posa 01.03.1910, 72 bis 76)

Der Parlamentarismus wurde oft missbraucht. Das bereitet ihm Sorgen. Es gab genügend Gegner der Sozialgesetzgebung, die sich, um ihrem Standpunkt Geltung zu verschaffen, im Reichstag unlauterer Mittel und Methoden bedienten. "Die fortschreitende Belastung durch die Sozialpolitik hat vielmehr geheime Gegner, als man denkt. Glauben Sie nicht," zitiert ihn 1925 Siegfried Aufhäuser (1884-1969), "wenn die schönsten sozialpolitischen Anträge gestellt werden, dass man deshalb auch immer den sehr energischen Willen hat, dass sich diese Anträge zu Gesetzen verdichten sollen. Es wird manches getan aus taktischen Gründen und nicht aus dem tief innerlichen Gefühl der Pflicht heraus, die wir gegen unsere Mitmenschen, insbesondere gegen unsere wirtschaftlichen Schwachen Nebenmenschen, haben."

Das parlamentarische System beruht auf der Parteiendemokratie. Sie ist durch ein überbordendes Parteiinteresse in Form "maßloseste[r] und finanziell unverantwortliche[r] Wünsche" gefährdet.

"In einer Republik, in der man den Staat als große Versorgungsanstalt betrachtet, wo man gestützt auf weit verzweigte Interessenverbände rücksichtslose Interessenpolitik treibt und von dem schwer bedrängten Staate immer neue Vorteile zu erkämpfen sucht, wo man zwar fortgesetzt Sparsamkeit fordert, gleichzeitig aber Parteiinteresse maßloseste und finanziell unverantwortliche Wünsche vertritt, wo versteinerte Parteiauffassungen schließlich jede vernünftige stetige Staatsverwaltung unmöglich machen, da fehlt die u n e n t b e h r l i c h e   G r u n d l a g e  d e r  V o l k s h e r r s c h a f t, der seiner Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen bewusste Bürgersinn." (V&R 115, Hervorhebung im Zitat vom Autor.) Die Radikalen verlangen die Volkssouveränität. Die führt nach Posadowsky`s Überzeugung in die "Despotie rein materialistischer Massentriebe" (Demokratie, 8.12.1921).

Ihn stimmt skeptisch, dass die (neuen) Abgeordneten in der täglichen Arbeit, ihre eigene politische Befähigung stets höher einschätzen als die ihrer ehemaligen Vertrauensmänner und Führer.

Ein Kryptoparlament räumt den Mehrheitsparteien das Recht der Ministerberufung ein, ohne dass sie die volle politische Verantwortung der Regierung tragen. Das ist ein bedenklicher Zwitterzustand, der zu Schwäche und Unsicherheit im Entschluss führt. (Am Scheideweg, 26.9.1918, 45) 1926 zweifelt er im Aufsatz im Lichte der Wirklichkeit daran, ob der Parlamentarismus fähig ist, "eine Regierung zu bilden, die sich auf eine sichere Mehrheit stützen kann."

Der fortgesetzte Wechsel der Mandatsträger wirkt oft nicht positiv, entweder, weil sie gar nicht über die nötige berufsmäßige Vorbildung verfügen oder weil sie keine Zeit haben.

Auf dem 20. Evangelisch-Sozialen Kongress vom 1. bis 3. Juni 1909 in Heilbronn kritisiert er die Personalrekrutierung. "Nicht die Befähigtsten und arbeitsfreudigsten," ist seine Befürchtung, "sondern die finanziell am besten repräsentieren, könnten in Zukunft gewählt werden."

Besorgt trägt er 1920 in Der starke Mann (16.4.1920, 119) vor, dass die "Überdemokratisierung" die staatliche Arbeit behindert. Er versteht darunter, das es die Regierung nicht wagt, einen Beschluß zu fassen, ohne wenigstens die Parteiführer der Mehrheit zu hören. "Man kennt die Zufälligkeit solcher Fraktionsbeschlüsse, die von der wechselnden Anwesenheit ihrer Mitglieder abhängen." Eine zielbewußte Staatsverwaltung ist so unmöglich.

Der November `18 war, moniert er in seiner Rede als Oppositionsführer vor der Nationalversammlung in Weimar, ein "Schlag gegen die Religion selbst". Doch die Kirche darf nicht wie ein Privatverein behandelt werden, denn sie ist eine "tausendjährige öffentliche Korporation".

• Als einen schweren Nachteil demokratischer Geflogenheiten erlebte er die "Freundlichkeit". "Glauben sie mir," bezeugt er am 8. März 1909 auf der Tagung der Gesellschaft für soziale Reform, "daß nicht alle Anträge, und wenn sie noch so schön klingen, immer ernst gemeint sind. (....) Es ist auf keiner Seite soviel Heuchelei als bei einer gewissen politischen Freundlichkeit. Manches wird getan aus taktischen Gründen und nicht aus sittlichem, tiefem Gefühl der Pflicht gegenüber den Volksgenossen." (Zitiert nach Hoch RT 25.02.1927, 9246)

 

Im Rahmen der liberalen Erneuerung der Gesellschaft und der im Grundsatz demokratisch verstandenen Weltwende, entfaltet er fast einen mythischen Hang zur Modernen, bleibt aber trotzdem ein Konservativer. Viele irritiert Das, ihnen ist unerklärlich, wie ein Konservativer so etwas tun kann. - Er kann! Die Wandlung ist anstrengend und begleitet von der Zuwendung zu neuen Arbeitsfeldern der Finanz-, Geld- und Verfassungspolitik. Ihm liegt die Förderung und Stabilisierung der ökonomischen Lage des wirtschaftlich selbständigen Mittelstandes am Herzen, der schwer unter den Inflations- und Aufwertungsgesetzen leidet. Er fordert Rechtsgleichheit, Selbstbestimmung, Koalitionsfreiheit, Herrschaft des Gesetzes (rule of law), Sicherung des Eigentums, Machtbegrenzung und den Verfassungsstaat. Für verschiedene Komponenten liegen bereits Reparaturanforderung vor, zum Beispiel: Kontrolle übermächtiger wirtschaftlicher Gruppen, keine Begünstigung der Schuldner durch die Inflations- und Aufwertungsgesetze und die Abschaffung von ungerechten und unsittlichen Gesetzen. Es sticht die harte Konfrontation mit der Eigentumsfrage hervor, deren Erörterung in den Oberabschnitt "Die anstrengende Republik" verlegt wird, was darauf hindeutet, dass sie kein temporäres Problem der Deutschen Revolution und der Reichstagswahlen vom Januar 1919 war und sich schließlich nicht irgendwann von selbst erledigte. Im Gegenteil, mit der Inflations- und Aufwertungspolitik brandete sie erst richtig auf. Auf dem Weg von Recht und Gesetz sucht Posadowsky nach Möglichkeiten sie im Sinne liberaler Grundsätze und Werte gerecht und gleichzeitig volkswirtschaftlich effektiv zu gestalten.

 

 

Die Zeit verlangt
Selbstzucht und entbehrungsreiche Einsicht  
zurück

Das Getöse des politischen, militärischen und wirtschaftlichen Zusammenbruchs verzieht sich langsam. In Zeitungen liesst und in Versammlungen hört der Bürger jetzt öfter den Ruf nach einem Führer. Der Wunsch, nach einem weitblickenden und selbstsicheren Staatsmann, der über die Kraft verfügt, eigene Wege zu gehen, mag bei flüchtiger Beurteilung verständlich sein. Nur ist das oft nicht gemeint. Geboten wird nicht selten eine verdorbene Frucht des wilhelminischen Militarismus. Oder ein Residuum krankhafter Verarbeitung von Fronterlebnissen. Noch nicht in dem Mass und Organisiert in einer Partei wie Ende der 20er Jahre, doch immerhin gesellschaftlich akkreditiert, weiter popularisiert durch Parteien und die Vaterländischen Verbände, präsentiert der Führerkult die Lösung für das künftige deutsche Staatsleben:

Ein willensstarker Staatsmann könnte die staatliche Vollstreckungsgewalt wiederherstellen und so den richtigen Weg zum Wiederaufbau weisen. Er soll auf Grundlage der Gesetze handeln, die in einem konstitutionellen Staatswesen nur mit Hilfe einer Volksvertretung entstehen sollen.

Das klingt noch nicht nach Diktatur. Trotzdem warnt Posadowsky am 16. April 1920 vor solchen Vorstellungen im Aufsatz "Der starke Mann":

"Wenn man mit dieser Sehnsucht den harmlosen Glauben verbindet, dass es innerhalb des deutschen Volkes auch nur einen Mann gebe, der wie mit einem Zauberstabe unsere unsäglichen äußeren und inneren politischen Schwierigkeiten nur durch die Kraft seiner eigenen Persönlichkeit überwinden, unser schwer krankes Wirtschaftsleben heilen und unsere Finanzen wieder auf gesunde Grundlage stellen könnte, so entbehrt diese Hoffnung jeder sachlichen Einsicht."

Darin verwoben sind "Wahnvorstellung vor der Macht einer Regierung und von staatsrechtlichen Möglichkeiten".

Im Umgang mit der Staatsmacht bedarf es mehr Augenmass. Überhöhte Erwartungen an den Staat helfen nicht weiter. "Das schwer heimgesuchte Deutsche Reich kann sich nur wieder aufrichten durch rastlose Arbeit, wirtschaftliche Beschränkung und eiserne Sparsamkeit." (Deutschlands Erneuerung 25.12.1918, 61) Die Bürger, das ist die Konsequenz, dürfen den Staat nicht mit überhöhten Idealen und Erwartungen überfrachten:

"Das Ziel selbst kann aber nur durch die politische Selbstzucht und entbehrungsstarke Einsicht einer Reihe von Geschlechtern erreicht werden. Ein Volk, das in allen Kreisen seiner Gesellschaft fortgesetzt mit selbstsüchtigen Forderungen an den Staat herantritt, aber gleichzeitig die nötigen Machtbefugnisse des Staates in Zweifel zieht oder offen bekämpft, wird dieses Ziel nicht erreichen; der hervoragende Staatsmann müßte sich in diesem leidenschaftliche Kampfe mit politischer Roheit und persönlichem Eigennutz aufreiben." (Der starke Mann 114)

Hierin spiegeln sich die Erfahrungen des erfahrenen Politikers, die im politischen Alltag ab etwa 1928 im Feld der demokratischen Legalisten und des Regierens mit Notverordnungen eine grosse Rolle spielen werden.

Posadowsky lehnt das Konzept des "starken Mannes" für die Neuordnung des Staatswesens ab.

 

 

 

Kapp-Lüttwitz Putsch   zurück

das größte Unglück, das Deutschland überhaupt treffen konnte (Ernst Heilmann, 1920)

DNVP-Mitglied Wolfgang Kapp (1858-1922) putscht im März 1920 zusammen mit Walther Freiherr von Lüttwitz (1859-1942) gegen die Reichsregierung. Andere Deutschnationale taten heimlich mit oder bezogen taktische Positionen (vgl. Bernd 2004, 364).

"Dieser Putsch von rechts ist nach meiner Überzeugung das größte Unglück, das Deutschland überhaupt treffen konnte", urteilt der Sozialdemokrat Ernst Heilmann (1881-1940) am 13. März 1920 im Gespräch mit den Vorsitzenden der Deutschnationalen Volkspartei Herrn Minister a. D. Oskar Hergt und legt sich so in der historischen Einordnung fest, die später Allgemeingültigkeit erlangen sollte. Diese Position teilt Graf in dem im Buch "Weltwende" (113 ff.) erschienene Aufsatz "Der starke Mann" vom 16. April 1920. Es ist nicht nur eine Position oder Meinung, er analysiert die Irrtümer, Fehler und Spekulationen der Anführer des Kapp-Putsches.

Kapp war nicht Der starke Mann als den er sich verstand, so beginnt er die politische Abrechnung mit dem Putsch. [1.] "Er hat indes übersehen," hält er dem Rädelsführer vom 13. März vor, "dass starke Zuversicht sich im öffentlichen Leben auf politische Erkenntnis aufbauen muss." Diese Voraussetzung fehlte dem Putsch vollkommen. [2.] Kapp beachtete nicht, dass Deutschland kein Einheitsstaat ist, sondern föderativen Charakter trägt. Selbst wenn der "Gewaltstreich" in der Hauptstadt gelungen, so war damit kein entscheidender Erfolg im übrigen Deutschland erreicht, speziell nicht im Westen und Süden. [3.] "Infolgedessen nahm das Unternehmen nicht die Gestalt einer Volkserhebung gegen die bestehende Regierung an, sondern sank zu einem politischen Abenteuer herunter." [4.] Es ".... zeugte ebenso sehr von mangelndem Verständnis der politischen Lage wie von irriger Einschätzung des eigenen politischen Schwergewichts." [5.] Es war ein schwerer Irrtum zu glauben, daß man bei der gegenwärtigen politischen Lage durch äußere Machtmittel eine politische Änderung herbeiführen könne; solcher Erfolg wäre nur zu erreichen durch einen allmählichen Umschwung der Volksstimmung, die in gesetzlichen Mehrheitswahlen zum Ausdruck käme." [6.] Das Unternehmen zeugte ebensosehr von mangelndem Verständnis der politischen Lage wie von irriger Einschätzung des eigenen politischen Schwergewichts." (Der starke Mann 114-115) Damit liegt eine präziese und weitreichende politische EInschätzung vor die in Vielen mit denen der Sozialdemokraten und Kommunisten übereinstimmt oder überzeugende konstruktive Anknüfungspunkte aufweist.

Noch am 7. Oktober 1919 hielt Graf Posadowsky einen Aufstand gegen die Verfassung und deren Missachtung für unmöglich, wenn er in der Nationalversammlung ausführt:

"- Nein, solche Leute gibt es unter uns nicht, die gegenüber den Bestimmungen unseres Friedensvertrages, gegenüber unser schmählichen Wehrlosigkeit und gegenüber der Stimmung, wie sie in unserem Volke zum Teil herrscht, jetzt an irgendwelche Gewaltakte denken oder in Zukunft denken werden. Das malen sie immer nur an die Wand! Das brauchen Sie (sehr richtig, rechts) und ihr Herrschaft bei der Masse zu befestigen. (Widerspruch bei den Sozialdemokraten). Sie brauchen das Schreckgespenst der Rechten." (Posa 7.10.1919, 2894)

 

Mit vereinter Kraft,
wird das Werk geschafft. (Originalbildunterschrift)

Die Drachentöter. [Protest gegen den Kapp-Putsch].

Der Wahre Jacob. Nr. 879. 37. Jahrgang. Stuttgart, den 2. April 1920, Titelblatt

 

Er irrte sich.

Der DNVP-Fraktionsvorsitzende der Nationalversammlung Graf von Posadowsky beteiligte sich nicht am Putsch. Für ihn gab es keine andere Möglichkeit. Andernfalls müsste er seine Überzeugung vom republikanischen Verfassungsstaat aufgeben.

Er hatte am 7. Oktober 1919 in der Nationalversammlung gewissermassen das Versprechen gegeben auf dem Weg zur Republik fortzuschreiten und bettet dies damals in die historische Replik vom "18. Brumaire".

Posadowsky war grundsätzlich gegen den Umsturz und Einsatz der Armee zu innenpolitischen Zwecken. Ein Heer, "das nicht unbedingt ein zuverlässiges Werkzeug in der Hand der Regierung ist, bedeutet eine Gefahr für jede Regierung" (16.4.1920). Bereits am 28. Mai 1906 (3569) artikulierte er diese staatspolitische Grundüberzeugung vor dem Reichstag:

"Meine Herren, zunächst, ein Soldat ist kein Politiker (Zurufe bei den Sozialdemokraten), soll es nicht sein (erneute Zurufe bei den Sozialdemokraten), - wollen Sie die Güte haben, mich sprechen zulassen! -, und ich würde den Tag beklagen, wo die Mitglieder unseres Offizierskorps Politiker würden und Politik trieben."

 

Er ist schon im Juni 1920 abgesägt worden, lässt am 19. Dezember 1921 der Vorwärts aus Berlin kurz fallen. In alter konservativer Unart sahen die Strippenzieher in der Partei nur, was man verlieren konnte, nicht aber was es mit Arthur Graf von Posadowsky-Wehner an Attributen für eine moderne konservative Partei zu gewinnen gab: parlamentarisch, demokratisch, kooperativ, mittelstandsorientiert, arbeiterfreundlich, rechts- und staatsbewusst auf Grundlage der Verfassung und kritisch gegenüber luxurierenden Konsumexzessen.

 

 

 

Fürstenentscheid  zurück  

 

Vor dem Obdachlosenheim.


"Einmal im Leben möcht`ich so leben wie ein Fürst nach der Enteignung ....!". Zeichnung Willibald Krain

Lachen Links. Jahrgang 3, Nummer 25, Berlin, den 18. Juni 1926, Seite 291


Am 20. Juni 1926 findet in Deutschland der  

Volksentscheid über die entschädigungslose
Enteignung des Fürsteneigentums

statt.

"Die deutschen Fürsten haben die Rechte deutscher Staatsbürger und begründen ihre Ansprüche auf Herausgabe ihres Privateigentums mit den Vorschriften desselben bürgerlichen Rechts." Darauf gedanklich aufbauend, befürwortet Posadowsky ihre Enteignung nicht, weil es mit seinem Verständnis von Recht und Gerechtigkeit in der Gesellschaft unvereinbar ist. "Aus politischen und wirtschaftlichen Gründen darf niemals das Recht des privaten Eigentums ausgeschaltet werden. .... Es wäre auch sittlich verwerflich, aus persönlicher Verbitterung für die Enteignung des Fürstenvermögens zu stimmen, weil man selbst Unrecht erlitten hat. Sparer und Rentner sollten deshalb grundsätzlich der Abstimmung am 20. Juni [1926] fernbleiben ...." (V&R 229)

 

 

Wider der Prinzipien- und Grundsatzlosigkeit  zurück

Posadowsky bricht absolut mit der DNVP-Politik. Die Trennung beginnt mit dem Kapp-Putsch im März 1920 und endet vermutlich nach einer Phase des Übergangs 1924 mit der massiven Kritik an der Geldpolitik die zur Hyperinflation führte und Aufwertungsfrage. Vermutlich, denn noch reichen die aufgefundenen Dokumente nicht aus, um den Zeitraum genauer bestimmen zu können. Seine grundsätzliche Ablehnung der DNVP steht damit nicht Frage, wie seine Kritik an deren Grundsatzlosigkeit, aus der das "Jenaer Volksblatt" am 29. August 1928 zitiert, beweist.

Mittlerweile deckt die DNVP ein großes Themenfeld ab und versucht, ihre Massenbasis zu erweitern. Der Reichstagsabgeordnete Walther Lambach (1885-1945) mobilisiert das volkskonservative Potential, wendet sich ab von dem extrem rechten Hugenberg-Kurs, und versucht, die Partei für den republikanischen Weg zu öffnen. Dies nimmt Posadowsky zum Anlass, die krassesten logischen Widersprüche der Deutschnationalen Partei (DNVP) bloß zu legen:

"Man kann nicht fortgesetzt für die Monarchie eintreten und gleichzeitig der Verlängerung des Gesetzes zum Schutze der Republik zustimmen, wodurch die entthronten Regentenfamilien, obgleich sie die Rechte deutscher Staatsbürger haben, vom deutschen Boden verbannt werden können.

Man kann nicht flammende Reden gegen das Dawesabkommen halten, durch welches der Vertrag von Versailles bestätigt wird, und demnächst bei der Abstimmung über dieses feindliche Abkommen zur wirtschaftlichen und finanziellen Verelendung des Volkes sich zum Teil der Abstimmung enthalten und zum anderen Teil für das mit durchschlagenden Gründen bisher bekämpfte Abkommen stimmen.

Man kann nicht den enteigneten Gläubigern vor der Wahl zurufen: "Denkt an das euch widerfahrene Unrecht; tretet ein für euer gutes Recht!" Und dann einen Canossa-Gang unternehmen und in der Regierung für ein Gesetz stimmen, dessen Aufwertungsquote zum großen Teil geringer ist wie der Betrag der für richtig erklärten Zinsen, also eine entschädigungslose Enteignung."

Man kann sich nicht zu konservativ-monarchistischen Kundgebungen bekennen und sich gleichzeitig, um in die Regierung zu gelangen, den Richtlinien der früheren Regierung des Reichskanzlers Marx fügen." (Posadowsky 29.8.1928)

Die von der DNVP im unvorstellbaren Ausmaß praktizierte Grundsatz- und Prinzipienlosigkeit erlebt und begreift er politisch und menschlich als unerträglich. Sie ist höchst manipulativ und mit dem Bild vom selbsttätigen, vernünftigen, gesetzesbewusst handelnden und sozial-empathischen Staatsbürger unvereinbar. In dieser Frage besteht zwischen ihm und Hugo Heimann (1859-1951) ein bemerkenswerter Gleichklang. Im "Der Kampf um die Aufwertung" (54) analysiert 1925 der SPD-Reichstagsabgeordnete die Politik des Betrugs:

"Sobald aber die Deutschnationale Partei ihr Ziel erreicht und von der Regierungsmacht Besitz ergriffen hatte, wurde wiederum alles beiseitegeschoben, was man vorher den mit allen Mitteln der Demagogie umworbenen Sparern und Gläubigern auf das Bestimmteste zugesagt hat. Statt die für jede gerechte Aufwertung unbedingt notwendigen Mittel von denen zu holen, die durch die Inflation sich auf Kosten der Nicht-Sachwertbesitzer bereichert hatten, beugte man sich widerspruchslos dem Diktat der Schwerindustrie und des Großagrariertums, lehnte jede Besteuerung der Inflationsgewinne ab und verriet so zum zweiten Male die Interessen der Sparer und Gläubiger, die zu schützen und zu fördern man hoch und teuer versprochen hatte."

 

 

Die anstrengende Republik

 

Keine Illusionen!  zurück

Es steht viel auf dem Spiel. Die wirtschaftliche Lage der Weimarer Republik verbessert sich nach dem Ende der Hyperinflation, ist aber nicht stabil. Arm und Reich driften auseinander. Was sagt man den Bürgern? Weckt man bei ihnen Hoffnungen? Schon, - doch auf keinen Fall wieder mit Illusionen! Das lehnt Posadowsky ab. Schon einmal wurde 1914 damit Schindluder getrieben und die Massen in verbrecherischer Weise irregeführt. "Absichtliche Täuschung und gutgläubiger Irrtum hat schon zu lange geschadet", blickt er auf diese Zeit zurück. "Das deutsche Volk muss erkennen, was ist, um sich aus dieser Erkenntnis heraus ein nüchternes Bild politisches Bild und wirtschaftliches Urteil [!] zu bilden und sein Privatleben zu regeln." (V&R 227)

 

 

Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Eigentumszurück

Gemäß liberal politischer Anschauung kann der Bürger über sein Eigentum nach Gutdünken entscheiden und verfügen. Anders war es in Zeiten der Hyperinflation und Aufwertungspolitik. Da verlieren viele ihren Besitz oder machen Verluste. Um was die Besitzer hier gebracht werden, ist oft nicht weniger als die Lebensgrundlage ihrer Familie. Deshalb erwartet Posadowsky in diesen Tagen (siehe PLT 23.1.1932, 23886) von den verantwortlichen Politikern, dass der Schutz des Eigentums auf alle Volksschichten, nicht nur auf das eigene angewendet wird. Davon wollen einige nichts mehr wissen. "Jetzt haben wir sogar erlebt," berichtet er Anfang 1932 dem Preußischen Landtag, "dass ein aktiver Minister, Herr Minister Schlange [1886-1960], nach Zeitungsmeldungen erklärt hat:

Man rede von der Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Eigentums; wer glaube das heute noch, wer könnte diesen Grundsatz noch aufstellen, - das wären christliche Spitzfindigkeiten."

Der Reichsminister ohne Geschäftsbereich und Reichskommissar für die Osthilfe gibt das Prinzip des politischen Liberalismus den Schutz des Eigentums auf. "Ein Minister, der in einem geordneten Staatswesen eine solche Erklärung abgibt, der den Begriff des Eigentums, an dem der größte Teil unseres Volkes doch noch hängt, fachlich erschüttert, eine Regierung, die es erträgt, daß ein Minister eine solche Erklärung abgibt, erschüttert allerdings die Grundlagen des Eigentums und ihr eigenes Ansehen aufs schwerste.

Das sind die Anschauungen, die unmittelbar in den bolschewistischen Staat führen." (....)

 

 

Verantwortung der Eliten  zurück

 


Impressionen Naumburger Dom 2007.
Oben: Domplatz mit Dreikönigskappelle.
Unten
: Blick zum Dom.


Er übersieht nicht die sozialen Verwerfungen als Folge des Gegensatzes von Arm und Reich, was die gedeihliche Entwicklung der Gesellschaft behindert. "Wenn er vom Materialismus der besitzenden Klasse sprach," worauf 1907 die Volksstimme aus Magdeburg hinweist, "wenn er erklärte, dass der Besitz, immer eine Annehmlichkeit, selten ein Verdienst und niemals eine Tugend sei."

Posadowsky nimmt die Produktionsmittel-Besitzenden, die Oberschicht und Eliten für die Gestaltung und Förderung eines gedeihlichen Staatswesens in Verantwortung. Nur in einem Land, lautet seine Überzeugung, wo die Gebildeten die Führung übernehmen, erhält die Zukunft eine Chance. Die Elite muss die Initiative übernehmen. Ihren Führungsanspruch in der Gesellschaft muss sie durch ihr persönliches und öffentliches Verhalten rechtfertigen. Das korrespondiert nicht mit seinen Erfahrungen: "Leider steht die Lebensführung weiter Kreise der Oberschicht im verletzendem Gegensatz zu dieser Forderung sowie zu dem schweren Schicksal ihrer notleidenden Mitbürger und des Vaterlandes." (V&R 228)

 

 

Bürgersinn und Pflicht   zurück

Der Staat braucht nach Überzeugung von Graf Posadowsky dringend ein beherrschendes Nationalbewusstsein, spartanische Einfachheit der Sitten, edle Selbstlosigkeit und unerschütterliche Pflichttreue der Volksmassen. Das bedeutet, "dass im republikanischen Staatswesen die Pflichten des einzelnen Staatsbürgers erheblich höher sind als in der Monarchie, wo die monarchische Regierung als selbständige Machtquelle der gesetzgebenden Versammlung gegenübersteht und das Recht hat, Gesetzesentwürfe, welche ihr bedenklich erscheinen, abzulehnen."

Der Typus des modernen Staatsbürgers ist bei Posadowsky aktiv, engagiert, urteilsfähig und empathisch gegenüber seiner sozialen Welt. Der Antiheld ist der unpolitische Bürger. Vorzugsweise beschränkt er sich bei den Staatsgeschäften darauf, die Zeitung zu lesen, womit er meint, seine Pflicht erfüllt zu haben. Diesem Typus Bürger liegt eine selbstständige geistige Prüfung der politischen Ereignisse fern. Infolgedessen findet man selbst bei Personen, die nach ihrer Lebensstellung als "gebildet" gelten, tut Posadowsky seine Erfahrungen kund, ein überraschendes Maß an politischer Unkenntnis, Urteilslosigkeit und Gleichgültigkeit. Ein grausen, dieser "bescheidene Mensch". ".... wo sie von der Gesetzgebung oder den Ereignissen selbst empfindlich betroffen werden," pflegen sie "in herbster Form ihr Urteil über diese politischen und wirtschaftlichen Folgeerscheinungen abzugeben, zu deren Vermeidung oder Beseitigung sie selbst durch ihre öffentliche Tätigkeit nichts getan haben." (V&R 76).

Die Masse dieser Schwächlinge zeichnen sich durch Untätigkeit und Trägheit aus, sehnen von anderen Herkules-Leistungen herbei.

Das Volk ist in seiner Gesamtheit für die Führung der Staatsgeschäfte verantwortlich. Die erste Bürgerpflicht heißt deshalb, Abgabe der Wahlstimme. Wer nicht zur Wahl geht ist ein "politischer Deserteur" und vernachlässigt in unentschuldbare Weise die vaterländische Pflicht. Man kann "das Gefühl der politischen Verantwortlichkeit und Reife eines Volkes" an Hand der Beteiligung an den öffentlichen Wahlen beurteilen (V&R 73). "Weite Kreise scheinen aber diese veränderte Grundlage des öffentlichen Lebens gegenüber der konstitutionellen Monarchie noch nicht erkannt zu haben .... Das höchste Recht und die wichtigste Pflicht jedes Staatsbürgers ist die Abgabe seiner Wahlstimme .... " (NBT 25.4.1925)

Es ist eine Forderung, die von praktischer Bedeutung und den demokratischen Prozess der Konstituierung des allgemeinen Willens erfasst. Durch die "eigenmächtige Vollziehung des Staates von Gesetzen" bringt die Republik "den gesetzgebenden Despotismus hervor". Anders formuliert: In der Demokratie trennt der Gesetzgeber sich vom Vollzug der Gesetze zum Preis, dass die Exekutive sich potentiell in Widerspruch zum allgemeinen (Volks-) Willen setzt und die Repräsentanz verliert. Insoweit ist das parlamentarische Präsenzprinzip nicht oder nur schwach erfüllt ist. Um das notwendige Maß an Identität darüber aufzubauen, bedarf es der hohen Wahlbeteiligung. "Alle Regierungsform", "die nicht repräsentativ ist," lehrt Immanuel Kant in "Zum ewigen Frieden" (1795/1981, 427), "ist eigentlich eine Unform ...."

Die Kommunikation der Öffentlichkeit übernimmt im Demokratie-Konzept von Posadowsky eine sinnstiftende und gestaltende Kraft. "Ein jeder pflegt im öffentlichen Leben soviel Recht zu haben, wie er vertritt. Das gilt vor allem in einem parlamentarischen Staatswesen, in welchem die Entscheidung aller öffentlichen Angelegenheiten tatsächlich bei den unverantwortlichen Volksvertretern liegt und die verfassungsmäßig verantwortlichen Minister sich dieser Entscheidung zu fügen oder auf ihr Amt zu verzichten haben." (V&R 228)

 

 

Die Popularität der neuen Staatsform  (Graf Posadowsky, 1930)   zurück

Carl von Ossietzky (1889-1938) freut sich, dass das Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold den Camelots der Rechtsparteien die Straße streitig macht. Das ist für deutsche Verhältnisse, schreibt er im September 1924 in den "Tagebüchern", allerhand. Nur es wird dies nicht ausreichen, denn: "Unsere Republik ist noch kein Gegenstand des Massenbewußtseins, sondern eine Verfassungsurkunde und ein Amtsbetrieb." Deshalb darf man es nicht bei der Abhaltung "Republikanischer Tage" bewenden lassen. "Wer aus der Geschichte vor fünf Jahren gelernt hat," schlussfolgert der Herausgeber der Weltbühne, "weiß es, dass nicht die Völkischen, die Monarchisten die eigentliche Gefahr bilden, sondern die Inhaltslosigkeit und Ideenlosigkeit des Begriffs deutsche Republik, und daß es niemandem Gelingen will, diesen Begriff lebendig zu machen."

Arthur Graf von Posadowsky-Wehner

Jetzt stimmt Graf von Posadowsky eine neue Melodie an, setzt einen Kontrapunkt: Worauf kann sich die neue Ordnung stützen? - Was macht sie attraktiv? - Und, wie kann sie ihre Konflikte lösen?

"Die Popularität der neuen Staatsform

muss darauf gegründet werden," antwortet er 1930, "daß der Staat ein Staat des unbedingten Rechts gegen alle Parteien des Reichstags und alle Volksschichten in gleicher Weise ist, sie muss damit begründet werden, daß das Recht auch im Privatleben mit pünktlicher Genauigkeit durchgesetzt und geschützt wird, daß das Volk das Vertrauen hat:

wir leben in einem Rechtsstaat,

der nicht regiert wird von wechselnder Politik, sondern nur von dem Buchstaben des Gesetzes und den Geboten des Rechts. Ein Land das in seinen Parteien so zerfallen ist wie das deutsche Volk, kann nur durch das Vertrauen geeint werden, daß wir in einem Staate leben, wo das Recht über der Wirtschaft und über allen politischen Interessen steht." (Posa PLT 19.12.1930, 16638)

 

 

Rechtsbewusstsein wider Durchbrechungstheorie  zurück

Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit verkörpern im staatspolitischen Denkens von Posadowsky-Wehner zentrale Kategorien und organisieren die Leitideen "Macht" und "Demokratie". Sie sind unerläßlich für die Schaffung eines gerechten Staates, dem der Bürger vertrauen kann. Auf Grundlage seiner Erfahrungen in der deutschen Revolution 1918/19 und als Oppositionsführer in der Nationalversammlung will er an die Durchsetzung dem Allgemeinwohl verpflichtender Normen und Ordnungsprinzipien ohne Rechtsstaatlichkeit nicht glauben.

Den Kapp-Putsch lehnt er ab, weil dieser ein Affront gegen sein Rechtsgefühl und mit seinen rechtstheoretischen Grundsetzen zum Staatsrecht unvereinbar war.

 

Ägidienkurie, Naumburg 2007

 

Die Inflations- und Aufwertungsgesetze, zum Beispiel das Urteil des Reichsgerichts vom 28. November 1923, Dritte Steuernotverordnung vom 14. Februar 1924, Bankengesetz vom 30. August 1924, versetzten die Betroffen in Unruhe und Sorgen.

"Als man die Aufwertungsgesetzgebung beschloss, die ungerechteste und unsittlichste Gesetzgebung des ganzen Reichsgesetzblattes, da hat man nichts von denen gewusst, die um das Erbe ihrer Eltern gebracht worden sind, um andere Kreis zu bereichern ...." (Posa PLT 27.2.1929, 4194 f.).

Mit "genialen Feinsinnigkeiten" hat man alles getan, "um die Partei der Schuldner zu begünstigen". So brachte man den Mittelstand um die Früchte seiner Arbeit und die Kinder "um das Erbe ihrer Eltern", "um andere Kreis zu bereichern ...."

Posadowsky (PLT 19.12.1930) erkennt,

die Popularität der "neuen Staatsform"

wächst und gedeiht, wie der "Staat ein Staat des unbedingten Rechtes gegen alle Parteien des Reichstages und alle Berufsschichten in gleicher Weise ist". Auch im Privatrecht muss das Recht mit pünktlicher Genauigkeit durchgesetzt und geschützt werden.

Während einer Debatte im Preußischen Landtag fragt Posadowsky den Justizminister, ob ein Gesetz beschlossen werden darf, dass gegen die Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung verstösst. In seiner schriftlichen Antwort eröffnet der Minister zwei Möglichkeiten: Erstens. Mit einer Zweidrittelmehrheit der gesetzlichen Körperschaft kann die Verfassung geändert werden. Zweitens könnte als Lösung die sogenannte

Durchbrechungstheorie

 

An der Nordseite vom Naumburger Dom, 2007

 

in Anwendung kommen. Empört weist dies Posadowsky

am 19. Dezember 1930

vor dem Preußischen Landtag mit Bezug auf Artikel 76 der Reichsverfassung als glatten Verfassungsbruch zurück. "Ich verstehe es nicht," stellt er konsterniert und im Ton tiefer Enttäuschung fest, "dass die Mehrheit des Reichstages ein solch verfassungswidriges Verfahren wiederholt gebilligt hat. Das gilt für die Aufwertungsgesetze und für die Kürzung der Beamtengelder als wohlerworbene Rechte." Auch im Rahmen der Geldpolitik ist dies mehrfach geschehen. Als Beweis zitiert er aus der Rede von Finanzminister Doktor Luther am 23. August 1924 vor dem Reichstag:

"Wir waren in der Lage, infolge der Inflation diesen Ausweg zu benutzen, um Werte abzulösen. Als wir künstliches Geld gemacht haben, waren wir in der Lage, durch dieses künstliche Geld, d.h. mit der Inflation, vorhandene Werte abzulösen." (PLT 19.12.1930, 16638)

Ein Privatmann, der künstliches Geld macht, reicht Posa am 23. Januar 1932 bei seinem Auftritt im Preußischen Landtag empört nach, begeht ein Münzvergehen und ist nach dem Strafrecht ein Verbrecher. Mit künstlichem Geld darf man keine Schulden tilgen, "deshalb sind die sogenannten Aufwertungsgesetze null und nichtig".

"Als die Reichsregierung die Aufwertungsgesetzte erließ, wo sie hundertaussende um ihr Hab und Gut brachte unter Ausschaltung des § 607 des Bürgerlichen Gesetzbuches, was die Rückzahlung von Schulden in gleichem Wert fordert, hatte sie dies Zartgefühl nicht. Aber jetzt, wo sichs darum handelt

die verbrecherischen Personen festzustellen,

die die Inflation im In- und Auslande künstlich herbeigeführt und dann zu ihrer Bereicherung benutzt haben, da tritt die Reichsregierung vor diese Spekulanten. Man sieht ja ganz klar: man soll nicht wissen,

wer die Verbrecher sind,
die die Inflation herbeigeführt haben." 
(PLT 19.12.1930, 16636)

"Es genügt nicht", fasst Graf von Posadowsky-Wehner 1932 seine Erfahrungen zusammen, "dass die gesetzgebenden Körperschaften fortgesetzt je nach den bestehenden Mehrheitsverhältnissen Gesetze beschließen und die Regierung aus politischen Gründen denselben willfahrt. Gesetze müssen sich durch jahrelange Anwendung im Rechtsbewusstsein des Volkes einbürgern, um tatsächlichen Gesetzeswert zu erlangen; durch die Veröffentlichungen in den Gesetzblättern wird die Rechtskraft nur urkundlich festgestellt, aber kein Rechtsbewusstsein geschaffen." (V&R 72)

 

 

Geburtstag

Bischofskurie am Domplatz, 2007

Zum 80. Geburtstag gratulierten ihm: Reichspräsident Paul von Hindenburg, Reichskanzler Doktor Hans Luther, Reichswirtschaftsminister Albert Neuhaus, General der Infanterie Friedrich Sixt von Armin, Domherr von Naumburg und Großadmiral Hans von Köster, der Vizepräsident des Reichstages Doktor Jakob Riesser, der Ministerpräsident des Freistaates Preußen Otto Braun, der