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[Entrée überspringen] Als Staatssekretär des Reichsschatzamtes und Reichsamtes des Inneren gestaltete Arthur Graf von Posadowsky-Wehner (1845-1932) von 1893 bis 1907 in Deutschland die Sozial-, Arbeiterschutzgesetzgebung, Finanz-, Zoll- und Handelspolitik entscheidend mit. Ihn zeichnen unermüdlicher Fleiß, rastlose Schaffenskraft kombiniert mit Gründlichkeit, Pflichtbewusstsein, geistige Disziplin und eine den Bürger ansprechende Intellektualität aus. "Seine rastlose Innerlichkeit," beobachten 1906 Zeitgenossen (DG 462), "nimmt ihn so in Anspruch, daß für die Äußerlichkeiten des Lebens nichts oder doch nur sehr wenig übrig bleibt." Seine Fähigkeit, an alle Klassen, Schichten der Gesellschaft nebst den Eliten nachdrücklich die Frage der Gerechtigkeit zu richten, das Bemühen, Politik auf Vertrauen, Recht und Wahrheit zu gründen, verdienen hohe Wertschätzung. Er forderte, oder sollte man vielleicht besser sagen, empfahl als Referenz an die politische Klugheit eine treffliche Behandlung der Arbeiter und Arbeiterinnen und das Recht auf Wohnung, drängte aber mit gleicher Energie darauf, dass die Leistungen der besitzenden Klassen, beispielsweise bei Übernahme von Lasten in der Sozialgesetzgebung, allgemein anerkannt werden.


Die gefährliche Ladung aus "Der Wahre Jacob" (1893) zeigt den neuen Staatssekretär des Reichsschatzamtes Arthur Graf von Posadowsky-Wehner beim Eintreiben der Steuern. Auf den Geldsäcken steht: "Börsensteuer", "Weinsteuer" und "Tabak-Fabrikatsteuer".

 

 

Die gefährliche Ladung

"Vom gefährlichen Gespenst erschreckt.
Der Esel springt zur Seite,

Geb` Acht, Du schlauer Treiber du,
Das ist der Anfang
der Pleite."

Die "gefährliche Ladung" veröffentlichte "Der Wahre Jacob" am 20. November 1893, also vier Tage nach dem der Deutsche Reichstag zusammentrat, um darüber zu entscheiden, ob das deutsche Volk für die Militärvorlage zahlen soll. Ist es bereit die weiteren Militärausgaben zu Schultern? Von Ausnahmen abgesehen, sagen die Sozialdemokraten, haben sich "alle Schichten des Volkes in entschiedenster Weise" dagegen ausgesprochen. Deshalb fragt am 16. November 1893 der Vorwärts (Berlin) zu Beginn der langen und folgenschweren Session: "Wird der Reichstag diesmal, die Meinung des deutschen Volkes widerspiegeln?"

Die gefährliche Ladung. Der Wahre Jacob, Nr. 191, Titelblatt. Stuttgart, den 20. November 1893. (Die Grafik wurde unter Beachtung ihrer inhaltlichen Aussagen besonders am rechten Rand beschnitten, bearbeitet und verändert.)

 

Am 22. Oktober 1900 fiel der Vorhang in der Bueck-Woedtke-Posadowsky Affäre. Ihren Hauptdarsteller zerrissen die Kritiker als "12 000-Mark-Graf". Nachdem das Zolltarifgesetz am 25. Dezember 1902 durch den Reichstag beschlossen, verliehen die Sozialdemokraten Posadowsky den Titel "Vater des Brotwuchers" und der "staatlichen Massenausplünderung". Die renommierte Zeitschrift Jugend (München) kritisiert am 18. Februar 1904, dass einige Kollegen Reichstagsabgeordnete ihn öfter mal als Prügelknaben missbrauchen.

Frischweg, ohne Verzug forderten am 7. Februar 1905 die "Hamburger Nachrichten" den  Rücktritt von Staatssekretär Graf von Posadowsky, Er hatte in seiner Rede am 1. Februar 1905 vor dem Reichstag den Streikenden einen "starken Sympathiebeweis" erwiesen und damit das Vertrauen aller bürgerlichen und staatserhaltenen Kreise erschüttert.

Über den Sturz im Juni 1907 des in Kreisen der Großindustrie und im unsozialen Junkertum verhassten Staatssekretär des Inneren und Stellvertreter des Reichskanzlers, freute sich niemand mehr als seine politischen Gegner. Und auf die konnte er sich verlassen! Als Widerpart in der Sozialpolitik (1906/07). Auf dem Neuen Weg zum Wohnungsbau (1910) lagen genügend Stolpersteine. German Gier verhindert die breite Nutzung des Erbbaurechts (1911/1919), die für ihn die bevorzugte Methode zu Überwindung der Wohnungsnot darstellte.

Sein christlicher Standpunkt verbietet ihn, erklärt er am 18. Januar 1912 auf einer Wählerversammlung im Großen Volkshaussaal zu Jena, "gegen Staatsbürger zu agitieren, bloß weil sie eine andere Religion oder andere Abstammung haben". Beherzt wendet er sich gegen Antisemitismus und Rassismus, überrundet moralisch Woodrow Wilson (1856-1924), der es 1919 auf der Pariser Friedenskonferenz nicht für nötig befand, zwei Paragraphen in den Entwurf der Völkerbundsatzung aufzunehmen, die garantieren sollten, dass keine Personen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht auf Grund der Rassen- und Staatsangehörigkeit diskriminiert werden können. Zuvor war der Antidiskriminierungs-Vorschlag des japanischen Delegierten Baron Makino Nobuaki (1861-1949) vom 13. Februar 1919 durch den 28. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika am 11. April 1919 in der letzten Sitzung der Völkerbundkommission beim Verlesen des kompletten Textes des Entwurfs der Völkerbundsatzung vollständig ignoriert worden. (Vgl. Harro von Senger)

Posadowsky`s Konzept des demokratischen Verfassungsstaates sabotierten die deutschnationalen "Parteifreunde". Andere redeten 1930, so der preußische Justizminister, leichtsinnig der Durchbrechungstheorie das Wort.

Als Deutschland 1923 sich von der Ruhrkrise, Reichsexekution in Sachsen, Thüringen und dem Hamburger Aufstand politisch etwas Stabilisierte, nahm er den Kampf gegen die existenzbedrohende Inflations- und Aufwertungspolitik der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), gegen alle Schwankenden, Opportunisten und Karrieristen unterschiedlicher politischer Provenienz auf, die das Prinzip der Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Eigentums verraten. Während der ehemalige Minister Hans Schlange-Schöningen (1886-1960), der 1932 den Schutz des Privateigentums als Spitzfindigkeit deklarierte und sich weigerte, weil es keinen Sinn mehr macht, ihm weiter nachzurennen, heute im Ehrenhain der Guten der Christlich Demokratischen Union (CDU) thront, etikettierte man den Streiter gegen die Prinzipien- und Grundsatzlosigkeit der Inflations- und Aufwertungspolitik der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) als "Gegner der Weimar Republik". Eine schlimme Verdrehung der Geschichte und Ungerechtigkeit! Denn er kapitulierte nicht vor dem Inflationsverbrechen und gründet (mit) die Reichspartei für Volksrecht und Aufwertung (VRP). Ihr Mandat trägt ihn 1928 in den preußischen Landtag, wo er für eine volkswirtschaftlich vernünftige Geldpolitik, gegen die "Enteignung durch die Aufwertungsgesetzgebung" (1930) kämpft. In Stinnes usw. erkannte er die Urheber der Inflation und deren "Grundursache für die Verelendung des Volkes" und forderte einen Untersuchungsausschuss, damit die Schuldigen endlich zur Rechenschaft gezogen werden könnenm (Vorwärts 31. Januar 1932). Die Saalordner des Großkapitals taten alles, um derartige Aktivitäten zu zerstreuen.

Gegenüber seiner staatspolitischen Fundamentalkritik an den Notverordnungen stellt man sich schwerhörig. Im Streit um das Präsidialkabinett von Heinrich Brüning (Ministerbesprechung 14. Juni 1930) / Reichspräsident Paul von Hindenburg) und der Aufhebung der parlamentarischen Legitimation der Regierung nach den Reichstagswahlen vom 14. September 1930, steht er auf der Seite der Verfassung. Die Politik warnt er vor Indolenz, Gleichgültigkeit, Selbstbetrug, Tabuisierung gesellschaftlicher Probleme und leistet mit dem Posadowsky-Codex einen konstruktiven Beitrag zur Überwindung dieser Erscheinungen, insbesondere von Hetze in jedweder Form. In mehreren Etappen entsteht der Deutschland-Plan, eine Sammlung von Vorschlägen und Initiativen für eine demokratische, rechtsstaatliche und souveräne Republik.

 

 

 

Arthur Graf von Posadowsky-Wehner (1845-1932)
an den Kipp- und Verzweigungspunkten der Geschichte

Erster Teil 1845 bis 1911

 

Landrat und Landeshauptmann

Schwierigkeiten mit Posadowsky + Aus dem Lebenslauf + Die Posener Zeit + Landrat in Wongritz und Kröben - Wahlkampf in Blottwitz + Gegen die Polen + Ernährungslage + Bodenfrage + Der kapitalistische WegPosa ein Parteisekretär? + Kulturkampf + Schulwesen + Verkehrsverhältnisse + Erster Hauptsatz der Sozialpolitik + Abgeordneter und KircheArbeitsethos, Disziplin und Ordnung + Caprivi meldet In Berlin

 

Die Ära Posadowsky: 12. August 1893 bis 24. Juni 1907

Staatssekretär Reichsschatzamt + War er der Richtige? + Ist er ein Agrarier? -Die Osterfahrt + Moloch Militarismus + Posa gegen Reichsverdrossenheit + Heeresvorlage 1887 + Reichstagswahlen 1893 + Matrikularbeiträge + Militarismus + Geb` Acht, Du schlauer Treiber du Etat für 1884/95 + Miquel und Graf von Posadowsky + Diagonal-Karriere + Die Grand pas du Finanzreform (1894) und was aus ihr wird + Finanzreformgesetz 1895  + Gescheitert im Überfluss + Umsturzgesetz + Revirement

Reichsamt des Innern + Ernennung zum Staatssekretär + Die Institution + Nächste Aufgaben + Reformen + Ist er ein Bremser? + Was konnte er entscheiden? + Weltpolitik, Handel, Flottenrüstung: (a) Kräftegleichgewicht herstellen, (b) Flottenrüstung als Krisenbewältigung, (c) Respekt vor den deutschen Handeltreibenden, (d) Rettung bringt die maritime Defensionsakte, (e) Mehrheitsmeinung und Untertanenverstand, (f) Manipulation mit der neutralen Bedeutung, (g) Rüstung als Kulturabgabe, (h) Eine Alternative, (i) Der Campion mit der gepanzerten Faust, (j) Unser Platz an der Sonne (Bülow), (k) Der Kuli pocht an die Thore Europas + Weltpolitik + Schuld sind die Europäer und Amerikaner (Bebel) + Kohlehandel-Syndikate + .... wie in einem eroberten Land + Die Amerikaner werden ihr Monopol ausdehnen + Der Sozialismus ist ihm nach wie vor völlig verschlossen + Tuberkulose-Bekämpfung + Graf Posadowsky hat die Schlacht verloren + Zwölftausendmark-Affäre + Posadowsky-Statistik + Der Verwandlungskünstler + Der kluge Hans und der blöde Michel + Caprivi: Wir sind auf Dauer nicht im Stande, das zu bezahlen, was wir brauchen + Der Handelspolitiker: (a) Protektionismus und Freihandel, (b) Handelstag 1901, (c) Zolltarifgesetz und Zolltarif 1902, (d) Abschluß der Verhandlungen, (eBauernfasching 1902, (f) Der Segen für die Landarbeiter, (g) An das arbeitende Volk! + Ich stehe zwischen zwei Welten + Deutsch-amerikanischer Zollkrieg und Zusammenschluss europäischer Staaten + Handelsverträge 1905 + Bekämpfung der Sozialdemokratie + Annäherung an die Sozialdemokratie + Wer Recht erringen will, der muss... + Wie noch kein Staat der Welt? + Christliche Arbeiterbewegung + Ist die Überwindung der Sozialdemokratie überhaupt möglich? + Impulse, Junker, Centralverband deutscher Industrieller und Klassenpolitik + Gegen Überreglementierung + Das Vaterland + Der aktive, regulierende Staat + Sozialstrukturelles Denken + Empathie + Egoismus + Arbeiterfreundlich + Arbeitnehmerfreizügigkeit + Kernsätze der Sozialpolitik + Widerstand gegen die Sozialpolitik + Staatssekretär für Sozialpolitik + Kellerfest des Hottentottenblocks + Die Einkreisungs-DoktrinKolonialpolitik und Weltstellung + Reichstagswahlen 1907 + Bülow-Schlächterei + Der SturzDas Wohnungsproblem als soziale Frage

 

Zweiter Teil 1911 bis 1932

 

 

 

 

Wer ihn kannte, achtete und bewunderte ihn. "Seine Hauptstärke war", steht im Zeugnis der sozialdemokratischen Volksstimme aus Magdeburg vom 25. Juni 1907, "die fleißige Durchdringung der zahlreichen Einzelheiten seines Ressorts, verbunden mit einer gewissen Nachdenklichkeit, also einer in preußischen-deutschen Regierungskreisen höchst seltenen Eigenschaft." Vier Tage nach seinem Abschied als Staatssekretär des Innern bescheinigt ihn die Leipziger Volkzeitung: ".... immer empfand man, daß er den Dingen auf den Grund gehen suchte". Die Vossische Zeitung (Berlin) würdigte, dass er "ein erfreuliches Verständnis für die Bedürfnisse der Zeit bewiesen". Dabei, wenn wundert`s?, von [einigen] Sozialdemokraten als Reaktionär angesehen, von den Scharfmachern" "als Gönner der "Genossen" verschrien."

 

Die Säge knirscht, der Ast sich biegt
Herr Posa, bald am Boden liegt.

Da hilft keine Stützen und kein Müh`n
Das Glück entfloh, fahr `hin, fahr`hin.

Der Wahre Jacob, Nummer 378. Stuttgart, den 15. Januar 1901, Titelblatt, Ausschnitt

Kommentar. Am 16. Februar 1906 macht Der Gewerkverein Nr. 7 darauf aufmerksam: "Seine Reden lassen erkennen, dass das Reichsamt des Innern und sein Chef sozialpolitisch fortschrittlich denken." Einige hatten also längst erkannt, Posa war nicht der reaktionäre Knochen, den man nur bekämpfen muß, und dann wird alles Gut. August Bebel wußte das genau. Doch jetzt sägt er am Ast auf dem der Staatssekretär des Innern Graf von Posadowsky sitzt und sich krampfhaft festhält. Das ist eine antiautoritäre Handlung, die der SPD Vorsitzende da ausführt, was bei seinen Genossinnen und Genossen starke innere Bewegung auslöst. Schaut her: Das können wir! Es regt sich natürlicher Stolz. Ohne jede Aufdringlichkeit vermittelt die Karikatur eine Vorstellung von politischen Gestaltungsmöglichkeiten, nicht aber von ihren Grenzen. Wächst der Freiheitswille allzu ungestüm, pocht die Hegelsche Notwendigkeit darauf, den Meinungskorridor im Staat zu definieren, wozu sich die Massenerziehung andient und der ideologische Apparat des Staates parat steht. Beides wusste Posadowsky im Interesse der Festigung des Staates zu nutzen.

 

Georg Schiele (Naumburg), der später Posadowsky`s Sozialpolitik mit reaktionären Sottisen überschüttet und 1926 den Weg zum Völkischen Staat einschlägt, testiert ihn 1904 im Grenzboten: "Dieser hat zeit seines Lebens mit dem hingebenden Eifer eines glühenden Patrioten und charaktervollen Staatsmanns Gerechtigkeit nach allen Seiten walten lassen."

In der Finanzpolitik spinnt er den Faden der indirekten Steuern weiter. Die Reichsfinanzreform von 1895 gelingt nicht. Den Schwerpunkt seiner Tätigkeit bildet jedoch die Sozialpolitik. Er reifte ".... zum anerkannten Minister für Sozialpolitik, der mit großer Sachkenntnis das groß gewordene Reichsamt des Inneren leitete." (Tennstedt 2011, 5)

Leider besitzt der Staatssekretär, wirft ihn 1897 August Bebel vor, "..... das lebhafteste Mitgefühl für die Schmerzen der Junker" und "mögen dieselben noch so kühn und anmaßend sein, niemals wird ein Wort des Tadels oder der Klage aus seinem Munde kommen; immer wird er diesen gegenüber die Dinge von der schönsten wohlwollendsten Seite betrachten." Das stimmt so nicht ganz. Mitunter, wenn er es für angebracht hielt, schnitt er die überhöhten Ansprüche der Agrariern zurück. Aber es bringt eine Grundkonstellation im Konflikt zwischen den Sozialdemokraten und ihm zum Ausdruck.

Seine Widersacher werden ihm nicht versagen, "dass er ein Mann von großen Wissen, von unermüdlichem Fleiß, von rastloser Arbeitskraft war ...." "In der Handelspolitik war er einer der entschiedensten Gegner der Caprivischen Verträge, einer der wirksamsten Vorkämpfer des Agrariertums". War er wirklich ein Junker-Freund, wie es der Vorwärts (Berlin) hier am 22. April 1900 vorsichtig andeutet? Dies gilt es im Zusammenhang mit der Zollpolitik und -gesetzgebung 1901/02, den Widerstand aus den Reihen der Agrarier (Kanitz, Stumm und andere) oder mit Abschluß der Handelsverträge von 1906 zu hinterfragen.

Oftmals wirkte er etwas steif und unnahbar, doch nie unaufmerksam oder unfreundlich. Dem politischen Gegner begegnete Graf von Posadowsky achtungsvoll, bisweilen humorvoll und mit Sinn für Satire. Sachlich, systematisch, dass heißt vom Standpunkt einer reformorientierten liberal-konservativen Politik gewichtet, konkret und ohne persönliche Anfeindungen, parliert er am 13. Dezember 1897 vor dem Reichstag die Rede von August Bebel. So erleben die Reichstagsabgeordneten nicht nur ein hartes Ringen politischer Kontrahenten, sondern eine Sternstunde der Parlamentskultur. Ihre Debatten und Wortgefechte zur Internationalisierung der Wirtschaft, "amerikanischen Invasion" (1899), deutschen Weltpolitik, Flottenrüstung, Sozialpolitik als Kulturaufgabe, Handels-, Zoll- und Kolonialpolitik sind hochaktuell.

 

Transfusion (Originaltext)

 

 

Schutzmann: Melde gehorsamst, der Bauer ist blutleer!

Oberarzt: Ne, denn holt man dem Arbeiter her; es ist noch ville Blut nöthig, um den ajarischen Übermenschen bei juter Gesundheit zu erhalten. (Originaltext.)

Kommentar. Reichskanzler Bernhard von Bülow überwacht die Transfusion vom Arbeiter zum Agrarier. Wichtig ist hier mitzudenken, dass die Karikatur in der Zeit der Zollgesetzgebung 1901/1902 entstand.

Transfusion. Der Wahre Jacob. Nummer 398, Stuttgart, den 22. Oktober 1901, Titelblatt. Ausschnitt

 

Am 13. Dezember 1897 schenken sie sich nichts. Der Staatssekretär des Reichsamts des Innern schreckt den Arbeiterführer mit der Nachricht, dass die Gewerkschaften in England arbeitersparende Maschinen verbieten wollen. Darauf entgegnet der, was bereits im Streit um die Miquel`sche Finanzreform zum Tragen kam, dass die steigenden indirekten Steuern für die Arbeiter eine hohe Belastung darstellen. Und er warnte davor, auf die jetzigen Einnahmen, künftige Ausgaben zu setzen. "In einer Beziehung muss ich ihm beipflichten", antwortet Posadowsky:

"Man muss der stärkeren Belastung der nothwendigen Verbrauchsgegenstände vorsichtig sein. Aber die Arbeiter haben unter der bisherigen Zollpolitik doch nicht gelitten. Die Preise der nothwendigen Verbrauchsgegenstände sind ausnahmslos gesunken, die Löhne aber sind gestiegen."

Im Ergebnis der Zollgesetzgebung erfolgt 1901/02 eine spürbare gesellschaftliche Umverteilung von unten nach oben, die Der Wahre Jacob aus Stuttgart schlicht als

"Transfusion"

bezeichnet. Löst der Kanzler mit seinen Reden, klagt im Februar 1906 Georg Oertel (*1856), Chefredakteur der großbürgerlichen "Deutschen Tageszeitung" und Autor von "Der Konservatismus als Weltanschauung" (1893), auf der linken Seite des Parlaments Entrüstungsstürme aus, wird "sein Stellvertreter [Graf von Posadowsky] nicht selten durch lebhaften Beifall der Sozialdemokratie gelohnt." (VS 13.2.1906) In der wilhelminischen Zeit prominent, beliebt bei den Liberalen und Teilen des Zentrums, oszillierende Ab- und Zuneigung bei den Konservativen. Die SPD ihm gewogen, doch stets in der Angst, dass er den Industriebündlern oder Agrariern verfällt. So baute sich um ihn eine ungewöhnliche Konfliktlage auf. "Posadowsky war ein Fremdkörper in der wilhelminischen Regierungswelt," skizzierte sie 1932 das Berliner Tageblatt, "in die ihn das Schicksal gestellt hatte. Sein Ernst und sein reines Wollen hat stets in allen politischen Lagern, und oft am meisten bei den Gegnern seiner konservativen Anschauungen, Anerkennung gefunden."

 

 

Schwierigkeiten mit Posadowsky zurück

Eine Suchanfrage im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig unter "Posadowsky-Wehner, Arthur" brachte elf Titel (Angaben) zum Vorschein. Ein bedeutungsschweres und zugleich mageres Angebot für eine historische Persönlichkeit dieses Formats, was, wenn auch ziemlich richtungslos, auf Darstellungs- und Rezeptionsprobleme hindeutet. Selbst in seiner letzten Heimatstadt fällt der Politiker und Dechant des Naumburger Doms nach seinem Tod 1932 schnell in Vergessenheit, was man unschwer an Hand des Bestandes der Sekundärquellen im Stadtarchiv Naumburg (Saale) feststellen kann. Nach 1990 erfolgt die historische Neuvermessung. Zunächst nicht durch die Stadthistoriker, die intensiv vor allem mit der in Naumburg vor 1945 stationierten Wehrmacht, dem Leben des Fotografen, Maler und Regisseur Walter Hege oder mit der städtischen Bautätigkeit und Architekturentwicklung befasst sind. Viel öffentliche Aufmerksamkeit zog die Einweihung des Nietzsche-Denkmals am 15. Oktober 2007 und die Eröffnung des Nietzsche Dokumentationszentrums im Oktober 2010 in der Wenzelsgasse 18 auf sich. Eine Unzahl, nur noch schwer zu erfassender Aufsätze über historische Persönlichkeiten der Stadtgeschichte entstehen. Nur eben keiner über .... Und, Posadowsky? Wer war das, bitte?

2006 erschien von Joachim Bahlcke der Aufsatz: Sozialpolitik als Kulturaufgabe. Zu Leben und Wirken des schlesischen Politikers Arthur Graf von Posadowsky-Wehner (1845-1932). Und Simone Herzig veröffentlichte 2012: Die "Ära Posadowsky". Posadowskys Beitrag zur staatlichen Sozialpolitik im deutschen Kaiserreich.

Als Staatssekretär und Vizekanzler des Deutschen Reiches galt er den einen als belastet, der besser im Dunkel der Geschichte verbleibt. Anderen war er nicht interessant genug, weil sich seine Tätigkeit als Staatssekretär des Reichsschatzamtes und des Inneren wesentlich über den Reichstag realisierte. "Von der Volksvertretung war vollends nicht zu erhoffen", legt Johannes Haller (148) in der 1923 erschienenen Schrift "Die Aera Bülow" (146) dar. Sie "ist nie über ein ohnmächtiges und gänzlich unverbindliches und unwirksames räsonieren hinausgekommen und hat alle großen und kleinen Fehler der Regierung teils geduldet, teils mit lebhaftem Beifall unterstützt." Daran stimmt so gut wie nichts. Anderrnfalls würden die heftigen politischen Feuergefechte zwischen Arthur Graf von Posadowsky-Wehner und August Bebel zur Rolle der Gewerkschaften, den Streiks, zur Zollpolitik (1901/02) Zuchthaus-Vorlage (1898/1901), Flottenpolitik, Sozialgesetzgebung und Koalitionsrecht in die Rubrik unwirksames räsonieren fallen. Von den Debattenbeiträgen aus dem konservativen Lager, etwa zur Europa-Idee, durfte man nach Haller vollends nichts erhoffen. Und die schweren Attacken von Eugen Richter gegen den Militarismus reduzierten sich auf eine Kritik an kleinen Fehler der Regierung. Vermutlich resultiert seine Perspektive aus einer krassen Form von Voreingenommenheit gegenüber dem Parlamentarismus, die von einem Geruch empirischer Verluderung umweht, was wiederum gravierende Fehleinschätzungen zum Einfluss der Parteien auf die Politik, ihre Wirkung auf Wilhelm II. und die Öffentlichkeit zur Folge hat. Es pflanzt sich in seiner politischen Haltung zum monarchischen Denken und politischen Geringschätzung der Weimarer Republik fort. Derartige Dogmen ebneten antiliberalen und demokratiefeindlichen Bewegungen den Weg. Diffundieren sie als Kautelen in die Geschichtspolitik, erschweren sie die historische Aufarbeitung, eben besonders von Persönlichkeiten des Typs Posadowsky.

Natürlich beeinflußten noch andere Moden und Machtverhältnisse die historische Aufarbeitung ungünstig. Es mutet paradox an, war aber so: Die einen störte seine Regressivität, während andere die konservative Progressivität abstieß. Im gesamten linken Lager dominiert nach 1918 eine politische Haltung, die liberal-konservative Persönlichkeiten als Reaktionär verfemte. (Siehe Kapitel "Das nationale Erbe".)

Bestimmte politische Bewegungen und Politiker ignorierten Posadowsky`s Beitrag zur Lösung der Wohnungsfrage für die Unterschichten, seine Leistungen auf dem Gebiet der Staats- und Rechtstheorie und Geldpolitik in der Phase der Hyperinflation und Aufwertungsgesetzgebung.

Vertreter vom rechten Ende des politischen Spektrums ordneten ihn in die Krise des konservativen Denkens ein und erschwerten damit auf ganz andere Weise die Rezeption seiner politischen Gedanken.

Darüber hinaus existieren von Leopold von Wiese (1909), Martin Schmidt (1935) oder Karl Erich Born (1957) Arbeiten zum Leben und Werk von Posadowsky-Wehner, denen es an wissenschaftlicher Objektivität mangelt. Dies 2012 (47) festzustellen, Simone Herzig nicht umhinkam.

1961 erschien in Ost-Berlin das Buch "Deutschland von 1897/98 bis 1917". Autor Fritz Klein (1924-2011) suchte auf 408 Seiten eine Antwort auf Fragen, wie: Was war das 1914 für ein Deutschland? Welche politischen Kräfte drängten zum Krieg? Waren die kapitalistischen Konkurrenzverhältnisse die Ursache? Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus dem Ersten Weltkrieg für die deutsche Politik in Europa und der Welt? Ob nun marxistisch, dogmatisch, ökonomistisch oder konkret-historisch, ist jetzt in diesem Moment nicht von Interesse. Aber es war doch ein notwendiges Buch, nachdem Intellektuelle und politische Bürger in Ost- und Westdeutschland, vielen Ländern Europas und Kontinenten dürsteten.

Bei der historischen Aufarbeitung des deutschen Kaiserreichs macht es einen großen Unterschied, ob es als repressiv, ausbeuterisch, militaristisch, expansiv und krisenanfällig erklärt oder als ein "sehr vielschichtiges, schillerndes, unfertiges, politisches Wesen, in seiner föderalistischen Struktur, mit seinen verschiedenen Parlamenten" (The Secrets of the Kaiser, 1987, ab 36:00 Minute) erkannt wird. Im ersten Forschungsprogramm schwindet auf regionaler Ebene der Raum für eine kritische Aufarbeitung und Würdigung des Politikers Graf von Posadowsky, weil er lediglich als Vollzugsorgan und Abziehbild des Systems erscheint. So konnte nach dem Zweiten Weltkieg in Naumburg an der Saale lang Zeit kaum ein Interesse an seiner Person aufkommen. Verbunden damit sind die Versäumnisse der Oral-History Forschung, dachte man doch überhaupt nicht daran, ihm in die Vergangenheit zu folgen.

Derartige Schwierigkeiten können durch ein offenes Forschungsprogramm bei der Aufarbeitung und Darstellung seiner politischen Tätigkeit vermieden werden. Allerdings muss es gelingen die Historizität der ökonomischen, staats- und rechtspolitischen Prozesse empirisch so genau wie möglich zu beschreiben. Welche politischen Schlüssel- und Nullerlebnisse, eingelassen in die konkreten kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse der Zeit, prägten ihn? Unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen musste er die Entscheidungen als Sozial-, Handels-, Finanz- und Geldpolitiker treffen? Warum entschied er sich so und nicht anders? Wer waren seine politischen Partner und Gegner und wie reagierte er auf sie? War er wirklich ein Arbeiterfreund? Vertrat er ihre Interessen?

 

 

Aus dem Lebenslauf  zurück

Die Naumburger kreuzten seinen täglichen Weg mit Ehrfurcht und freundlichem Respekt. "Zu meiner Zeit saß in der Kurie der schlesische Graf von Posadowsky-Wehner", rekonstruiert 2006 Hans-Gert Kirsche die Begegnung mit ihm, "seinerzeit Böttichers [auch Boetticher] Nachfolger im Reichsamt des Inneren und später Reichstagsabgeordneter der Deutschnationalen Volkspartei. Er sah aus wie der leibhaftige Weihnachtsmann, denn er trug einen riesigen weißen Vollbart vor sich her, und war in der Stadt, wo man ihn häufig auf den Straßen sah, sehr beliebt. Als er [am 23. Oktober] 1932 starb, folgte fast ganz Naumburg seinem Sarge, es war wie ein Staatsbegräbnis."

Arthur Graf von
Posadowsky-Wehner
(1894)

Dr. jur., Dr. theol. h. c., Dr. med. h.c. Staatsminister und Staatssekretär a. D. Arthur Graf von Posadowsky-Wehner wurde am 3. Juni 1845 als Sohn des Oberlandesgerichtsrats Graf von Posadowsky und seiner Ehefrau Amalie, Familienname von Plötz, in Groß-Glogau geboren. 1864 verlässt er das hiesige Evangelische Gymnasium mit der Reifeprüfung und studiert in Berlin, Heidelberg und Breslau Jura. Im Jahre 1867 erfolgt an der Universität Breslau die Promotion zum "Dr. jur.". Anschließend Auskulator und Referendar am Stadtgericht Breslau.

Nachdem er in der schlesischen Hauptstadt das zweite juristische Staatsexamen abgelegt hatte, quittiert er den Justizdienst. Im Kreis Gnesen erwirbt die Familie das Gut Welna. Der Jung-Akademiker sammelt praktische Erfahrungen und Kenntnisse bei der Führung eines landwirtschaftlichen Betriebes. 1871 wechselt Posadowsky als Regierungsreferendar und -assessor wieder in den preußischen Staatsdienst nach Posen. Im gleichen Jahr heiratet er Elise von Moeller, die Tochter eines Präsidenten eines Appellationsgerichts. Gemeinsam ziehen sie zwei Söhne und zwei Töchter groß. Ein Sohn verstirbt früh.

Ab 1873 folgen die Tätigkeiten als Landrat, späetzr als Direktor der provinzial-ständischen Verwaltung beziehungsweise Landhauptmann der Provinz Posen.

 

 

Landrat und Landeshauptmann

 

Die Posener Zeit   zurück

Von 1873 bis 1893 ist Graf von Posadowsky in verschiedenen Funktionen der 28 992 Quadratkilometer großen Provinz Posen tätig.

Elsaß ist zum Schutze Süddeutschlands notwendig,
P o s e n  zum Schutze der Ostgrenze des deutschen Besitzes,

erklärt am 17. September 1894 Otto von Bismarck der Posener Huldigungsdeputation beim ihrem Eintreffen auf Schloß Varzin.

Tiefe Friktionen durchziehen das Land. National vom Kulturkampf aufgebürstet, ökonomisch unterentwickelt und durch unkontrollierte Einwanderung in den Arbeitsmarkt mit ethnischen Konflikte belastet, atmet die Region ungestillte Gegensätze.

Bismarck verschärft 1885/86 die Maßnahmen der Germanisierungspolitik (Sprache, Ansiedlungsbedingungen). Als Prinzip gilt, zwei Millionen Polen können für die übrigen 48 Millionen Deutschen "nicht maßgebend sein" (Bismarck). Praktisch sah das so aus, berichtet am 13. Dezember 1897 der Jurist Sigismund von Dziembowski-Pomian (1858-1918) dem Deutschen Reichstag:

"Germanisation geht vor dem Recht, vor der Kultur und vor der Wohlfahrt der polnischen Bevölkerung."

Verbunden mit rücksichtslosen und antisemitischen Ausfällen werden in den preußischen Ostprovinzen zwischen 1885 bis 1887 35 000 Polen ausgewiesen.

Obwohl 1849 mehr als 40 000 katholisch Deutsche in Polen und Westpreußen polonisiert wurden, verschwinden ganze deutsche Ortschaften. was sich mit dem Zurückweichen der deutschen Bevölkerung kreuzt (überlagert).

In Reaktion darauf breiten sich übers Land zahlreiche Vereine aus. Angeführt von polnischen Geistlichen oder Edelleuten propagieren sie ihren nationalen Gedanken und bringen so das Polnische im hohen Maße zur Geltung. Allein in Posen gibt es 1885 über einhundertfünfzig dieser bäuerlichen Vereine. Ihr Einfluss bei den Wahlen, ist bereits zu spüren. In Galizien, Russland und Westpreußen wächst ständig das Nationalgefühl der Polen.

"Die polnisch-nationale Bewegung wurde durch den Kulturkampf in einer für den preußischen Staatsgedanken gefährlichen Weise gestärkt." (H. von Arnim / v. Below 38)

[Tätigkeit als Landrat in Wongrowitz und Kröben  zurück] Von 1873 bis 1877 steht Arthur Graf von Posadowsky-Wehner als Landrat im Regierungsbezirk Bromberg dem Kreis Wongrowitz mit 54 787 Einwohnern vor. Ganze Landstriche gleichen einer wahren Sandbüchse.

In die Wongritzer Zeit [zurück] fällt die Durchführung der Reichstagswahlen am 10. Januar 1874 in Blotnica Strzelecka, deutsch Blottwitz. Wie üblich richten die Verantwortlichen zu diesem Anlass ein Wahllokal ein. Gleich am Eingang befindet sich die Wohnung des herrschaftlichen Wirtschaftsbeamten Dworafek, der offenbar dazu berufen, die eintreffenden Wähler, welche zur Abstimmung in das dazu bestimmte Zimmer gehen wollten, vorher mit einem Schnaps zu traktierten (Berichtssprache). "Der Wahlvorsteher Graf von Posadowsky-Wehner ging während des Wahlaktes hinaus und sagte zu Denen, welche im Hausflur und vor dem Hause standen:

"Ihr bekommt nicht Waldstreu, nicht Holz von mir zu kaufen, wenn Ihr für den Fürsten Radziwill, aber nicht für den Herzog v. Ujest stimmen werdet.""

Einer nach "strengeren Beurtheilung hinneigende Mehrheit" erkannten bei der Wahldurchführung in Blottwitz klar eine Beeinflussung der Bürger durch den Wahlvorstand. Es betraf sowohl die Gewährung von Genussmitteln unmittelbar vor der Wahl und natürlich die Drohung mit Nachteilen unter Missbrauch dienstlicher Obliegenheiten nach der Wahl. (Bericht von Pfarrer Carl Gratza, 1820-1876).

Herzog von Ujest gewann das Reichstagsmandat, musste es aber nach Prüfung durch die Wahlprüfungskommission des Reichstages 1875 niederlegen, nachdem diese den Vorgang für ungültig erklärt hatte. Am 24. September 1875 wurde die Wahl wiederholt. Herzog von Ujest verlor gegen Carl Gratza von der Deutschen Zentrumspartei.

Von 1877 bis 1885 regiert Graf von Posadowsky im Regierungsbezirk Posen als Landrat den Kreis Kröben mit 48 850 Einwohnern (Stand 1905). Der Sitz des Landratsamtes befindet sich in Rawicz (deutsch: Rawitsch) mit 8 316 Einwohnern (Stand 1837).

[Gegen die Polen  zurück] Die polnische Gefahr ist noch größer als die russische, erklärt Otto von Bismarck 1894 auf Schloß Varzin und stachelt damit den deutschen Chauvinismus zum Kampf wider die Polen, zur Kollision mit dem Adel und der polnischen Geistlichkeit an. "Es scheint," kommentiert am 27. September 1894 das Volksblatt aus Wien, "der alte Kanzler kann ohne "Reichsfeinde" nicht leben, hat er keine, so malt er sich welche." "Wir kämpfen nicht mit der polnischen Bevölkerung im Allgemeinen", besänftig der Altkanzler die "teutschen Männer" der Huldigungsdeputation, "sondern nur mit dem polnischen Adel und seiner Gesellschaft." Die Realitäten waren andere. Im Kampf gegen "den unheilvollen Einfluß" der Polen leiteten die Deutschen 1885 in Ostpreußen folgende Ideen:

Erstens. Stärkung der wirtschaftlichen Lage Ostpreußen um jeden Preis. Der Deutsche, welcher ein besseres Leben gewöhnt ist als der Pole, bedarf der Hebung der wirtschaftlichen Lebensverhältnisse.

Zweitens. Die Beamten müssen streng gegen jede Polonisierungstendenzen vorgehen. "Der Pole als Sklave will streng und energisch behandelt sein."

Drittens. Die Entstehung der polnischen Beamten erfolgt in den deutschen Gebieten unter Heranziehung deutscher Beamten. Eine Säuberung der Lehrerkollegien ist emphelenswert.

Viertens. "Beseitigung des Kulturkampfes ohne Rücksicht auf den päpstlichen Stuhl."

Fünftens. Strenges Festhalten an der 1873 erlassenen Verordnung über die Handhabung der deutschen Sprache in den polnischen Gebieten.

Sechstens. Errichtung eines großen deutsch-nationalen Bundes zum Schutze des bedrohten Deutschtums in den wichtigen deutschen Ostmarken. "Jedenfalls würden diese Mittel hinreichen, das weitere Umsichgreifen des polnischen Elementes in Posen und Westpreußen zu verhindern." (Die polnische Bewegung in Deutschland 1885)

[Ernährungslage  zurück] Wie unter einem Brennglas fokussieren sich in der Ernährungslage die Lebensbedingungen der Land- und Industriearbeiter der jeweiligen Region. Noch immer war sie im Posener Land gravierend schlechter als in den fruchtbaren Gegenden von Ost- und Westpreußen oder Pommern. Meist bestand die Kost der Landarbeiterfamilien aus Milch und Mehlsuppe, Erbsen und Sauerkraut, oft mit Kartoffeln. Fleisch und Brot gelangt weniger auf den Tisch als anderswo. Statt der acht bis zehn wöchentlichen Fleischmahlzeiten der Landarbeiter, erhält das Gesinde günstigenfalls vier. Bedingt durch hohe Branntweinpreise, nahm die Trunksucht ab. Uneheliche Geburten, Feld- und Forstdiebstahl sind eine alltägliche Erscheinung. Das Inzestverhältnis entschärft sich durch den starken Zustrom ausländischer Landarbeiter.

[Bodenfrage  zurück] Fast verschwunden war, erhob 1892 der von Max Weber gezeichnete "Schlussbericht über die Provinz Posen", die Bereitschaft zum Grunderwerb, weil die Besitzlosen zwar den Kaufpreis für den Boden, nicht aber das Baukapital abtragen konnten. Oftmals bestand die Neigung zum Sparen, was jedoch später regelmäßig zur Überschuldung führte und sich deshalb nicht fortsetzte. Offenbar kommen die Bestrebungen zur Parzellierung, also der Seßhaftmachung, nur schwer voran und werden durch die widersprüchliche soziale Lage ausgebremst. Die Bodenpreise stiegen weiter.

Das Ansiedlungsgesetz vom 26. April 1886 ermöglichte, den aufgekauften polnischen Großgrundbesitz an deutsche Siedler zu vergeben. Als Folge des Kampfes zwischen der Ansiedlungskommission der preußischen Regierung und dem polnischen Grundbesitz erhöhten sich die Bodenpreise zwischen 1896 und 1904 von 560 Mark pro Hektar auf 1025 Mark pro Hektar Land. (Vgl. Fesser 1991, 77)

Gnesen um 1900 (Teilansicht)

"Entscheidend ist ferner bei den Polen die Untüchtigkeit der Frauen. So tüchtig das polnische Mädchen als Arbeiterin ist, so untüchtig ist sie als Frau." Zugeteilt auf dem leichten Boden im Kreis Mogilno, ging es den Parzellenbesitzern nicht gut. Auch im Kreis Gnesen haben sie nur auf besseren Boden bestand.

Die Idee "große Inseln des Deutschtums im polnischen Meer" (Bülow) zu schaffen, wurde nicht aufgegeben. Kaum hatte Posadowsky-Wehner im Juni 1907 den Regierungsapparat verlassen, da brachte Bülow am 26. November desselben Jahres im preußischen Abgeordnetenhaus den Entwurf eines Gesetzes ein, das es erlaubte, polnischen Grundbesitz zu enteignen.

Am 26. Juli 1912 setzt der Preußische Landtag die umstrittene Ansiedlungspolitik fort und beschließt das Gesetz über Stärkung des Deutschtums in einigen Landesteilen. Gemäß dem Ansiedlungsgesetz von 1886 erhielt die Ansiedlungskommission durch das Besitzbefestigungsgesetz für die Ostprovinzen 100 Millionen Mark zum Erwerb von Grundbesitz in Westpreußen und Posen.

[Der kapitalistische Weg  zurück] Die Zeit, als nach 1873 deutsche Wanderarbeiter Lebensansprüche in die slawische Bevölkerung trugen, wurde verdrängt durch die Invasion billiger, besonders russischer Arbeitskräfte. Die Landwirte im Osten sind g e z w u n g e n, hält Posadowsky am 13. Dezember 1896 im Reichstag August Bebel vor, grosse Massen von ausländischen Schnittern und Erntearbeitern heranzuziehen, um die Ernte von den Gütern zu bergen. Das ruinierte den Bestand freier Tagelöhner, senkte das Lohnniveau und verdrängte die einheimischen Arbeitskräfte.

Der Landwirt, das ist nicht sein Schuld, ist ein kapitalistischer Unternehmer geworden beobachtet 1897 Georg Schiele in Zur Polenfrage (9). "Er hat sich nicht um sozialpolitische Folgen zu kümmern, sondern er soll vor allem seinen Geldverpflichtungen nachkommen."

Zunächst untersucht Karl Kautsky (1854-1938) 1899 in der Schrift "Die Agrarfrage" die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Formen und Größen landwirtschaftlicher Betriebe. Nachdem er die ökonomische Überlegenheit des Großbetriebes begründet, weist er er als Nächtes auf die Vorteile des Kleinbetriebs hin, den größeren Fleiß und die Sorgfalt des Arbeiters sowie Bedürfnislosigkeit des kleinen Landwirts. Hingegen bringt der Großbetrieb den kapitalistischen Weg der Landwirtschaft zur Geltung. Von den laut Betriebszählung 1895 existierenden 527.600 landwirtschaftlichen Betrieben sind noch immer 76 Prozent in den Händen der Kleinbauern.

[Ein Parteisekretär?   zurück] "Die Landräte in Preußen wirken wie Parteisekretäre für ihre politische Richtung, auf die mittleren und unteren Beamten wird mit terroristischen Mitteln ein gesetzwidriger Zwang zur Unterstützung der Konservativen ausgeübt." Diese Aussage von Ludwig Frank 1911 in "Die bürgerlichen Parteien des deutschen Reichstags" (21) kann, was wir bisher über Posadowsky wissen, nicht auf seine in Posen übertragen werden. Vielmehr ist zu erkennen, dass er bei der Bewältigung der wahrlich schwierigen innenpolitischen Lage in Verantwortung für das Ganze mit Einfühlungsvermögen, Augenmass, menschlichem Geschick und Verständnis handelt. "Ich habe 25 Jahre unter Polen gelebt und kenne sie ganz genau", lässt er 1930 den Preußischen Landtag an seinen Erfahrungen teilnehmen. "Ich kenne ihre guten Eigenschaften, aber auch ihre Schattenseiten ...." Sein soziales, politisches und fachliches Urteil folgt weder Oberflächlichkeiten noch der Verschlagwortung der Politik.

"Ich bin stets
für Achtung und Anerkennung
der polnischen Eigenart,
die mir wohlvertraut ist" (V&R 225),

sagte er von sich. Die Nachrichten aus den nachgewiesenen Quellen über seine Tätigkeit als Landrat und Landeshauptmann, bieten keinen Grund daran zu zweifeln.

Wongrowitz, Breitestraße,
um 1900 (Teilansicht)

[Kulturkampf  zurück] In beiden Landkreisen, die Posadowsky von 1873 bis 1885 in der Provinz Posen regierte, überwog die polnisch-sprachige Bevölkerung. Von den 54 787 Einwohnern im Landkreis Wongrowitz waren  78 Prozent Polen, 20 Prozent Deutsche und 2 Prozent Juden. Von den 48 850 Einwohnern (1905) im Landkreis Kröben waren 26 781 Bürger polnischsprachig. Das dem Deutschtum der Totalverlust drohte, war bereits damals sichtbar. Es war in der Minderheit und bot keine wirkliche Stütze. "Dicht bei Posen liegen Dörfer", erinnert er sich 1920,"deren Frauen bei festlichen Gelegenheiten zwar noch die alte Bamberger Tracht tragen, aber ihr Deutschtum in Sprache und Sitte vollkommen verloren haben."

"Graf Posadowsky suchte die Kulturkampfgesetze in sachlicher, das religiöse Gefühl der katholischen Bevölkerung möglichst schonender Weise durchzuführen; gleichzeitig bemühte er sich, ohne Ansehen der Nationalität, die wirtschaftlichen Interessen der Kreisbevölkerung zu fördern, und fand hierfür dankbar Anerkennung. Besonders erhob er seine Stimme gegen kleinliche bureaukratische Maßregeln der Regierungsbehörden, welche die polnische Bevölkerung verbitterten, ohne irgendwelchen Erfolg für die Befestigung der deutschen Herrschaft zu erreichen, so zum Beispiel gegen das rücksichtslose Umtaufen geschichtlicher oder für einzelne Familien bedeutsamen alter Ortsnamen von Gutsbezirken, eine Maßregel, die umso wirkungsloser war, als die mit dem Gutsbezirk in räumlichen Zusammenhang liegenden Gemeinden ohne ihre Zustimmung einen anderen Namen nicht erhalten konnten und so derselbe Ort häufig zwei Namen führte." (H. von Arnim / v. Below 388)

Kreisständehaus und Landratsamt Gnesen um 1900 (Teilansicht)

[Schulwesen  zurück] Im Kulturkampf um die preußische Kirchen- und Schulpolitik entstanden zwischen Bürger und Staat immer wieder Spannungen, die oft in alltägliche Dinge hineinspielten und sie in unterschiedlicher Stärke überlagerten.

Besondere Aufmerksamkeit widmete Posadowsky "der Entwicklung des ländlichen Schulwesens, welches arg daniederlag." "Die Kinder der zerstreut wohnenden evangelischen Bevölkerung waren durch den Besuch polnisch-katholischer Schulen der Gefahr der Polonisierung in hohem Grade ausgesetzt. Die Regierung hielt mit Recht darauf, daß die Kinder der polnischen Einsassen in der Schule die deutsche Sprache erlernten; da aber die Schulen meist überfüllt waren und ein Lehrer häufig 80 Kinder, ja über 100 Kinder zu unterrichten hatte, so wurde der deutsche Unterricht nur zu einer äußeren Abrichtung, bei dem es zu einem Verständnis des Deutschen und zur Fähigkeit deutschen Gedankenausdrucks nicht kommen konnte. .... Durch die dargestellten Verhältnisse und die unkluge Art der Durchführung des deutschen Schulunterrichts, auch im Religionsunterricht, führte wohlbegründete Förderung der Regierung zu einer ablehnenden und verbitterten Haltung der polnischen Bevölkerung. Trotz dieser Schwierigkeiten begründete Posadowsky eine große Anzahl neuer Schulzirkel." (H. von Arnim / v. Below 388/389)

[Verkehrsverhältnisse  zurück] "Um die Verkehrsverhältnisse zu fördern, arbeitet Posadowsky im Jahre 1879 anderweite, den Zeitverhältnissen Rechnung tragende, den Kunststraßenbau erleichternde allgemeine Bestimmungen aus, welche demnächst im Wesentlichen von dem Provinziallandtag angenommen wurden und seitdem die Grundlage für eine kräftige Entwicklung des Kunststraßenbaus in der Provinz bildeten. Ebenso war es ein schwerer Mangel, daß die Stadt und der Regierungsbezirk Posen nicht durch eine kürzeste Eisenbahnlinie mit der überwiegend deutschen Stadt Bromberg und dem östlichen Teil dieses Regierungsbezirkes verbunden waren. Graf Posadowsky trat deshalb als Abgeordneter für eine Entwicklung des Eisenbahnnetzes in der Provinz und namentlich für eine unmittelbare Verbindung zwischen den beiden Regierungshauptstädtchen Posen und Bromberg in, eine Forderung die demnächst durch den Bau entsprechender Eisenbahnlinien erfüllt wurde." (H. von Arnim / v. Below)

 

 

Der Erste Hauptsatz der Sozialpolitik   zurück

"Arbeit war der erste Preis oder ursprünglich das Kaufgeld, womit alles andere bezahlt wurde. Nicht mit Gold oder Silber," erklärt Adam Smith 1776 in Der Wohlstand der Nationen die Grundlagen des Wertbildungsprozesses, "sondern mit Arbeit wurde aller Reichtum dieser Welt letztlich erworben." Von dieser Erkenntnis wird Posadowsky`s sozialpolitisches Denken getragen. Nicht von den englischen Ökonomen, vermutlich eher von den deutschen Nationalökonomen Adolph Wagner (1835-1917) und Gustav von Scholler (1838-1917) inspiriert, doch stets gegen den Laissez-faiere-Pluralismus gerichtet. Zunächst vernachlässigen wir diese theoriegeschichtliche Entwicklung, ändert sie ohnehin nichts daran, dass die Sozialgesetzgebung nach Überzeugung von Graf von Posadowsky dem Erhalt und der Pflege der Produktivkraft Arbeit, in Industrie und Landwirtschaft, mit ihren Opfern, Anstrengungen, Mühen und Artefakten gilt. Damit ist nicht das Lied des Ökonomismus angestimmt. Es ist lediglich der Einsicht Geltung verschafft, dass Humanität auf der gegenwärtigen menschlichen Ziviliationsstufe noch immer auf Arbeit und Schöpfertum gründet.

 

Veröffentlichungen
(Auswahl)

Altersversorgung der Arbeiter
1883

Geschichte des schlesischen uradligen Geschlechts der Grafen Posadowsky
1891

Geschichte des schlesischen adligen Geschlechtes der Grafen Posadowsky-Wehner, Freiherren von Postelwitz
1891

Luxus und Sparsamkeit
1909

Die Wohnungsfrage als Kulturproblem
1910

Weltwende.
Gesammelte politische Aufsatz von Graf Posadowsky
1920

Volk und Regierung im neuen Reich
1932

 

Als Landrat hat er auf die Sozialgesetzgebung keinen Einfluß. Trotzdem kann er die materiell-ökonomischen Verhältnisse der Landarbeiter und des Gesindes, einschließlich ihrer Familien, in den Kreisen Wongrowitz und Kröben in Grenzen mitgestalten und erlebt, wie schwer es ist und von wieviel tausend Bedingungen es abhängt, sichere, soziale, menschliche Verhältnisse und etwas Wohlstand zu erarbeiten. Im Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter leben die Bürger in Wongritz und Kröben im Haupt- und Nebenerwerb von der Landwirtschaft. Es darf nichts Außergewöhnliches passieren. Jede Missernte, jeder Ernteeinbruch, jede Havarie könnte für sie wirtschaftliche Not bedeuten. Das Durchschnittseinkommen einer ländlichen Arbeiterfamilie im Osten Deutschlands, berichtet 1893 dem Reichstag 1893 der Vertreter von Königsberg-Stadt Carl Schultze (1858-1897), Herkunft Arbeiter, beträgt nach Abzug der Kosten für die Scharwerke jämmerliche 288 Mark im Jahr.

Befeuert von der um 1860 in Deutschland verspätet einsetzenden und schnell fortschreitenden industriellen Revolution, entsteht eine neue Klassenstruktur der bürgerlichen Gesellschaft. Verbunden damit wieder ein in historischen Dimensionen sich in den verschiedenen Klassen und Schichten vollziehender Wertewandel, der sich in Streit und in der Debatte um die soziale Frage artikulierte. In ungezählten politischen Aufsätzen und Berichten, verfasst von Politikern, Journalisten, Arbeitern und Akademikern, löste sie sich öfters in Geschwätz auf. Karl Marx griff dies am 1. Februar 1849 mit einer sarkastischen Replik in der Neuen Rheinischen Zeitung auf. Es kann keine Rede davon sein, stellte er fest, daß "d i e soziale Frage" eine "unendlich wichtige" ist. Vielmehr besitzt "jede Klasse ihre e i g e n e soziale Frage". Mit "dieser sozialen Frage einer bestimmten Klasse" ist dann "auch zugleich eine bestimmte politische Frage für diese Klasse gegeben." Posadowsky sucht den Ausgleich, während Marx nach den Ursachen der Ungleichheit fragt. Trotz des erkennbaren Unterschieds zwischen konservativer und sozialistischer Denkweise, treffen beide zur sozialen Frage als Klassenfrage ihr Arrangement. Allerdings ermöglicht dies noch nicht die Wende zu einer progressiven Sozialpolitik. Eine soziale und bedürfnisorientierte Existenzweise der produktiven Klassen erforderte einen allgemein anerkannten Begriff der Sittlichkeit. Erst muss sich in den Klassen, Schichten und Gruppen der Gesellschaft ein soziales Bewusstsein von ihrer materiell-ökonomischen Lage bilden, aus der sich dann Ideen zur Praxis der modernen Sozialpolitik herauskristallisieren. Je genauer und nachhaltiger die soziale Frage in das politische Bewußtsein drang, umso mehr musste die Entlohnung der Arbeit im weit höherem Maße als in vorangegangen Epochen der Gleichheit und Gerechtigkeit in der Praxis Rechnung tragen. In etwas schwieriger Diktion, aber mit klarer Aussage, verweist Posadowsky auf den wichtigen historischen Schritt: "Wenn man aber unter Kultur versteht, dass alle Volkskreise sich eines Lebens erfreuen, welches den notwendigen Mindestanforderungen des menschlichen Daseins entspricht, so genügte der äußere Glanz gewisser Zeitabschnitte der Vergangenheit dem Sittlichen und wirtschaftlichen Begriff der Kultur keineswegs." (V&R 127) Er erkannte, dass das Lebensniveau der Landarbeiter und des Gesindes, einschließlich ihrer Familien, mehr vom Kulturstand als direkt von der Fruchtbarkeit des Bodens abhing. Daraus schöpfte er den Ersten Hauptsatz der Sozialpolitik:

"Wer die Kultur eines Volkes heben will, muss daher die wirtschaftlichen Lebensbedingungen und die geistige und sittliche Bildung der großen Masse zu ergründen und zu heben suchen." (Zitiert nach Wohnungsfrage 5.11.1911)

Von den Erfahrungen der Posener Zeit geformt, wird er dereinst in Berlin die Sozialpolitik als Kulturaufgabe proklamieren. Wenn es sich anbietet, spricht er vor dem Plenum des Reichstages über die "schlechten Verhältnisse des Ostens". Am 28. November 1893 hört es sich in der Beratung zum Etat- und Anleihegesetz so an: Wenn sie nur zwei Jahre, unter diesen Verhältnissen gelebt hätten, dann würden sie ganz anders denken.

 

 

Arbeitsethos, Disziplin und Ordnung  zurück

Das Ganze über das persönliche Interesse heben. Bescheidenheit im täglichen Leben üben. Vorangehen! Nicht aber ins Rampenlicht drängen. Dabei zusammen mit den Bürgern und Mitarbeitern anschauliche und greifbare Vorstellungen von der Zukunft entwickeln. Vor allem: Wie kann man besser werden? Geschickt lernte er als Landrat, sich in konfliktreichen Räumen zu bewegen. Dabei konnte er seine Kenntnisse in der administrativen Leitung und Organisation von Verwaltungsprozessen vervollkommnen. "Er arbeitete rastlos und lebte asketisch", erinnert sich 1932 Marie von Bunsen. So läst sich sein Arbeitsethos umschreiben.

Disziplin und Ordnung, darauf spielt im November 1932 das Posener Tageblatt an, führen bei ihm ein strenges Regime. Seiner Beliebtheit war das nicht immer zuträglich. "Selbst eine Arbeitskraft ersten Ranges, galt er als außerordentlich scharf hinsichtlich seiner Anforderungen an die ihm unterstehende Beamtenschaft. Wer von seinen Leuten nicht am Morgen pünktlich mit dem Glockenschlage an seinem Pulte saß, hatte nichts zu lachen, und wie ein Flugfeuer verbreitete sich bald nach seinem Dienstantritte in Posen von Mund zu Mund die Kunde, dass einer der Räte der Landeshauptmannschaft, der eines Morgens etwa verspätet zum Dienst gekommen war, in seinem Dienstzimmer auf dem Tische die Visitenkarte des neuen Chefs vorgefunden hat." "Nachdem in den übrigen Provinzen eine neu zeitgemäße Provinzialordnung eingeführt war, hegte die deutsche und polnische Bevölkerung den dringenden Wunsch, dass auch die Provinz Posen die provinzielle Selbstverwaltung durchgeführt würde." Bisher besorgten hier die Mitglieder des Oberpräsidiums und der Regierung nebenamtlich die Geschäfte, ohne dass die einzelnen Verwaltungsgebiete untereinander organisch verbunden waren, wodurch die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung der Provinz schweren Schaden erlitt.

Endlich gelang es im Jahre 1885, nach den entschiedenen Drängen der Provinzstände, dass für die einzelnen Verwaltungszweige der provinziellen Selbstverwaltung wenigstens ein und dieselbe Persönlichkeit im Hauptberufe gewählt wurde. Die Wahl des provisorischen Leiters der Verwaltung Posens fiel auf Graf Posadowsky. (H. von Arnim / v. Below 390) 1890 erhielt er den Titel "Landeshauptmann" verliehen.

"Im Jahre 1889 verfasste er eine Darstellung der bestehenden Organisation des Posener Provinzialverbandes, in welcher die vorhandenen schweren Mängel derselben klar dargelegt und die fachlichen und politischen Bedenken gegen Einführung einer zeitgemäßen Provinzialverordnung widerlegt wurden ...." (ebenda 390).

 

 

 Abgeordneter und Kirche  zurück

Von 1882 bis 1885 vertritt Posadowsky für die Freikonservative Partei den Wahlkreis Lissa-Rawitsch-Fraustadt im Preußischen Abgeordnetenhaus. Wiederholt verteidigte er die berechtigten Ansprüche der evangelischen Kirche. "Wegen der Verschärfung des kirchlich-politischen Kampfes, welcher von der Mehrheit der Freikonservativen Partei begünstigt wurde, geriet in einen scharfen Gegensatz derselben. Nach Ablauf der Wahlfrist nahm er ein neues Mandat nicht an." (Ebenda 389/400)

1884 wurde er in die fünfte Provinzialsynode Posen und zum Mitglied der Generalsynode der evangelischen Landeskirche gewählt. "Er trat in die beiden kirchlichen Körperschaften einer besonderen Partei nicht bei, verteidigte aber den freieren Standpunkt, welcher mehr Wert legt auf die christliche Sittenlehre als auf Bekenntnis- und Glaubensformeln." (Ebenda 390)

1890 wurde Graf Posadowsky durch königliche Berufung zum Mitglied der sechsten ordentlichen Provinzialsynode, "in welcher er für die Förderung der Werke der Inneren Mission und für die Ausgleichung der sozialen Gegensätze auf der Grundlage der christlichen Sittenlehre lebhaft eintrat; von der genannten Synode wurde er wiederum als Mitglied der Generalsynode der evangelischen Landeskirche berufen." (Ebenda 390/391)

Abgeordneter konnte er schlecht bleiben, da ihn die Arbeiten zur Reorganisation der Verwaltung voll in Anspruch nehmen. Von 1885 bis 1893 übernimmt er die Aufgabe des

Direktors der Provinzialverwaltung
beziehungsweise eines Landeshauptmanns

der Provinz Posen.

"Der neue Landeshauptmann", erinnert sich die Posener Zeitung 1932, "hatte keine Zeit zum Besuch von Gesellschaften, und wenn er selbst wohl oder übel doch einmal einen Empfang geben musste, hörte man hinterher Gäste von sehr großer Schlichtheit der Bewirtung raunen."

Damit der öffentliche Beifall bei seinem Abschied nicht zu grandios ausfällt, rührt die Posener Zeitung (JV 4.10.1893) nochmal seine Spar-Künste auf. "Die Beispiele beziehen sich durchweg auf das Gebiet der Schule, auf dem in einer Reihe von Fällen Gehaltherabsetzungen für die Lehrer vorgenommen wurden, so für die Lehrer an den Provinzial-Taubstummenanstalten, sowohl bezüglich der Gehaltssätze als auch des Wohnungsgeldzuschusses; selbst den älteren Taubstummenlehrer seien die von 5 zu 5 Jahren ihnen zustehenden Gehaltserhöhungen von 300 Mark um 100 bis 200 Mark gekürzt, teils der Bezug um einige Jahre hinausgeschoben worden."

 

Caprivi meldet  zurück

Im Hochsommer 1893 meldet Reichskanzler Leo von Caprivi dem Kaiser, dass der unentbehrliche Freund Bismarcks, Freiherr von Maltzahn, als Staatssekretär des Reichsschatzamtes, zurücktreten will. Angeblich schlug dann der Kaiser selbst, nachdem drei Nachfolger im Vorfeld ausgeschieden waren, den Grafen Posadowsky vor, weil er von ihm so viel Gutes gehört hatte. (Wittko 1925) Ein besonderes persönliches Verhältnis, erzählen viele Jahre später die Danziger Neueste Nachrichten (1930), entfaltet sich zwischen ihnen nicht: "Für den Grafen, den der Kaiser unter Außerachtlassung anderer Vorschläge aus eigener Initiative zum Staatssekretär berief, hat er niemals besondere Sympathien gehabt."

 

In Berlin  zurück

Als Arthur Graf von Posadowsky-Wehner in Berlin eintrifft, zählt die Reichshauptstadt etwa zwei Millionen Einwohner. Ihre Industriealisierung läuft auf Hochtouren. An der Chausseestraße bei August Borsig verließ 1858 die 1.000 Lokomotive das Werk. Den Berliner Maschinenbau-Actien-Gesellschaft 1897, vormals L. Schwartzkopff, oder Eisenbahn-Luftdruckbremsen, später Knorr-Bremse GmbH, eilte ein guter Ruf voraus. Ab 1890 entsteht auf dem Nonnendamm Siemensstadt. Begonnen hatte es 1847 mit der Telegraphenbauanstalt Siemens & Halske. 1914 beschäftigte sie 75 000 Arbeiter. Max August Jordan in Treptow kaufte sich in die Anilinfabrikation mbH Rummelsburg ein, aus der 1897 AGFA hervorgeht. In Massen zog es qualifizierte und unglernte Arbeiter in die Stadt. Laubenkolonien dämpfen die krasse Wohnungsnot. Ihre Arbeitskraft wird, zum Beispiel in den Druckereien der Verlage von Rudolf Mosse, Berliner Tageblatt, Ullstein, Scherl und S. Fischer, gebraucht. Das Leben der arbeitenden Klassen wird durch eine neuartige Arbeiterfreizeit mit Kino, Schrebergärten, Vergnügungen und Kneipen freundlicher, besser und anregender. Posadowsky bemüht sich, an ihren lebensweltlichen Erfahrungen und sozialen Antizipationen anzuknüpfen. Und was wird, aus seiner Liebe zur Landwirtschaft. Paßt sie in die Industriestadt? Ist er vielleichtg ein Freund der Junker?

An den neuen Staatssekretär des Reichsschatzamtes stellt man hohe Erwartungen. Wilhelm II. definiert sie am 17. November 1893 in der Thronrede zur zweiten Session des am 15. Juni 1893 gewählten Reichstages:

"Es wird nunmehr Ihre vornehmste Aufgabe sein, in gemeinsamer Arbeit mit den verbündeten Regierungen für die Beschaffung der Mittel Sorge zu tragen."


Die Firma Stumm, Krupp & Co.
Posadowsky als Kommis.
(Freie Übernahme der Überschrift.)


 

"Die Firmeninhaber: Jetzt haben wir doch endlich einmal einen vernünftigen Kommis." (Orginaltext)

Der Wahre Jakob. Nummer 306, Stuittgart, den 12. April 1898, Titelseite, Ausschnitt

Kommentar. Ganz rechts im Bild steht Friedrich Alfred Krupp (1854-1902), links neben ihn Carl Ferdinand von Stumm (1836-1901). Im Hintergrund werkelt Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, 1894 bis 1900 Reichskanzler. Handlungsgehilfe Posadowsky bietet "Arbeitgeberschutz 100 %" und die "Lex Heinze". Die Karikatur bebildert die Sorge der Lohn- und Gehaltsabhängigen, gegenüber den Unternehmern weiter in Nachteil zu geraten. Wird Posadowsky ihre Interessen gegenüber Stumm, Krupp & Co. vertreten?

 

Das heißt, die steigenden Ausgaben des Staates infolge Bevölkerungswachstum, Heeres- und Flottenrüstung sowie Sozialpolitik müssen zuverlässsig finanziert werden. Keine einfache Sache. Denn die "Finanzverwaltung des Reiches", betont der Kaiser, hat noch nicht ihre "endgültige Ordnung" gefunden. Ohne Schädigung des Reiches und der Einzelstaaten, kann eine Auseinandersetzung darüber nicht länger hinausgeschoben werden. Das Finanzwesen des Reiches ist "dergestalt aufzubauen", ordiniert der Kaiser, daß die bisherigen Schwankungen beseitigt und die Anforderungen in einem festen Verhältnis zu den Überweisungen stehen. Zudem muß den Einzelstaaten ein gesetzlich festgelegter Anteil an den Einnahmen des Reiches garantiert werden. Mit anderen Worten, vom neuen Staatssekretär des Schatzamtes erwartet die Reichsleitung, dass er die

Misswirtschaft mit den Matrikularbeiträgen,

von denen, wie Eugen Richter sagt, dass Volk nichts weiss, aber deren Lasten es tragen muss, abstellt. Das wird schwieriger, als es zunächst ohnehin im Lichte der Reichsfinanzpolitik und den Kabalen des Reichstages erscheint. Vorallem darf das Reichsschatzamt nicht zum Konkursverwalter werden. Obwohl die Staatseinnahmen um 20 Millionen Mark gestiegen sind, muss Posadowsky in der zweiten Beratung zum Reichshaushalt am 14. März 1894 im Reichstag konstatieren, gelang es nicht, die Kosten für die Militärvorlage auszugleichen.

Tatsächlich musste der "Mächtigste europäische Staat" "in der Folge bei den Einzelstaaten fechten und sein Manko durch Steigerung der Matrikularbeiträge dieser Einzelstaaten decken". Der "geeignete Weg zur Ergänzung der Einnahmen des Reichshaushalts liegt", laut Johannes von Miquel, "nur in der Einführung beweglicher Steuern in der Form von Zuschlägen zu den Verbrauchsabgaben" (Vorwärts 16.11.1893). Die Lösung des Problems scheint simpel, indem man wie 1879 die indirekten Steuern erhöht. Die unlängst von ihm erschienene "Denkschrift" (1893) präsentiert dies als "Reform". Steuererhöhung als Reform - da lehnten die Sozialdemokraten dankend ab.

 

 

Die Ära Posadowsky: 12. August 1893 bis 24. Juni 1907

 

 

Staatssekretär des Reichsschatzamtes  zurück

Umweht vom Scheitern der Heeresvorlage, der Auflösung des Reichstages am 6. Mai 1893, den Kämpfen um die Agrarier und vor allem von der Hoffnung begleitet, dass Fröhliche-so-Weiterwirtschaften in der deutschen Finanzpolitik zu beenden, wird Arthur Graf von Posadowsky-Wehner

am 12. August 1893
zum Staatssekretär des Reichsschatzamtes

ernannt. Die Institution koordiniert und organisiert das Etat-, Zoll- und Rechnungswesen und installierte sich in Berlin Wilhelmstraße 61 / Wilhelmplatz 1.

Im Unterschied zu den meisten anderen Abgeordneten im Reichstag ist er nicht auf die Nominierung als Mandatsträger durch eine Partei angewiesen. Die Ernennung zum Staatsseketär ermächtigt ihn zur Teilnahme an der Reichsgesetzgebung. Exekutive und legislative Staatsfunktionen verschränken sich hierbei, was für ihn vorteilhaft war.

[Im Reichsschatzamt  zurück] Den überraschenden Aufstieg, glaubt Paul Wittko (1925), verdankt Posadowsky einem Konflikt zwischen Helmuth Freiherr von Maltzahn (1840-1923) und dem preußischen Finanzminister Johannes von Miquel (1828-1901).

 

 

Aus Anlass des Amtswechsels im Reichsschatzamt im Jahr 1893 publiziert der "Der Wahre Jakob" am 21. Oktober 1893 in Stuttgart die Karikatur:

Andere Länder, andere Sitten oder Kultur und Barbarei.

 


"In Deutschland erhalten erfolglose Reichsschatzsekretäre zum Abschied Pension und Orden."

 


"Im Orient erhalten erfolglose Reichsschatzsekretäre eine Aufmunterung in schärferer Tonart."

 

 

Maltzahn der das Reichsschatzamt rund fünf Jahre leitete, wurde "aus dem Reichsdienst gedrängt", weil er "offenbar" "zu arbeiterfreundlich war", bemerkt August Bebel am 11. Dezember 1897 im Reichstag. Ist damit der entscheidende Vorgang angesprochen? Sicher ist, um das Reichsschatzamt ranken sich viele Konflikte. Einige Erwartungen des Kaisers, was vor allem die Neugestaltung der Matrikularbeiträge und die zuverlässige Finanzierung der Militärvorlagen betraf, erfüllte Maltzahn nicht. Finanzpolitisch und parlamentarisch wog es schwer, berichtet Eugen Richter am 30. Januar 1894 in der ersten Reichstagssitzung zur Beratung der Reichsfinanzreform, dass der Vorgänger im Reichsschatzamt daran scheiterte

"50 Millionen zu beschaffen".

Wilhelm II. begann die Politik der sozialen Versöhnung als gescheitert anzusehen. (Mommsen 2005, 68) Auch hierauf, also auf den richtigen Umgang mit der oppositionellen Sozialdemokratie musste eine Antwort gefunden werden. Folglich überlagerten sich bei der Auswahl des neuen Schatzsekretärs die fachlichen und institutionellen Anforderungen mit den Interessen der Machterhaltung.

Bei Amtsantritt von Graf von Posadowsky waren bereits bedeutende Grundlagen der Sozialgesetzgebung geschaffen. Der Reichstag verabschiedete am 15. Juni 1883 das Krankenversicherungsgesetz (Pflichtmitgliedschaft!), am 6. Juli 1884 das Unfallversicherungsgesetz (1911 in das Dritte Buch der Reichsversicherungsordnung überführt) und am 22. Juni 1889 das Gesetz über die Invaliditäts- und Altersversicherung. Allerdings blieb bis zum Rücktritt von Reichskanzler Bismarck am 20. März 1890 die Frage der Selbstbeteiligung und Selbstverwaltung, die er nicht befürwortete, strittig. Die Nichtbeteiligung der Arbeiter an der Verwaltung erscheint überlebt. Hierzu unterbreitete die Novelle vom 10. April 1892 zum Krankenversicherungsgesetz Vorschläge. Gegenwärtig diskutieren Fachleute für Sozialpolitik vor allem über die Revision der Arbeitsversicherungsgesetze hinsichtlich Ausdehnung, Organisation, Vereinfachung, und Zusammenführung, kommt aber nicht zum Abschluß. Jahre später, am 30. April 1903, fordert der Reichstag den Bundesrat auf, ein einheitliches Arbeiterversicherungsgesetz auszuarbeiten. Graf Posadowsky verfügt am 19. Juni 1905 die Übertragung der Aufgabe an den Geheimen Regierungsrat Walter Spielhagen (1857-1930), der ab 1903 im Reichsamt des Inneren tätig ist.

Zentrum und Konservative legten bereits in der letzten Sezession Anträge zur Änderung des Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz vor, die aber nicht zur Beratung gelangten. Doktor Karl Heinrich von Boetticher (gestorben 1907 in Naumburg an der Saale), 1881 bis 1897 Staatssekretär des Reichsamtes des Inneren, Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums, kündigte 1891/92 einen Gesetzesentwurf zur Unfallversicherung an, der aber ausblieb.

 

 

War er der Richtige?  zurück

"Der gräfliche Reichsschatz-Sekretär," raunt der Vorwärts aus Berlin am 13. August 1893, "ist politisch ein völlig unbekannter Mann." "Wie und wo er sich für die Aufgaben des neuen Berufs vorbereitet hat," nörgelt er herum, "wissen die Götter und die, die ihn berufen haben." Sei es nun, um den Oppositionsgeist zu befriedigen oder Missklänge in die Amtsübergabe von Maltzahn an Posadowsky zu bringen, macht sich die "Kreuzzeitung" über den letzten Sonnabend im Reichsschatzamt her: "Der Finanz-Dilettant unterweist den in Finanzfragen durch unberührte Jungfräulichkeit sich auszeichnenden Landeshauptmann Graf Posadowsky in fünf Tagen so ausgiebig, daß er orientiert ist ...."

Die Polemik übergeht die in während Posener Zeit erworbenen Erfahrungen in der konfliktreichen Mittelebene der Staatsführung. Er konnte nicht nur verwalten, dekretieren, regieren, reden, publizieren und die notwendigen Arbeitsaufgaben formulieren. Sein konstruktives Denken und Herangehen an die politischen Aufgaben und hohes Fachwissen empfehlen ihn für Führungsaufgaben. Vor allem war es die passable Form seines öffentlichen Auftretens, seine ungekünstelte Bescheidenheit, die Bereitschaft und Fähigkeit zum vernünftigen Gespräch mit Bürgern aller sozialen Klassen und Schichten, die beeindruckten und der Lösung politischer Aufgaben dienlich waren. "Nicht Theorien sind maßgebend," lautete sein Motto, "sondern die Menschen, wie sie sind und die die Gesetze ausführen." (RT 5.10.1917, 3698)

Die "Grenzboten" aus Leipzig ziehen die Entwicklungslinien richtig, wesshalb ihnen deshalb beizupflichten ist, dass die Aufgaben als Landrat, Abgeordneter, Landeshauptmann der Provinz Posen "als denkbar wünschenswerte Vorbereitung für seine jetzige Stellung [Staatssekretär des Reichsamtes des Innern] bezeichnet werden" müssen. Die Pflicht war ihn nicht nur Qual. Ihm kam entgegen, entsprach seinen Interessen und geistig hohen Ansprüchen, dass er in einer "sehr bevorzugten Lage, von einem weitausschauenden Mittelpunkt, von einer sehr hohen Warte aus die Gesamtlage" übersehen konnte. (DG 1906, 464 + 462)

 

Handwerks leid (Orginaltitel)


 

Kommentar. Reichsschatzsekretär Arthur Graf von Posadowsky-Wehner schneidert 1894 für die Bürger eine optimal geschnittene Passform, die sie die Belastungen der Finanzpolitik hoffentlich gut tragen lässt. Die eingelassenen Begriffe "Quittungs-Steuer", "Tabaksteuer", "Steuergesetzgebung" und "Finanzreform" lassen erahnen, was da auf sie zukommt.

Handwerks leid. Der Wahre Jacob. Jahrgang 11. Nr. 205. Stuttgart, den 5. Juni 1894, Titelblatt (Teilansicht)

 

An seiner Leistungsfähigkeit bestanden keine Zweifel. Und an der Treue zur Krone? Auch hier war kein Anlass zur Sorge. Der Stallgeruch passte. Die Familie entstammt dem schlesischen Uradel und der Vater war königlicher Oberlandesgerichtsrat. Sohn Arthur bildete und festigte als Referendar, Gutsverwalter, Landrat und Abgeordneter der Freikonservativen Partei im Preußischen Abgeordnetenhaus das konservative Standes- und Selbstbewußtsein weiter. Der neue Reichsschatzsekretär "passt trefflich in die leitenden Kreise hinein. In den Verhandlungen der dritten ordentlichen Generalsynode aus dem November-Dezember 1891 bekannte" er sich "als begeisterter Anhänger der konfessionellen Volksschule und warnte dringend vor einer "Überschraubung" der Ziele unserer Seminarien, weil sonst die Schulkinder viel mehr lernten, als ihnen gut sei." (Vorwärts 25.8.1893)

Seine ersten Reden im Reichstag fanden nicht die erhoffte Resonanz. Wo bleiben die Perlen der Redekunst, fragte der "Vorwärts", das Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Wo sollten die sich, fragen wir zurück, denn herauskristallisieren? Indes nicht etwa in der Debatte über Hundesteuer, Vagabunden oder Gendarmerie? Später liest man über ihn eine derartige Kritik höchst selten. Im Fall der Fälle erfuhr sie dadurch noch mehr öffentliche Aufmerksamkeit als gewöhnlich. Etwa wenn am 26. April 1912 der "Vorwärts" seinen Auftritt in der Reichstagsdebatte zur Wehr- und Deckungsvorlagen als von "erschreckender Bedeutungslosigkeit" bezeichnete. Waren seine Ausführungen über die fünf Milliarden Schulden des Reichs, die entente cordiale, das Verhältnis zum russischen Nachbarn und die, mit ihren "ausgezeichneten Material" für die Beamtenschaft und das Offizierscorps, deutschen Gutsbesitzer im Osten. Freilich konnte sie, was im Interesse der Sozialdemokraten lag, die Steigerung der Militärausgaben nicht aufhalten. Was schlecht und gut, ist eben immer von den Interessen und dem Vorwissen des Zuhörers abhängig. In der Tendenz waren Posadowskys Reden hochwertig, empirisch abgestützt, analytisch ausgerichtet, übersichtlich aufgebaut und oft mit konkreten Folgerungen oder Antworten an die Abgeordneten versehen. Es waren, schlicht ausgedrückt, interessante Reden. Seine politische Sprache meidet Phrasen und Leersätze, scheut keine Urteile und entfaltet, mit Ausnahme vom Sommer 1914 bis Anfang 1918, wo sie stark schwindet, zeitweise gegen Null, eine beeindruckende analytische Kraft.

Seine Redekünste lassen im Umfeld erste Probleme erahnen. Denn "Seine trockene und ernste Art passte überhaupt nicht zu der glitzernden Persönlichkeit des vierten deutschen Kanzlers [Bernhard von Bülow]." (Berliner Tageblatt 1932) Über seinen Vorgesetzten, Bernhard von Bülow (1849-1929), seit Oktober 1897 Staatssekretär des Äußeren und ab 1900 Reichskanzler, erzählt man es ganz anders: "Schöne Reden" hielt er, daran mangelte es nicht, referiert am 14. September 1898 Eugen Richter über dessen Flotten-Rüstungs-Auftritte im Reichstag. "Aber schließlich fragt man sich, was hat er denn eigentlich gesagt?"

 

 

Ist er ein Agrarier?  zurück

Die Sozialisten schimpften die Junker nimmersatte Agrarier, Geldsack-Politiker, Schnapsbrenner, Brotverteuerer oder Päppelkinder. Es waren für sie Männer mit einem Jahreseinkommen von 6.000 bis 10.000 Mark, die trotzdem außerstande waren, die Aufwendungen für kostspielige Bälle, Reitpferde und die Berliner Luxuswohnung zu finanzieren. "Weil sie an Prunk und Verschwendung gewöhnt sind", schiebt der Autor von "Der Junker Macht und Einfluss" (1901) nach. Einen Tiefpunkt erreichte die symbolische Herabsetzung der Junker durch die Sozialdemokraten am 15. Dezember 1897 (245). Als der Reichstag die russischen Handelsverträge nur mit kleiner Majorität angenommen, hängt August Bebel noch die Worte an:

".... wenn die 15- oder 20000 Junkerfamilien dem deutschen Volke verloren gingen, so wäre das kein Schaden, sondern ein großer Vortheil. (Beifall links; Unruhe rechts.)"

Ohne großes Federlesen stufte August Bebel die Junker am 11. Dezember 1902 nach der Reichstagsdebatte zum Zollgesetz und Zolltarif in die Sozialhilfe ein:

"Jemehr die Junker sich unfähig erweisen, ihre Existenz aus eigener Kraft zu erhalten, um somehr sehen Reich und Staat sie als Päppelkinder an."

Damit die Genossen, Genossinnen und SPD-Sympathisanten am 16. Juni 1898 zur nächsten Reichstagswahl das "richtige ankreuzen", schmettert am 3. Juni der Vorwärts (Berlin) in die Massen:

"Die eigentlichen Herren im Lande sind die Großagrarier die adligen Grundbesitzer. Aus ihnen rekrutiert sich überlieferungsgemäß die hohe Beamtenschaft, vom Ministerpräsidenten und Minister des Inneren bis herab zum Landrat. Darum ist schon oft gesagt, in Preußen können auf Dauer gegen "die kleine mächtige Partei" nicht regiert werden. Schon oft haben sie Schläge auf den Kopf bekommen …. Die Junker sind gar nicht unterzukriegen, weil eben die Tradition besteht, sie seien die geborene Leibgarde des Throns."

Es ist unschwer erkennbar, daß die Junker-Frage für die Sozialdemokraten im Reichstag von großem Gewicht war, woraus sich die Frage ergab:

War Posadowsky ein Mann der Junker?

Ihnen muteten seine Einlassungen dazu öfters befremdlich an. Dabei störten sie sich weniger an Äußerlichkeiten oder rhetorischen Missgriffen. Es war etwas Anderes, Grundsätzlicheres, was das Bild vom junkerfreundlichen Staatssekretär zu befestigten drohte. Ihrer Auffassung nach vernachlässigte er die objektive Stellung der Junker im System des gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozesses. Wohingegen die Genossen ihr politisches Urteil auf die Analyse der sozioökonomischen Verhältnisse in der Landwirtschaft und den darauf basierenden Sozialstrukturen aufbauen. Eine konzentrierte Einschätzung hierzu legt der SPD-Parteitag mit der Agrar-Resolution im November 1894 vor, wo es heißt:

"In Preußen-Deutschland kämpft die landwirtschaftliche Unternehmerklasse, die sich dem Wesen von den großgewerblichen Kapitalisten nicht unterscheidet, mit dem Landadel. Dieser Landadel erhält sich nur künstlich durch Liebesabgaben, Schutzzölle, Ausfuhrvergütungen, Steuervorrechte."

Entstand mit der Ernennung von Posadowsky zum Reichsschatzsekretär vielleicht ein neues politisches Tandem? Miquel als Vertreter der Industriellen und Mann für die Flottenvermehrung? Posadowsky, mutmasst Eugen Richter (1899, 694), dann der Mann für die Agrarier? "So kann überdies gesagt werden," urteilt die Berliner Zeitung im Sommer 1897 aus Anlass des Wechsels in den Regierungspositionen, "dass er beflissen war den Junkern noch weiter entgegenzukommen, als selbst die bisherige Regierung in ihrer Gesammtheit." In die gleiche Richtung spekuliert am 15. Januar 1898 der Vorwärts (Berlin): Boetticher`s Nachfolger, hält alle möglichen

"Staatsinterventionen zugunsten seiner agrarischen Klassengenossen für nöthig".

August Bebel wirft ihm am 15. Dezember 1897 (252) im Reichstag vor, "sein ganzes Herz ist ein heiß agrarisches Herz".

Dass er ein Anhänger Agrarier sei, treibt auch Adolf zu Dohna-Schlodien (1846-1905) um. Er vermutet dahinter ein Vorurteil, das absichtlich von der Presse popularisiert wird und nicht zutreffend ist. Um dies richtigzustellen, interveniert am 10. Januar 1901 der Reichstagsabgeordnete der Deutschkonservativen Partei (DKP) in der Vossischen Zeitung:

"Mit Verwunderung habe ich wahrgenommen, dass der Staatssekretär des Inneren Graf von Posadowsky von der Presse als Mann hingestellt wird, der die hochspannten Erwartungen der Agrarier unterstützt. Das ist absolut falsch! Wer, wie ich, häufig Gelegenheit hat, mit dem Staatssekretär zu unterhandeln, also seine Ansichten kennen zu lernen, der weiß bestimmt, daß Graf Posadowsky gar nicht daran denkt, die Agrarier zu bevorzugen und ihre weitgehenden Forderungen zu unterstützen. Das Gegentheil ist der Fall! Graf Posadowsky hat stets beschwichtigend eingewirkt und zur Mäßigung gemahnt. Er ist von dem Wunsche beseelt, dass etwa zu Stande kommt. Das kann seiner Meinung nach nur erfolgen, wenn alle Interessenten sich möglichst bescheidene Wünsche stellen."

Was ist also ein Junker? Im Lichte der Angriffe seitens der Sozialdemokraten antwortet Posadowsky am 12. Dezember 1901 im Reichstag zur Ersten Beratung des Zolltarifgesetzes darauf:

"Unter Junker verstehe ich einen Mann, der auf Standesvorurteile pocht, denen in unsrer verfassungsmäßigen Zeit kein Inhalt mehr beiwohnen kann. Sie aber verstehen unter Junker jeden Mann, wenn auch aus Ihren Kreisen hervorgegangen ist, sobald er ein Rittergut besitzt (Widerspruch links), sobald er ein Großgrundbesitzer ist, der für sein Gewerbe eintritt (Widerspruch links). Die Zeit der Junker, wie ich sie verstehe, ist abgelaufen und ich wünsche, dass sie sich zu geistigen Leitern der Nation entwickeln (Zustimmung links.) Ich wusste ja, meine Herren, dass wir einig waren. (Heiterkeit)."

[Osterfahrt   zurück] Somit haben wir jetzt zwei, in wichtigen Aspekten konkurriende Antworten auf die Frage "War er ein Agrarier?" vorliegen. Mit der Zollpolitik von 1901/02 steht sie erneut im Raum, und zwar in aller Schärfe.

Bemüht den realen ökonomischen Interessen verschiedener Klassen Rechnung zu tragen, schmiedet er in der Handels- und Zollgesetzgebung an Bündnissen und Kompromissen. Im Winter 1902 auf 03, erzählt 1914 Karl Kautsky, ereigneten sich beim Kampf um den Zolltarif die "schärfsten Kriegsszenen im Reichstag". Indes kam das Interesse des Zentrums mit der Regierung schon überein. Beide wollten die Landwirtschaft schützen. Allerdings war darauf zu achten, dass besonders die Wünsche und Ansprüche der ostdeutschen Agrarier nicht überbordeten. Gegebenenfalls mußten sie neu austariert, vielleicht sogar zurückgeschnitten werden. Hierzu begibt sich Posadowsky 1902 auf "Osterfahrt".

"In Dresden, München, Stuttgart und Karlsruhe hatte man die Unersättlichkeit der ostelbischen Junker satt", bilanziert Franz Mehring die Stimmung. Man will ihnen nicht mehr gewähren, als der Zolltarif ohnehin schon bietet. Mit dieser delikaten Mission brach Posadowsky Ostern 1902 zu einer Rund-Reise an die deutschen Höfe auf. Eine schwierige Aufgabe, denn einerseits registrierte man, hatten Bülow und Posadowsky ein Herz für die "nothleidende Landwirtschaft", andererseits aber eine Heidenangst vor den rabiaten Landsknechten aus den Osten. Herauskam ein "Jupheidi-Jupheida-Kurs" (Mehring). Dabei wußte er sich durchaus mit Bülow einig, dem klar war, "wenn die militanten Agrarier mit ihren uferlosen Forderungen im Reichstag durchdrangen, dann würde dies bei den Arbeitern sowieso beim Groß des Bürgertums große Erbitterung auslösen." (Fesser 1991, 70)

 

 

Moloch Militarismus  zurück

Vom neuen Staatssekretär des Reichsschatzamtes erwartet man, dass er Heer und Marine unter allen Umständen ausfinanziert. Es war die schwierigste aller Aufgabe, die auf ihn zukam. Denn längst nicht alle Bürger möchten dem "Moloch des Militarismus" (Eugen Richter) weitere Opfer bringen. Nicht nur Sozialdemokraten, auch der Linksliberale Eugen Richter (1838-1906) von der Deutschen Freisinngen Partei (ab 1892/93 Freisinnige Volkspartei, FVp) wehren sich recht öffentlichkeitswirksam dagegen.

 

"Militärvorlagen werden überflüssig, wenn alle Streitigkeiten durch Delegierte ausgefochten werden."

 


Der Wahre Jacob. Nummer 183. Stuttgart, den 31. Juli 1893, Titelblatt

Kommentar. Links auf dem Bild kniet Marie François Sadi Carnot (*1837) in Position. Er wurde am 3. Dezember 1887 zum Staatspräsident von Frankreich gewählt und war 1889 Schirmherr der Pariser Weltausstellung. Am 25. Juni 1894 erliegt er den Folgen eines Attentats. Ihm frontal gegenüber auf der rechten Seite des Bildes, bezieht der deutsche Reichskanzler Leon von Caprivi (1831-1899) Stellung.

 

 

Der Staat zieht immer neue und höhere Steuern ein und verteilt sie auf die Schultern derjenigen, die am wenigstens im Stande sind sie zu tragen. Unter ihnen leiden besonders die Billig-Löhner, Arme und durch Krankheit geschwächte Personen und Haushalte. Aber auch der Mittelstand wird stark belastet. Die indirekten Steuern steigen im Reich laut Karl Bachem (1894) von 1872 bis 1893 von 240 auf 680 Millionen Mark.

Selbst der Nationalliberale Ernst Bassermann (1854-1917), gibt 1895 vor dem Reichstag zu bedenken: "Es kann ja zweifellos nicht geleugnet werden, daß in weiten Kreisen unserer Bevölkerung eine erhebliche Mißstimmung gegen die Ausdehnung des indirekten Steuersystems vorhanden ist .... " (RT 13.5.1895, 2250) Für Posadowsky war die Anti-Steuer-Stimmung, getragen von verschiedenen politischen Kreisen, ein Problem. Unter Umständen konnte sie die Erfüllung seiner Aufgaben erheblich erschweren und die politischen Pläne durchkreuzen.

Der Staat greift tief in den Alltag bei denjenigen ein, die einer antimilitaristischen Einstellung verdächtig sind. Seit Jahren wird auf Grundlage von Vereinbarungen zwischen der Militärverwaltung und den Behörden des Reiches und der Einzelstaaten "ein systematisches Spitzel- und Spioniersystem im größten Maßstabe" geschaffen, um zu ermitteln, wer von den Wehrpflichtigen der sozialdemokratischen Gesinnung verdächtig ist. Speziell die sozialdemokratischen Arbeiter, berichtet August Bebel am 9. März 1893 im Reichstag, dürfen nicht in Staats- und Militärbetrieben arbeiten.

Das Deutschlandbild ändert sich in der Welt mit dem zunehmenden Militarismus. Eduard Bernstein besinnt sich 1896 (b 616) an den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 zurück, als die Sozialdemokratie im "Volksstaat" mit großen Lettern "Keine Annexion" für einen billigen Frieden mit dem Gegner eintrat und das Ausland sie dafür als Friedenspartei kürte. Wer daran zurückdenkt, kann sich jetzt vorstellen, setzt der Sozialdemokrat dem Leser auseinander, "wie unpopulär im Allgemeinen der Deutsche Name [jetzt 1896!] im Ausland ist". Die einen sehen in ihm "den geldgierigen armen Schlucker" und Emporkömmling, andere den "Repräsentanten des modernen Militarismus".

Hier wird es schwierig, denn dies entspricht nicht der staatspolitischen Anschauungsweise von Graf von Posadowsky. Gegen eine deratige Betrachtung wendet er sich mit dem Argument Reichsverdrossenheit [zurück]. "Meine Herren," hebt er am 12. Dezember 1898 vor dem Reichstag im ernsten Ton zur Rede an, "in der heutigen Generaldebatte ist vielfach der Begriff der Reichsverdrossenheit erwähnt worden; man muß sich fragen, aus welchen psychologischen Ursachen ein solches Gefühl in der Gegenwart bei uns in Deutschland entstehen konnte. Wir sehen, daß unsere Beziehungen nach außen - wie Sie aus der Thronrede gehört haben - in jeder Beziehung die besten und durchaus gefestigt sind. Unsere wirthschaftlichen Verhältnisse sind so günstig auf dem Gebiete von Handel und Industrie, wie seit lange nicht. Wir haben einen Aufschwung auf gewerblichem Gebiete, wie er so lange während und in diesem Umfange noch nie in unserem Wirthschaftsleben vorgekommen ist. Ich kann es auch mit Befriedigung sagen, daß die Verhältnisse in der Landwirthschaft in dem letzten Jahre freundlichere Seiten gezeigt haben. Unsere Arbeitslöhne sind in fortlaufend aufsteigender Bewegung, und wir haben in Deutschland Institutionen zum Besten unserer Arbeiterbevölkerung durchgesetzt.

Man sollte also meinen, dass unser Deutsches Volk in der Gegenwart die allerbegründeste Ursache hätte zufrieden zu sein. Wenn trotzdem der Ausdruck der Reichsverdrossenheit in der Presse sich geltend gemacht hat, so kann ich das psychologisch nur derart erklären, daß es auch im bürgerlichen Lager sehr viele Menschen giebt, die objektiv nach ihren äußeren Verhältnissen alle Grund hätten zufrieden zu sein, subjektiv aber die allerunzufriedensten sind." (Posa 12.12.1898, 34)

 

 

Heeresvorlage 1887  zurück

Bei einem Teil der Bevölkerung und des parlamentarischen Widerstandes wächst die Abneigung gegen die steigenden Militärausgaben.

Zweimal führten die Militärvorlagen zur Auflösung des Reichstages. Die erste ereignete sich am 14. Januar 1887, als Sozialdemokraten mit den Freisinnigen gegen die Heeresverstärkung stimmten. Zu den Neuwahlen am 21. Februar 1887 popagiert Wilhelm Liebknecht die Losung: "Dem Militarismus keinen Mann und keinen Groschen." Am 11. März 1887 nimmt der neu gewählte Reichstag die Heeresvorlage an.

Der zweite Zusammenbruch des Reichstags, verbunden mit einer politischen Krise, kündigt sich mit der Heeresvorlage von 1892 an. Reichskanzler Leo von Caprivi will, was auf harte Ablehnung bei den Nationalkonservativen und weiten Kreisen des Militärs stösst, die Wehrpflicht von zwei auf drei Jahren verringern. Wilhelm II. pocht auf die Annahme einer dreijährigen Dienstzeit, was den Kanzler in eine aussichtslose Lage manövriert, da dies bei allen Parteien auf erheblichen Widerstand stößt.

 

 

Reichstagswahlen 1893   zurück

 

Johannes von Miquel Vorschläge zur staatlichen Geldeintreibung berühren die öffentliche Sittlichkeit des Klassenstaates, wenn er die Steuer für Lotterielose von 5 auf 8 Prozent erhöhen will, um für den "Moloch" (Militarismus) fünf Millionen herauszuschlagen. Dass das Lotteriespiel überhaupt unterdrückt werden muss, dafür haben die Berufspolitiker obendrein kein Gespür und Sinn. (Vgl. "Vorwärts" 1.9.1893) Der Wahre Jacob (Stuttgart) karikiert dies 1892.

 

"Moses in der Wüste beschwört
den Felsen um Wasser."

Oberpriester Miquel: Die Anzapfung ist gelungen - gelobt sei die Börse, das Bier und der Branntwein bis in die Ewigkeit, Amen!
(Originalbildunterschrift
)

Kommentar. Im Vordergrund von links nach rechts:
Johannes von Miquel (1828-1901), Preußischer Finanzminister und Reformer,
Leo von Caprivi (1831-1899), Reichskanzler von 1890 bis 1894,
Helmuth Freiherr von Maltzahn (1840-1923), 1888-1893 Staatssekretär des Reichschatzamtes. Heinrich von Boetticher (1833 -1907), der Mann im Hintergrund mit Brille, 1880 bis Juli 1897 Staatssekretär
im Reichsamt des Inneren, verfolgt aufmerksam die Handlungen.


Der Wahre Jacob. Titelblatt. Nummer 175, Stuttgart, den 10. April 1893

 

Am 7. Juli 1893 liegt dem Reichstag - bei überfüllten Tribünen - zur Beratung der Gesetzesentwurf über die Erhöhung Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres vor. In der Debatte sprechen im Plenum Reichskanzler Leon von Caprivi, Friedrich Payer (1847-1931) von der Demokratischen Volkspartei und andere. Wilhelm Liebknecht (1826-1900) wirft den Regierenden vor, sie wollen die große Armee, weil sie Angst vor dem Ausland haben, "weil sie sich vor den Russen und Franzosen fürchten". Caprivi gelingt es nicht mit Unterstützung des Reichstages, die Erhöhung der Heeresstärke auf 500 000 Mann zu beschließen. Daraufhin ordnet  er zum 6. Mai 1893 die Auflösung des Reichstages und für den 15. Juni 1893 Neuwahlen an.

[Matrikularbeiträge  zurück] Die Matrikularbeiträge beschäftigen die staatlich institutionalisierte Finanzpolitik und Öffentlichkeit. "Im Namen der Einzelstaaten hatte man immer die neuen Reichssteuern eingeführt," erklärt am 30. Januar 1894 im Reichstag der Abgeordnete Eugen Richter, "nachher aber hat man den Ertrag der Einzelstaaten entzogen und dem Reiche zugeführt und zwar in Form der Erhöhung der Matrikularbeiträge."

Aus Anlass der Reichstagswahlen am 15. Juni 1893 tut Fürst Otto von Bismarck öffentlich kund, dass die Fortsetzung des Auflösungskampfes der Interessen Deutschlands nicht günstig ist und die Regierung versuchen sollte, die notwendige Verstärkung des Heeres in anderer Weise als bisher im Reichstag zu erreichen, also zu finanzieren. Es war dies ein versteckter Hinweis auf die notwendige Reorganisation der Zahlung der Matrikularbeiträge.

Hieraus spricht die Unzufriedenheit über die Erhöhung der indirekten Steuern - wobei die wachsende Bevölkerungszahl hineinspielt - und die Finanzierung durch die Matrikularbeiträge. Letzteres verursachte zunehmend Ärger, und könnte, wenn man so weiter macht, gar Partikularambitionen bei den Ländern wecken.

Die Beendigung der unglückseligen Praxis, erklären 1925 (391) Doktor Hans von Arnim und Professor Doktor Georg v. Below, nannte man damals Finanzreform. Ihr Ziel war ein stabiles Gleichgewicht zwischen den Leistungen des Reiches an die Bundesstaaten und der Länder an das Reich herzustellen, was wiederum eine bessere Finanzausstattung erforderte. Folgerichtig begann man umgehend, nach außerordentlichen Mitteln zu suchen. Zur Stärkung des Finanzwesens, kam die Bildung eines Reichsministeriums in Gespräch, was aber verworfen wurde.

 

 

 

Verteilung der 397 Abgeordnetensitze
gemäss den Ergebnissen der Reichstagswahl
am 15. Juni 1893

 

SPD
Zentrum
NLP
DtVP
Minderh.
DRP
FVp
44
96
52
11
28
28
24
   
FVg
BB
DHP
DKP
Antisem.
Minderh.
 
13
4
7
72
16
28
 
             

Wahlbeteiligung: 72 Prozent

Zentrum - Deutsche Zentrumspartei

NLP - Nationalliberale Partei

DtVP - Deutsche Volkspartei

FVp - Freisinnige Volkspartei

DRP - Deutsche Reichspartei

DHP - Deutsch-Hannoversche Partei

SPD - Sozialdemokratische Partei Deutschland

FVg - Freisinnige Vereinigung

NLP - Nationalliberale Partei

Antisemiten - Antisemitenparteien

DKP - Deutschkonservative Partei

BB - Bayerischer Bauernbund

Minderh. - Minderheiten

 

Anmerkung: Die Deutsche Freisinnige Partei spaltete sich 1893 in Freisinnige Volkspartei und Freisinnige Vereinigung, die als Wahlvereinigung 1893 bei den Wahlen zum Reichstag 14,8 Prozent der Stimmen erhielten. (Vgl. Hofmann, Seite 30 bis 53)

 

Lediglich die Sozialdemokraten und antisemitischen Parteien, verraten die Wahlergebnisse, verzeichnen Stimmengewinne. Das Feld der Mittelparteien reißt auf. Die konservative Wählerbasis magert ab. Das Gerede von Königs- und Gottestum wirkte auf viele überholt und abgeschmackt. Nur knapp gewannen die Kartellparteien - Deutschkonservative, Nationalliberale und Freikonservative - die Reichstagswahlen.

 

 

Militarismus   zurück

Weihnachten 1893 schreckt Minna Kautsky (1837-1912) die Bürger mit der Nachricht auf: "In allen Kulturstaaten, namentlich auch in unserem Deutschland bereiten sich gewaltige Umgestaltungen vor." "Niemals war die innere Lage kritischer. Die Frage des Militarismus drängt gebieterisch zur Entscheidung." Zum Neujahrstag 1894 begrüßt der Vorwärts (Berlin) in Europa

12 Millionen Soldaten.



"Marine Minister Hoffmann: Heda, Michel, den Korb hier könntest Du auch noch tragen!

Michel (entrüstet): Oh Du Himmelsakramentsmister, Du glaubst wohl, ich sei ein Esel."

(Dieser hier nicht sichtbare Text steht auf dem Original am unteren Bildrand.)

Vorbereitung zur der nächsten Reichtags-Session. Der Wahre Jacob. Jahrgang 10. Nummer 187, Stuttgart, den 25. September 1893, Titelblatt (Ausschnitt)

 

Am 1. Oktober 1893 tritt das Gesetz, betreffend die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres in der Fassung vom 3. August 1893 in Kraft. Es legt für die Zeit vom 1. Oktober 1893 bis 31. März 1899 die Zahl der Gemeinen, Gefreiten und Obergefreiten auf 479 229 Mann als Jahresdurchschnittsstärke fest.

Der Nationalismus ist der Vater des Gesetzes und dem Kinde prophezeit man, kommentiert am 4. Oktober 1893 das Jenaer Volksblatt, eine schöne Zukunft. Es war nicht zuletzt das Resultat einer intensiven ideologischen Arbeit der Nationalen Blätter, die im Volk die Hoffnung schürte und verbreitete, dass die Annahme dieser Militärvorlage, sie auf lange Zeit vor weiteren Belastungen der Landesverteidigung verschont. Natürlich kommt es anders.

Schon bald winkt am Horizont die nächste Wehrvorlage. Am 3. Januar 1896, als die Krüger Depesche beschlossen, legt Konteradmiral Tirpitz den Plan für zwei Hochseegeschwader vor, ein Machtinstrument um England zu zwingen, deutsche Weltmachtinteressen stärker zu berücksichtigen. (Vgl. Mommsen 2005, 89)

"Wie hypnotisiert schaut eine Nation auf die Marine", offenbart 1899 (689) Eugen Richter die Misere. Macht, Kultur und Wohlstand erscheinen allein abhängig "von der Vermehrung der Flotte, von der Steigerung des Marine-Etats" und lässt dafür "alle übrigen Bedürfnisse weit zurücktreten." August Bebel sieht am 11. Dezember 1900 (430) in der Reichstagsdebatte über den Entwurf eines Gesetzes betreffend der Feststellung des Reichshaushalts-Etats, die "Götterdämmerung" heraufziehen:

"In den nächsten Tagen wird es wieder in Tausenden von Kirchen heißen: Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! Ja, meine Herren, ich fürchte, daß angesichts all der bösen Zustände in unserem öffentlichen Leben, angesichts des vielen Blutvergießens in vielen Ländern, unseren Geistlichen diese Worte im Halse stecken bleiben. (Sehr gut! links.) Wir stehen vor den letzten Tagen des 19. Jahrhunderts, eines Jahrhunderts, das, wie kein anderes vor ihm, groß in seinen Errungenschaften, in seinen Erfindungen, in seinen wissenschaftlichen Entdeckungen und in der Verbreitung allgemeiner Erkenntniß dasteht, aber auch groß ist in der Schaffung der Klassengegensätze, wie sie niemals in einem früheren Jahrhundert vorhanden waren. Es ist die großkapitalistische Entwicklung, die zu immer stärkeren Gegensätzen führt zwischen Armut und Reichthum. Wir sehen die wachsenden Nationalitätengegensätze, welche die größten Gefahren in sich bergen, und sehen die bürgerliche Gesellschaft unfähig, diese Widersprüche und Gegensätze lösen zu können. Meine Herren, wenn je, so können wir am Ende des 19. Jahrhunderts sagen:

die bürgerliche Gesellschaft
ist mit ihrem Latein zu Ende,
ihre Götterdämmerung ist eingetreten

(Lebhafter Widerspruch rechts - Beifall bei den Sozialdemokraten), ja, es will Abend werden, und der Tag hat sich geneiget. (Beifall links. Widerspruch rechts)."

[Geb` Acht, Du schlauer Treiber du   zurück] Wird der Staatssekretär des Reichschatzamtes die Finanzierung des Staates auf eine solide Grundlage aufbauen? Kann er die Matrikularbeiträge ordnen, die Abgaben der Länder an den Zentralstaat, in einer akzeptablen Systematik darstellen? Vom Kaiser Wilhelm II. liegt ein klarer Auftrag vor, erteilt am 16. November 1893 in der Thronrede zur Eröffnung der 2. Sezession des am 15. Juni 1893 gewählten Reichstages:

"Das Finanzwesen des Reiches wird dergestalt aufzubauen sein, dass unter Beseitigung der bisherigen Schwankungen die Anforderungen desselben an die Einzelstaaten in ein festes Verhältnis zu den Überweisungen gestellt werden, (....) geglättet und die Einzelüberweisungen in ein festes Verhältnis gebracht werden müssen."

Wie wird er die Lasten der Reichsfinanzreform verteilen? Wird er die Flotten- und Hochrüstung durch Erhöhung der indirekten Steuern, die ja Diejenigen sind, welche das Reich in der Hauptsache zur Verfügung hat, aber vorzugsweise die minderbemittelten Klassen schwerer belasten als die Wohlhabenden, finanzieren? Da ist guter Rat teuer. Wie gücklich mußte er sich da wähnen, als im November 1893 der "Der Wahre Jacob" aus Stuttgart für ihn den Rat parat:

"Geb` Acht,
Du schlauer Treiber du,
Das ist der Anfang
der Pleite."

 

 

Etat- und Anleihegesetz 1894/95  zurück

Eine wichtige Aufgabe des neuen Staatssekretärs des Reichsschatzamtes besteht in der Verabschiedung des Etat- und Anleihegesetz. Am 27. November 1893 widmet ihm der Deutsche Reichstag die erste Beratung zur Festsetzung des Entwurfs eines Gesetzes betreffend des Reichshaushaltsgesetzes 1894/95. Posadowsky leitet sie mit einer Rede ein.

 

 

Der Reichshaushalt


Etat für 1894/95: 1.330.429.358 Mark

Verwaltung des Reichsheeres

482.066.828 Mark
(Erhöhung um 31.812.546 Mark)

einmalige Ausgaben des ordentlichen Etats

41.721.523 Mark
(minus 2.753.717)

einmalige Ausgaben des außerordentlichen Etats

99.353.270 Mark
(minus 51.848.063 Mark)
 
 

Verwaltung der kaiserlichen Marine

51.369.307 Mark
(Erhöhung um 3.116.668 Mark)

einmalige Ausgaben des ordentlichen Etats

22.904.030 Mark
(Erhöhung um 1.978.800 Mark)

einmalige Ausgaben des außerordentlichen Etats

6.152.800 Mark
(minus 466.200 Mark)
   

Zum Vergleich andere Ausgaben

   

Reichstag

423 853 Mark

Auswärtiges Amt:

10.323.840 Mark
(Erhöhung um 187.935 Mark)

plus einmalige Ausgaben des ordentlichen Etats

4.827.000 Mark
(Erhöhung um 620.800 Mark)

Reichsschatzamt

360.528.435 Mark
(Erhöhung um 6.292.595 Mark)

plus einmalige Ausgaben des ordentlichen Etats

161.400 Mark
(Erhöhung um 57.220.Mark)

 

 

Die Gesamtrechnung weist einen Fehlbetrag von 5 1/4 Millionen Mark aus. Durch Erhöhung der Matrikulabgaben an das Reich wandelte sich dieser in einen kleinen Überschuss von 7 4/5 Millionen Mark. Trotzdem, die Art und Weise der Haushaltsfinanzierung befriedigte Posadowsky nicht. Er will das Reich durch die Erschließung und Bewilligung neuer Einnahmequellen finanziell emanzipieren.

Auf den Staatssekretär folgt ein Vertreter des Zentrums. Danach spricht August Bebel 1 ½ Stunden von der Tribüne. Ihn löst der Kriegsminister ab, der einiges zu tun hat, um die Keulenschläge des SPD-Frontmann wieder zu richten.

Zur Debatte stand nach Eugen Richter, Mitglied der Deutschen Fortschrittspartei, eine Einnahmesteigerung von 114 Millionen Mark. Am nächsten Tag (1893,126) rechnet er vor, dass es dem Volk summa summarum 100 Millionen Mark kosten wird; 60 Millionen für die Heeresvorlage und 40 Millionen für das Reich. Dazu kommen die schweren Lasten der indirekten Steuern, die sich mit der Militarisierung des Staates weiter erhöhen. Von 1872 bis 1893 stiegen sie von 240 auf 680 Millionen (Karl Bachem 1894).

Eugen Richter rühmt am 30. Januar 1894 im Reichstag die Frage nach der Steuergerechtigkeit aus: "Die Steuern, über welche das Reich verfügt, treffen vorzugsweise die minderbemittelten Klassen, und die Hauptausgaben des Reiches sind solche für Militär und Marine." Dafür tragen sie eh schon die schwere Last. "…. und umso ungerechter ist es gerade die indirekten Steuern, welche ebenfalls von diesen Klassen getragen werden, noch zu erhöhen."

Posadowsky, vermutlich etwas unter dem Eindruck von Eugen Richter stehend, erhält erneut das Wort und schlägt vor, dass bei Annahme der Vorlage, entschieden werden müsse, wie die Lasten auf die Interessengruppen verteilt werden.

 

 

Miquel und Graf von Posadowsky-Wehner   zurück

 

Großes Eröffnungs-Ballet:
Kommentar.
Der Staatssekretär des Reichsschatzamtes Arthur Graf von Posadowsky-Wehner jongliert mit der Tabak-, Bier, Schnaps- und Weinsteuer. "Miquel", flüstert der Souffleur.

Großes Eröffnungs-Ballet. Der Wahre Jacob. Jahrgang 11. Heft 218, Titelblatt. Stuttgart, den 1. Dezember 1894

 

Aus Anlass der Grand pas du Finanzreform präsentiert Der Wahre Jakob auf der Titelseite der 94´er Dezember-Ausgabe das Große Eröffnungs-Ballet. Temperamentvoll jongliert Staatssekretär Posadowsky mit der Tabak-, Bier-, Schnaps- und Weinsteuer. Im Hintergrund poppt eine schmucke Tanzgruppe auf. Ihre Kostüme tragen die Namen der Länder Baiern, Württemberg, Preussen, Sachsen, spielen also auf die Misere der Matrikularbeiträge an. Die Körpersprache der Damen deutet darauf hin, als ob sie ihre Drehungen nicht sobald aufführen wollten. Am unteren Rand des Bildes agiert ein Souffleur, der den Äquilibristen "M i q u e l" zu flüstert. Aber wozu will er den Staatssekretär des Reichsschatzamtes verhelfen?

Es könnte als Codewort für den Auftakt zu einer umfassenden Finanz- und Steuerreform dienen.

"Miquel" könnte ebenso das Signal für eine Reichseinkommensteuer und Reichserbschaftssteuer sein. Zwar lehnte er als preußischer Finanzminister die Reichseinkommensteuer ab, unterbreitet nach Auskunft der Jenaer Volkszeitung vom 17. Juni 1893 aber den Vorschlag für die Einführung einer Reichserbschaftssteuer. Typisch Miquel, obwohl er wußte, daß dies auf Grund der noch nicht ausgewachsenen historisch gegebenen Unterschiede in den Finanzverwaltungen der deutschen Länder nicht durchführbar war, unterbreitet er einen solchen Vorschlag. Aus verfassungsrechtlichen Gründen wurde sie nicht verwirklicht. Als Ersatz beschliesst im Dezember 1893 der Reichstag das Gesetz zur Änderung der Reichsstempelabgabe, vorgelegt vom bayerischen Finanzminister Doktor Freiherr von Riedel und nach Verteidigung durch Staatssekretär Doktor Graf Posadowsky.

Johannes von Miquel erwarb als Nachfolger von Daniel Heinrich Mumm von Schwarzenstein als Frankfurter Oberbürgermeisters von 1880 bis 1890 den Ruf eines Meisters der strengen Einnahmen-Ausgaben-Kontrolle.

 

1891/93 führte Johannes von Miquel in Preußen das System der Einkommen-, Gewerbe- und Vermögensteuer ein. Durch das preußische Kommunalabgabengesetz vom 14. Juli 1893 erhalten die Gemeinden erstmals Grund- und Gebäudesteuer. Es ist die große Steuerreform von 1891/93, die das deutsche Finanzsystem bis heute prägen.

Das Einkommensteuergesetz vom 24. Juni 1891 mit den progressiven Steuertarifen, posaunt Miquel hinaus, sei d i e  neue Steuergerechtigkeit. Hinter ihm liegt das Gesetz über die Klassen- und klassifizierte Einkommensteuer vom 25. Mai 1873, die in Preußen 1811 eingeführte Kopfsteuer, die sich zur Klassen- und dann zur Einkommensteuer wandelt. Die weniger bemittelten sozialen Klassen, so lobt der Finanzminister das neue Gesetz, werden durch die abgestufte Einkommen- und Erbschaftssteuer von Steuerbürden entlastet. Der Einkommensteuer-Satz liegt für Jahreseinkommen von 900 bis 1 050 Mark zwischen 0,62 Prozent und für Einkommen über 10 000 Mark bei zu vier Prozent. 97 Prozent der Steuerpflichtigen, legt Miquel den Abgeordneten zur Beratung des Etat- und Anleihegesetz am 28. November 1893 vor dem Reichstag dar, verfügen in Preußen über ein Einkommen von 900 bis 8500 Mark, nur drei Prozent gelten als Reich.

Geschickt überspielte Miquel in seiner Steuerpropaganda, wo die Progression erst richtig einsetzen musste, aber völlig fehlte, nämlich nach oben. "Es wurmt den alten Kommunisten [Miquel] gewissermaßen heute noch," lästert im November 1893 im Vorwärts aus Berlin, "dass mit dem ungerechten aller Steuersysteme in Preußen-Deutschland nicht schon viel, viel früher begonnen worden ist."

 

Als am 17. März 1892 Wilhelm II. in der Kronrats-Sitzung verlangte, dass Schulgesetz im Sinne nationalliberaler Forderungen grundlegend zu ändern, protestierte Reichskanzler Leo von Caprivi, weil er ein solches ohne Zutun des Zentrums als wertlos ansah, da schlug sich Miquel auf die Seite der konservativen Eliten und wirkte auf eine Sammlungsbewegung von Konservativen, Freikonservativen und Nationalliberalen hin. Hierbei entfaltete der "geheime Mentor" des Kaisers einen großen Einfallsreichtum. Zum Beispiel wollte er das Wahlsystem, durch Einführung einer Altersgrenze, Sonderstimmen und was ihm sonst noch möglich erschien, dazu nutzen. (Mommsen 2005, 58ff., 68)

 

Noch immer kursieren über Johnnes von Miquel viele Geschichten. Von Karl Marx inspiriert, sollte er in seinen Jugendjahren Baueraufstände organisieren. "Er hat später einmal mir gegenüber erklärt," berichtet am 14. Februar 1906 (1266) August Bebel vor dem Reichstag, dass sei "eine Jugendeselei gewesen, und die kann wohl verziehen werden. Aber zehn, zwölf Jahre später war er doch ein gefestigter Mann, war er sogar einer der Führer des Nationalvereins. Es war 1863, als in Preußen der Verfassungskampf mit der gesamten Linken aufs heftigste entbrannt und der damalige Herr v. Bismarck ihr Gegner war. Damals erklärte Herr Miquel in einer Zusammenkunft der Führer des Nationalvereins in Leipzig: nehmen die Hohenzollern nicht Vernunft an, so werden wir ihnen das Schicksal der Bourbonen bereiten, indem wir ihnen die Arbeiter auf den Hals hetzen."

August Bebel schildert anschaulich die Diagonal-Karriere von Johannes von Miquel, vom Mitglied des Bundes der Kommunisten bis 1890 bis zur Ernennung durch Reichskanzler Leo von Caprivi zum preußischen Finanzminister.

 

 


Von ganz unten links nach rechts oben:
Johannes von Miquel (1828-1901)
im Lichte der Diagonal-Karriere
 
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In den vierziger Jahren war Johannes von Miquel (1828-1901) Mitglied des Bundes der Kommunisten. Er ist Mitbegründer des Deutschen Kolonialvereins (1882), seit 1890 preußischer Finanzminister und gilt allgemein als Scharfmacher der Rechten. Die Ernennung von Bernhard von Bülow zum Kanzler war für ihn eine große Enttäuschung. "Seine Aussicht, die allerhöchste Staffel zu ersteigen, ist so gut wie vernichtet." (Vorwärts, Berlin, den 19. Oktober 1900)

 

Marx schreibt am 13. Juli 1851 an Friedrich Engels in Manchester: Miquel hat aus Göttingen geschrieben. "Mehrmalige Hausdurchsuchungen bei ihm. Man fand nichts."

"Lieber Marx", antwortet am 20. Juli 1851 Friedrich Engels aus Manchester: "Der Brief von Miquel gefällt mir. Der Kerl denkt wenigstens .…"

Am 6. April 1856 bittet Miquel in einem Brief an Marx um Aufklärung über das Verhältnis der proletarischen Partei zu den bürgerlichen Parteien in einer künftigen Revolution in Deutschland. Nach seiner Ansicht ist alles zu vermeiden, was die Bourgeoisie erschrecken könnte.

In der Antwort vom Juli d. J. beharrt Marx darauf, einen schonungslosen Kampf gegen die Bourgeoisie zu führen.

Marx aus London am 26. August 1856 an Engels in Manchester: "Ich habe auch einen Brief aus Paris von Miquel erhalten. Er wollte herkommen, aber erst Cholera, dann Blutsturz, worauf die Ärzte ihm den Rat gaben, gefälligst das Seereisen bleibenzulassen und sich so rasch als möglich zu Land nach Haus zu machen. Pech."

Marx erhält am 5. Februar 1857 von Miquel ein Angebot an der Hamburger Zeitschrift "Das Jahrhundert" mitzuarbeiten.

Marx aus London am 23. Mai 1857 an Engels in Manchester: "Einliegend auch Brief von Miquel. Ich verstehe in der Tat seine Theorie von "NichtÜberproduktion", aber "Mangel an Zahlungsmitteln für die Produktion" nicht…. "

Ludwig Kugelmann fügt seinem Brief an Marx vom 19. Februar 1865 einen Brief von Johannes von Miquel bei. Marx' "Kritik der Politischen Ökonomie" enthalte, sagte am 22. Dezember 1864 Miquel darin, "wenig wirklich Neues" und die Schlussfolgerungen seien auf die sozialpolitischen Verhältnisse Deutschlands nicht anwendbar.

Am 9. März 1867 tritt Johannes Miquel im konstituierenden Norddeutschen Reichstag für die Gründung des Norddeutschen Bundes als einheitlichen Zentralstaat unter der Vorherrschaft Preußens ein.

Miquel warnt 1871, damals Abgeordneter des Norddeutschen Reichstages, über den Arzt Louis Kugelmann (1828-1902) aus Hannover, Marx vor einer Einreise nach Deutschland, weil ihm hier die Verhaftung droht.

17./18. September 1879, Karl Marx, Friedrich Engels: Zirkularbrief an Bebel, Liebknecht und Bracke: "Da lobe ich mir doch den Kommunisten Miquel, der seine unerschütterliche Überzeugung von dem in einigen hundert Jahren unvermeidlichen Sturz der kapitalistischen Gesellschaft dadurch bewährt, daß er tüchtig drauflosschwindelt, sein Redliches zum Krach von 1873 beiträgt und damit für den Zusammenbruch der bestehenden Ordnung wirklich etwas tut."

Friedrich Engels bewertet "In der Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891" die Diagonal-Karriere von Miquel als Ausnahme: "Es ist doch undenkbar, daß unsre besten Leute unter einem Kaiser Minister werden sollten wie Miquel."

Das Jenaer Volksblatt meldet am 17. Juni 1893, dass Johannes von Miquel, die Reichseinkommensteuer ablehnt, aber für die Einführung einer Reichserbschaftsteuer plädiert.

 Eugen Richter nennt ihn 1899 (694) den Mann für die Flottenvermehrung.

 

 

 

Welche Rolle spielt Johannes von Miquel (1828-1901) im politischen Leben von Posadowsky? In der Öffentlichkeit erscheint ihr Verhältnis im Zusammenhang mit der Sammlungsbewegung (1894) mit wechselnden, bisweilen irritierenden Aussagen. Etwa nach der Art wie es damals am 17. August 1893 der "Vorwärts" (Berlin) mitteilt:

"Wie Miquel will, Ich halte still".

Womit er angeblich den Befähigungsnachweis als  Staatssekretär erbrachte.

Ähnlich bringt ihre Beziehung am 12. Juni 1898 der "Kladderadatsch" (Seite 99) im Gedicht "Der gelehrige Schüler" zum Ausdruck:

Freund Miguel spricht mit frohem Muth:
"Der Posadowsky macht sich gut! Er übt, Ich seh' es mit Behage",
Schon mit Verstand und rechtem Sinn
Die Kunst, in der ich Meister bin:
In vielen Worten nichts zu sogen.

Diese Darstellungen sind problematisch, weil sie das Verhältnis im Kern nicht klar erfassen, sie verklären. Sie übergehen, dass zwischen ihnen politisch-konzeptionelle Unterschiede bestehen. Miquel stellte die außen- und innenpolitische Sicherung des Landes über den Ausbau des Verfassungsstaates. Das schließt den Erlass von Repressivgesetzen gegen die Sozialdemokratie ein und orientiert auf eine allgemeine Wahlrechtsreform nach preußischem Vorbild. Es ist das Konzept der Isolation des Gegners und läuft der Strategie von Posadowsky, die sozialdemokratische Bewegung und Partei verfassungsrechtlich in das System einzubinden, entgegen. Zweifellos war Miquel ein Mann mit Ambitionen.

"Für den ehemaligen Kommunisten und jetzigen Agrarier Johannes von Miquel ist die Ernennung eines verhältnismäßig jungen Mannes [Bernhard von Bülow] zum Staatskanzler eine bittere Enttäuschung." (LVZ 11.10.1900)

 

"Miquel-Moor:

Auf, organisieren wir Bauernaufstände! Ich will Euer Hauptmann sein. Stellt mich vor ein Heer Kerls wie ich und wir tanzen ihnen den Kehraus und machen aus Deutschland ein Bauernparadies."

(Originalbildunterschrift)

 

 

Informationen zu den abgebildeten Personen. Im Hintergrund von links nach rechts:


Adolf Stöcker, Reichstagsabgeordneter für Wittgenstein, Siegen, Biedenkopf. Antisemiten, CSP

Karl Freiherr von Gamp-Massaunen (1846-1918), Gutsbesitzer, Politiker, Reichstagsabgeordneter für die Freikonservative Partei

Hermann Paasche (1851-1925) von 1881 bis 1884 und 1893 bis 1918 Reichstagsabgeordneter für das Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin, Herzogtum Sachsen-Meiningen, Kreuznach-Simmern. Zeitweise Vizepräsident des Reichstages, Liberale Vereinigung, Nationalliberale Partei


Im Vordergrund von links nach rechts:

Diederich Hahn (1859-1918), Reichstagsabgeordneter (Neuhaus -Oste, Hadeln, Lehe, Kehdingen, Jork), Mitglied des Preußischen Hauses der Abgeordneten und von 1894 bis 1918 Mitglied des Hannoverschen Provinziallandtags

Johannes von Miquel (1828-1901), preußischer Finanzminister

Richard Roesicke (1845-1903), Reichstagsabgeordneter für den Wahlkreis Dessau-Zerbst. Generaldirektor der Schultheiß Brauereien in Tornow bei Potsdam. Von 1890 bis 1898 Vorsitzender des Verbandes der Berufsgenossenschaften. Sucht im Reichstag Anschluss an die Freisinnige Vereinigung.

Wilhelm von Kardorff (1928-1907), Deutsche Reichspartei, Gründer Centralverband Deutscher Industrieller

Graf Hans Wilhelm Alexander von Kanitz-Pondangen (1841-1913), Mitglied der Deutschen Reichspartei

Miquel-Moor. Der Wahre Jacob. Nr. 589, Stuttgart, den 18. Juni 1901, Titelblatt

 

"Der Wahre Jakob" zweifelt 1901 mit den Vokabeln des Bildes daran, ob "Miquel-Moor" das Großbürgertum hinter der Welt- und Flottenhochrüstungspolitik versammeln kann. Bei seinem stürmischen Eintritt in die Versammlung ruft er:

"Auf, organisieren wir Bauernaufstände. Ich will Euer Hauptmann sein!"

Wer Bauernaufstände kann, kann auch Adolf Stöcker (Antisemiten, CSP), Gutsbesitzer Karl Freiherr von Gamp-Massaunen, Hermann Paasche, Diederich Hahn, Richard Roesicke, Wilhelm von Kardorff, Gründer des Centralverband deutscher Industrieller oder Graf Hans Wilhelm Alexander von Kanitz-Pondangen (DRP) in einer Sammlungsbewegung hinter sich bringen? Wahrscheinlich nicht, will der Cartoon "Miquel-Moor" sagen. Überdies stehen personelle Fragen der Sammlungsbewegung zur Disposition, als Johannes von Miquel im Mai 1901 den Posten des preußischen Finanzministers verlor, weil er beim Bau des Mittellandkanals sich zusammen mit anderen Konservativen 1899 dazu aufgeschwungen hatte, die Bewilligung der Gelder zu verweigern.

Es übersteigt das politische Vorstellungsvermögen, dass der Staatssekretär des Innern in der Sammlungsbewegung mit den Deutschkonservativen (DKP), Nationaliberalen (NLP) und Freikonservativen (FVp) mitwirkt. Das gefährdete vor allem die Unterstützung des Zentrums in der Sozialgesetzgebung.

 

Seit Jahren sah man Johannes von Miquel nicht im Haus am Königsplatz. Nun schwingt er ich am 13. Dezember 1899 hier zu einer Rede mit aufgeplanzter Speerspitze gegen den Zentrums-Abgeordneten Ernst Lieber *16.11.1838) auf. Ein Anlass war mit dessen Kritik an der Hamburger Kaiser-Rede gefunden. Das ist bisher nicht üblich, hält ihn der Reichsfinanzjongleur vor und verkündet seine Wahrheit: "Diese Rede hat einen sehr großen Widerhall unter Millionen Patrioten Deutschlands gefunden."

Ernst Lieber trifft der Vorwurf mitten in Herz. Ungeheuerlich, Miquel verdächtigt ihn bei seiner Majestät! (RT 13.12.1899, 3330) Von außen beobachtete das Neue Wiener Journal: Er ".... replicirte ruhig aber wirksam und wies nach, daß Miquel, im Hintergrund der Ereignisse wühlend, die Stellung des Centrums im Reichstag und gegenüber der Krone zu untergraben suchte. Während der Rede Liebers`s herrschte große Ruhe". (14.12.1899)

Miquel widerum glaubte, Lieber will ihn - "und das war vielleicht der ganze Zweck der Sache" - als unglaubhaft, als einen Mann mit wechselnder Meinung hinstellen. Ach ja: Marx, Miquel und die geplanten Bauernaufstände - lange ist es her. Der Reichsfinanzkünstler, wie man inh auch nannte, nimmt dies als Angriff seine Ehre auf. Seine Antwort gestaltete sich zu einer Art "Selbstnachruf" (Vorwärts, Berlin): "Meine Herren, ich habe nie geleugnet, dass ich in der Jugendzeit, unter den Eindrücken des Jahres 1848, welches ich als Student erlebte, unfähig, der Dialektik eines so bedeutenden Denkers zu widerstehen, mich den Anschauungen von Karl Marx anschloß." (Miquel RT 13.12.1899, 3331) Auf die öffentliche Wirkung dieser uralten Geschichten will sich Ernst Lieber nicht verlassen. Um die Angriffskraft seiner Aussagen zu stärken, verweist er auf näher an der Gegenwart liegende Ereignisse, etwa, dass er es war, "der öffentlich alle politischen Parteieien für überlebt erklärte" und der Verabschiedung des Flottengesetzes 1898 mittels des "Deckungsparagraphen" Schwierigkeiten bereitete. Er macht gegen die Finanzpolitik und "gesamte Reichspolitik" mobil. Unverantwortlich, wie er die "Reichsverdrossenheit" schürt. Und das, das hört der Staatssekretär des Inneren überhaupt nicht gerne.

Es kommt noch mehr auf den Tisch. Ernst Lieber (RT 13.12.1899, 3334) wirft Miquel die

"systematische Erweckung
des preußischen Partikularismus gege das Reich"

vor. Völlig verübelt er ihm, was die Revision der politischen Freundschaft nach sich zog, die Äußerung: "Das Zentrum ist am Falle der Kanalvorlage schuld."

"Auffallend war," registrierte das Neue Wiener Journal, "das Fürst Hohenlohe und Staatssekretär Posadowsky Miquel sichtlich ignorirten." "Ja, Posadowsky unterließ es auch, nur mit einem Worte in seiner Rede den Finanzminister, der sich unterdessen zurückgezogen hatte, zu vertheidigen."

"Moralisch ist", urteilt am 14. Dezember 1899 der Vorwärts (Berlin), "Miquels Stellung nicht mehr haltbar."

 

 

Grand pas du Finanzreform  zurück

Der Staatssekretär des Reichsschatzamtes, wirklicher Geheimer Rath, Graf Posadowsky, hält am

29. Januar 1894

zur

Ersten Beratung des Entwurfs eines Gesetzes, betreffend die anderweite Ordnung des Finanzwesens des Reiches

- manchmal auch Finanzreformgesetz oder Reichsfinanzreformgesetz genannt -

die einleitende Rede. Mehrheitlich wird es als notwendiges angesehen. Die verbündeten Regierungen gehen davon aus, "daß eine Regelung der Finanzen zwischen dem Reich und den Einzelstaaten eine politische und finanzielle Notwendigkeit ist."

Aber "das Finanzreformegsetz ist eine außerordentliche komplizierte Materie," betont der Redner, "die eine eingehende Kenntnis unseres ganzen Finanzwesens erfordert, und es ist klar, dass weite Kreise der Bevölkerung, die von einem solchen Projekt nur durch die Zeitungen Kenntnis erhalten haben, das Verständnis für eine derartige großartige organisatorische Maßregel fern liegt und schwierig ist."

"Was will die Reichsfinanzreform? Sie will die Einzelstaaten schützen gegen die Schwankungen der Überweisungen vom Reich und will die Überschüsse der fetten Jahre verwenden für einen Reservefonds zur Deckung der Fehlbeträge der schlechten Jahre". (Posadowsky)

Das Ziel ist, die Einzelstaaten gegen die stark schwankenden Einnahmen und Ausgaben des Reiches zu schützen. "Die Matrikularbeiträge sollen nur ein Notbehelf sein, bis das Reich von seinen eigenen Einnahmen leben kann." (Posa RT 29.1.1894) Derzeitig ist die Situation unbefriedigend. "Die Einzelstaaten haben durchschnittlich auf eine Einnahme von 42 1/2 Millionen Mark verzichtet ....", legte Posadowsky am 25. Februar 1895 vor dem Reichstag dar. Wenn die Bundesstaaten demgegenüber eine Mehrüberweisung von 40 Millionen Mark erwarten, "so war das eine billige und gerechte Forderung."

Die Regierung erwartet unbedingt eine "organische Finanzreform" (Posadowsky), wo diese Schwankungen nicht mehr auftreten.

Um die Sicherheit des Systems der Matrikularbeiträge zu gewährleisten, strebt Posadowsky eine "automatische Gestaltung" an (RT 25.2.1895).

Trotzdem ist das Reichsfinanzreformgesetz politisch und finanztechnisch umstritten.

Im Verlauf der Debatte um die Reichstagsvorlage vom 29. Januar 1894 (908) bildeten sich drei Gruppen:

Die erste Gruppe lehnt die Reichsfinanzreform ab. Hier sind die Freisinnigen tonangebend. Sie wollen keine weitere Anhebung der indirekten Steuern, dafür aber die Reichseinkommensteuer einführen. Letzteres ist gegenwärtig undurchführbar, weshalb eine erneute Kontroverse zu diesem Plan unterbleibt.

Eine zweite Gruppe verweigert die Zustimmung zur Finanzreform, weil dafür gegenwärtig ungünstige volkswirtschaftliche Rahmenbedingungen bestehen Es kriselt.

Eine dritte Gruppe von Abgeordneten besteht vor allem aus Konservativen und Nationalliberalen. Sie steht dem Vorhaben geneigt und freundlich gegenüber, ist bereit, die indirekten Steuern zu erhöhen. (Siehe auch Die Finanzreform im Reichstag)

Mit Emphase stürzt sich Miquel auf die Große Finanzreform und überbringt den Reichstagsabgeordneten die frohstimmende Botschaft, dass alle, außer den Freisinnigen, im preußischen Abgeordnetenhaus vertretenen politischen Richtungen dies ebenso tun. Eine Ablehnung, warnt er, würde den Überhang der Matrikular-Beiträge vergrößern und die Einzelstaaten könnten den Föderativen Staat dann nicht mehr als Wohltäter empfinden.

Es blieb das Grundproblem, worauf der Zentrums-Abgeordnete Ernst Lieber (*1838), Doktor der Rechte, nachdrücklich hinweist, demzufolge Zölle und indirekte Steuern, die 130 Millionen Mark übersteigen, vom Reich unter Berücksichtigung der Bevölkerungszahl den Einzelstaaten überwiesen und gegebenenfalls als Matrikularbeitrag zurückgefordert werden mussten. So verlangt es die Franckensteinsche Klausel. Seit dem haben nach Ernst Lieber die Einzelstaaten 287 Milliarden Mark zurückerhalten. Deshalb ist ein "wahres Glück", dass wir uns hier über ihr "wahre Bedeutung" beraten können, betont der Abgeordnete.

Posadowsky hob in seiner Eröffnungsrede hervor:

"Die Franckenstein`sche Klausel [vom 9. Juli 1879]
wird aufgehoben."

Das zweite Problem, die Schuldentilgung im Reich, ist gegenwärtig nur durch die Erhöhung der indirekten Steuern zu erreichen. Beim "Darniederliegen von Handel und Gewerbe" (Lieber) ist dies kein guter Weg.

Die Sozialdemokraten nehmen seine Vorhaben nicht so positiv auf, wie man es allgemein erwarten würde. Denn der Betrag der durch sein Konzept neu aufgebracht werden kann, beträgt lediglich 94 Millionen Mark, was nicht mal die Kosten der Militärvorlage deckt. Miquel könnte, befürchtet am 16. November 1893 der Vorwärts (Berlin), zum Konkursverwalter werden. Bald setzt das fröhliche Weiterwirtschaften ein:

"Also borg hier,
borg dort,

mit anderen Worten Bankrott, das ist das Ergebnis der 20jährigen Finanzwirtschaft der besitzenden Klasse im "großen" Deutschland."

Der Reichstag sucht in einer mehrtätigen Aussprache eine Antwort darauf, welche Steuererhöhungen überhaupt in Frage kommen.

[a] Börsensteuer. Sie lehnt Posadowsky mit Rücksicht auf die allgemeine Lage in der Wirtschaft und Handel ab. Wir dürfen uns nicht verhalten "wie jener der den Baum fällt, um die Früchte zu pflücken". Der Berliner Börse vertraut dann ihre Werte ausländischen Kapitaleigner an. Wenn das Geschäft nicht lohnend, werden ihr Kapital herausziehen, befürchtet er.

[b] Wehrsteuer. Zu ihr sollen die vom Militärdienst freigestellten verpflichtet werden. Vielleicht wäre es möglich, so diskutiert man, wenn man für die Bemessung eine Einkommensgrenze einzieht, was eine amtliche Prüfung erfordert, und aller Erfahrung nach einem ziemlichen Verwaltungsaufwand, ohne Aussicht auf einen angemessenen Ertrag, verlangt. Schwerer als dieser Einwand wiegt das Los der Betroffenen. In welchen Zustand befinden sie sich, fragt Posadowsky, die vom Dienst im Heer freigestellt oder entlassen wurden?

Wird man einen Kellner mit tauben Ohr einstellen?

Nimmt man einen Jäger, der schielt?

Wer will einen Bediensteten, der stammelt.

Und wer möchte einen Gesellen mit einem steifen Finger beschäftigen?

"Nun sollen wir uns von diesen Leuten auch noch Steuern erheben!" Er möchte keine Blinden, Lahme und Taube zur Wehrsteuer heranziehen. (Posa, 29.1.1894, 909)

[c] Liebesgaben. Ein alter Bekannter, der die landwirtschaftlichen Betriebe ernähren sollen, aber sich oft überfordert fühlt. Die Pacht für Domänen sind zurückgegangen. Bei nächster Gelegenheit, als das Thema in der ersten Beratung zum Zolltarifgesetz am 12. Dezember 1901 wieder hochkommt, rät Posadowsky nochmals dringend von weiteren Liebesgaben davon ab. Schon früher war festgestellt worden, dass die Landwirtschaft zu niedrige Gewinne ausweist, unter zu geringen Investitionen leidet und die Rentabilität unzureichend ist. - Dann wurde noch so manche agitatorische Pirouette gedreht, zum Beispiel: "Diese sogenannten Liebesabgaben stellen aber nichts dar als eine Ermäßigung gewisser Steuern für in ihrer Produktion beschränkte Industrien. Wenn man das Liebesabgaben nennt, muss man auch die Befreiung der untersten Volksklassen von der Einkommensteuer eine Liebesabgabe nennen. (Sehr gut! rechts.) - Wenn man gegen die Landwirtschaft vorgeht, hißt man immer den Türkenkopf der Junker auf und kämpft gegen ihn."

Schon früher flammten immer wieder Debatten zur schwierigen Lage der Landwirtschaft im Osten Deutschlands auf. Einmal agierte Posadowsky dabei nicht besonders geschickt. Es war in der Reichstagssitzung am 29. Januar 1894 (908), als er, um den Nachweis der Misere zu führen, auf einen Erfahrungsbericht von einem Gutsbesitzer zurückgriff. Natürlich ist dies ansich nicht verboten. Aber es trug sich eben so zu, dass weite Teilen der Öffentlichkeit ihren Angaben nicht mehr traute. In ganz ähnlicher Weise gerät nun die gesamte Vorgehensweise durch das Reichsamt des Innern bei der Vorbereitung der Handelsverträge in Verruf. Am 7. Juni 1898 führte es "Erhebungen zur Feststellung der Ergiebigkeit der Landwirtschaft" durch. Dazu ermittelte der Deutsche Landwirtschaftsrat zusammen mit den Vorständen der Landwirtschaftskammern solche Landwirte, die "in natürlicher technischer und sozialer Beziehung" ein "typisches" Bild von der Landwirtschaft entwerfen können. So stellte sich das erwünschte Ergebnis ein, nämlich was bewiesen werden sollte, dass die Landwirtschaft nicht rentabel ist, weil die Verwertung des Getreides bei diesen Preisen nicht die Produktionskosten deckt. Nun war es nur noch ein kleiner Schritt, alle davon zu überzeugen, dass die Getreidezölle erhöht werden müssen, womit sich die Wünsche der Agrarier erfüllen.

Den Enqueten des Grafen Posadowsky (4.10.1900) traute man nicht mehr. Mit der Produktionsstatistik, urteilen die Sozialdemokraten, hat er sich - gelinde ausgedrückt - keine Ehre eingelegt. Und die Erhebung über die gewerbliche Kinderarbeit waren ebenfalls ein Schlag ins Wasser. Und jetzt wurde noch eine Enquete bekannt, deren Resultate, dass Gegenteil von dem beweisen, was der Kommentar dazu darlegt.

[d] Inseratensteuer. Sie liegt quer zu den Interessen der Stellensucher und bringt unzumutbare Belastungen für diejenigen, die Todesanzeigen aufgeben müssen. - Abgelehnt!

[e] Biersteuer. Hiergegen opponieren die Bayern. "Ich habe aber die Überzeugung," sagt Posadowsky am 23. März 1895 im Reichstag, "die Bierschlange wird immer wieder ihr drohendes Haupt erheben."

[f] Tabakfabriksteuer. In einem Kampf-Auftritt wendet sich am 19. Februar 1895 der Reichstagsabgeordnete Fritz Geyer im großen Saal des "Weißen Hirsch" von Magdeburg gegen die Tabakfabrikatsteuer. Während sich die Konservativen und Nationalliberalen für diese Steuer erwärmen, die Freisinnige Volkspartei nicht den Mut des Protestes besitzt, bleibt als Gegner nur die Sozialdemokratische Partei Deutschlands übrig (VS 13.2.1895). An vielen Orten im Reich stieß ihre Einführung auf Ablehnung.

In der Reichtagssitzung am 13. Mai 1895 wird das Gesetz zum Zollkartell mit Österreich-Ungarn, der Gesetzesentwurf über die Fürsorge für die Witwen und Waisen der Personen des Soldatenstandes des Reichsheeres und der Marine von Feldwebel abwärts beraten. Weiterhin kommt an diesem Tag zum zweiten Mal das Tabak-Steuergesetz auf die Tagesordnung.

Die Tabakarbeiterklasse umfasst circa 300 000 bis 400 000 Arbeiter und Arbeiterinnen. Es ist eines der gesundheitsschädlichsten Gewerbe. Nikotinvergiftung und Stäube verursachen verschiedene schwerer Krankheiten. Und es ist trotzdem die Branche der deutschen Industrie, wo die niedrigsten Löhne gezahlt werden. Im Durchschnitt verdient eine Tabakarbeiterfamilie, wenn also Mann und Frau zusammen tätig sind, 14 bis 20 Mark pro Woche, was in allen Gegenden des Deutschen Reiches kaum groß voneinander abweicht. (Nach DNZ 1894, 567, 572)


Die neueste Sozialreform.
Ein Beweis, daß Deutschland an der Spitze der Arbeiterfürsorge steht. (Originaltext)

Kommentar. Der Staatssekretär des Reichsschatzamtes Graf von Posadowsky presst die Tabaksteuer ab.

 

Der Wahre Jacob. Nr. 227, Stuttgart, den 3. April 1895, Titelblatt, Ausschnitt

 

"Man möge eine blühende Industrie nicht lange durch solche Projekte beunruhigen", verlangt der Abgeordnete Ernst Bassermann (1854-1917), ab 1905 Vorsitzender der Nationaliberalen Partei (NLP), und lehnt die Fabrikat-Steuer ab. Wilhelm von Kardorff (1828-1907), Deutsche Reichspartei, akzeptiert die Tabak-Fabrikatsteuer, weil wir ein Kulturstaat sind und nicht hinter anderen zurückbleiben wollen. "Wir sind der Überzeugung," stellt Hermann Molkenburg (SPD) klar, "daß der größte Teil der Mehrbelastung des Tabaks auf die Arbeiter übergewälzt."

Die indirekten Steuern, fordert der Reichstagsabgeordnete Karl Bachem (1858-1945), müssen im richtigen Verhältnis zur Belastung der mittleren und oberen Klassen mit den direkten Steuern stehen. In den letzten Jahren sind sie bedenklich gewachsen, was die minderbemittelten Klassen hinreichend belastet. Ernst Bassermann (*1854) aus Mannheim weist mit allen ernst darauf hin, dass "ja zweifellos nicht geleugnet werden" kann, "daß in weiten Kreisen der Bevölkerung

eine sehr erhebliche Mißstimmung

gegen die Ausdehnung des indirekten Steuersystems vorhanden ist ...." (RT 2250) Jedenfalls werde das Zentrum das Tabak-Steuergesetz ablehnen. Ansonsten befürchtet Karl Bachem, dass auch die Einzelstaaten die direkten Steuern erhöhen. (Vgl. Bachem 30.1.1894 und 13. Mai 1895)

Posadowsky hält an der höheren Besteuerung fest. Er entgegnet damit dem Vorwurf des Abgeordneten Bassermann, der in der Kommission gemachte Vorschlag einer Zollerhöhung sei unannehmbar, weil er zum gesteigerten Verbrauch inländischen Tabaks, also zu verminderten Erträgen führen würde. Die Einführung eines Wertezolls sei schwierig und langwierig, was in dieser Session nicht mehr Zustande gebracht werden kann. (Vgl. LV 15. Mai 1895)

Am 7. Februar 1906 beschließt die Steuerkommission des Reichstages, dass der Doppelzentner feingeschnittener Tabak mit 800 Mark und der Doppelzentner Zigaretten mit 2000 Mark Eingangszoll belastet wird. Auf jede im Inland hergestellte Zigarette werden nach dem Staffeltarif auf die Ein-Pfennig-Zigarette einzehntel Pfennig, die Zwei-Pfenning-Zigarette zweizehntel Pfennig, die Drei-Pfennig-Zigarette sechszehntel und so weiter Steuern erhoben. Zigarettentabak im Pack von zwei bis 3 Mark pro Kilogramm verteuert sich ebenfalls. Im Ergebnis summieren sich die Preissteigerungen auf 10 bis 25 Prozent. Zentrum und Nationalliberale unterstützen dies. Sozialdemokraten (Friedrich August Karl Geyer, Herman Molkenbuhr, August Kaden, Hinrich Schmalfeldt, Adolph Johann von Elm) protestieren gegen die bedrückenden Belastungen des Konsums und der Industrie. (Vgl. Tabaksteuer 6.2.1906)

[g] Weinsteuer. Vor allem Württemberg bringt Einwände vor. Der Bevollmächtigte des Bundesrates für das Königreich Preußen und preußische Finanzminister Doktor Johannes von Miquel (1894, 921) hält dagegen: Der Wein darf als Luxusartikel nicht frei bleiben. Um seinen Worten Gewicht zu verleihen plustert er sich auf und behauptet: Wir vertreten die öffentliche Meinung.

[i] Zuckersteuer. Die Debatte läuft ins Leere. "Welchen tatsächlichen Wert diese postume Debatte über die Zuckersteuer haben soll," äußert am 12. März 1897 Posadowsky im Reichstag offen, "ist mir bis jetzt nicht ganz klar geworden, weil gar kein Abänderungsantrag vorliegt."

[Was wird aus der Reichsfinanzreform?  zurück] Wann wird uns das Reichsschatzamt vom Überfluß befreien? "Der Wahre Jacob" versteht es im September 1894 seiner V o r a h n u n g in der Karikatur "Venus die Auftauchende" (1894), konkreten sinnlichen Ausdruck zu verleihen.

 

 

 

Arthur Graf von Posadowsky-Wehner und Johannes von Miquel (1828–1901), 1890 von Reichskanzler Leo von Caprivi zum preußischen Finanzminister berufen, treiben auf hoher See. Vorne auf dem Ungetüm sitzt der Mann mit dem Säbel und kündigt die Steuer-Execution.

Text vom unteren Bildrand:
"Im Frühling tauchte unter sie mit allen Bösen.
Und unsre Steuerzahler sangen frohe Lieder.

Doch mit des Herbstes Nebeln kehrt die Alte wieder,
Um uns von unserm "Überfluss" zu erlösen".

Venus die Auftauchende. In: Der Wahre Jacob. Jahrgang 11. Nummer 213. Stuttgart, den 25. September 1894, Seite 1784

 

Wird es so kommen? Kann der Steuermann die Reform durch die Stromschnellen bringen? Das weiss er nicht genau, sagt er mit dem Blick auf das Lager der Patrioten, also den Bürgerlichen. Bei ihnen besteht die Gefahr, dass die Stimmung umkippt und die "Unzufriedenheit ins Unangemessene steigt"? Der Mann auf der Brücke, räumt am 29. Januar 1894 vor dem Reichstag ein, fürchtet die Sozialdemokraten. Ihnen, das sieht er voraus, lacht das Herz im Leibe. Denn sie brauchen den Baum gar nicht mehr zu schütteln, "die Früchte fallen ihnen schon durch den Sturm der Parteien in den Schoss". Ist das so? Und wieder die Frage: Wird das so eintreffen?

[Finanzreformgesetz 1895  zurück] Eine weitere Beratung zum Entwurf eines Gesetzes, betreffend die anderweite Ordnung des Finanzwesens des Reiches, optimistisch oft als Finanzreformgesetz bezeichnet, findet

am 25. Februar 1895

statt. Wie üblich leitet die Verhandlungen der Reichsschatzsekretär mit einem Referat ein. Er glaubt nicht an die Fruchtbarkeit der Poststeuer und hält die Einführung der Wehrsteuer weiter für nicht möglich. Ebenso die Durchführung des Tabakmonopols, doch seien hier unbedingt höhere Einnahmen notwendig.

Nach ihm spricht Eugen Richter von der Freisinnigen Volkspartei (FVp):

Einen "Finanzautomat", wie Posadowsky ihn plant,

widerspricht den Reichs- und Einzelinteressen des Staates und unterläuft das Einwilligungsrecht des Reichstages. Die bisherigen finanzpolitischen Arbeitsweisen stimulieren niemanden zur Sparsamkeit. Eine Kritik, welche die Sozialdemokraten teilen. Wilhelm Liebknecht sah bereits am 14. Januar 1887 die "Volkvertretung zu einer Geldbewilligungsmaschine" herabgedrückt.

An diesen zwei Beratungstagen bestritt niemand die Notwendigkeit der Erhöhung der Steuern. Dem Reichschatzsekretär der 33 Millionen Mark neu Steuern für die Militärvorlaage eintreiben will, ist ein Rechenfehler unterlaufen. (Es wurde gar nicht die Vorlage angenommen die 58 Millionen forderte, sondern nur eine, welche 44 Millionen verlangte. Sind davon nur 25 bewilligt, bleiben nur 19 zu decken.)

Vor den letzten Verhandlungen im Reichstag hört die Ostdeutsche Rundschau (26.2.1895) aus Wien: "Über die Belastung der schwachen Schultern werde jetzt allgemein geklagt; es wird sogar von schulterschwachen Millionären gesprochen."

[Gescheitert im Überfluss   zurück] Am 13. Mai 1895 erhält die Reichsfinanzreform zusammen mit der an diesem Tag vorgelegten Tabaksteuer-Vorlage, einst auf der Finanzministerkonferenz am 26. November 1893 ausdrücklich als ihr Rückgrat bezeichnet, ein schlichtes Begräbnis. Resigniert packt Posadowsky, berichtet das Voralberger Volksblatt aus dem Deutschen Reichstag, gegen nachmittags 3 Uhr seine mächtigen Aktenstöße in eine schwarze Ledermappe. Dann verkündet der Präsident, dass die Vorlage in allen Teilen abgelehnt ist. Zuvor unternahm Posadowsky nochmal den Versuch die Finanzreform zu retten, und mahnte, nichts Lebendes mit Totem zu begraben.

Die Große Steuerreform scheiterte und war, unbefangen betrachtet, ein Eklat. Die Franckenstein`sche Klausel, die abgeschafft werden sollte, verschwand erst mit dem Gesetz vom 14. Mai 1904. Eine Reichsfinanzpolitik, an der sein Herzblut hing, was sich aus seinem Referat vom 29. Januar 1894 erschliesst, reicht Ende 1919 der Hauptverantwortliche für das Projekt als Entschuldigung in "Deutschlands Erneuerung" nach, war unter den gegebenen Beziehungen zwischen Bundesstaat, Bundesrat und Einzelstaaten nicht möglich. Was genau damit gemeint, führt er leider nicht näher aus. Welche Hindernisse könnten den Weg versperrt haben? E r s t e n s die Steuerquellen, was der Verlauf und die Form der Reichstagssitzung vom 29. Januar 1894 gut veranschaulicht, müssen aus allen möglichen Verkehrsformen von Waren, Umsätzen und Geld abgespalten, sprich zusammengekrazt werden. Z w e i t e n s. Noch bestehen zwischen den deutschen Einzelstaaten große wirtschaftliche Unterschiede fort, weshalb viele nicht über die Einkommensteuer verfügen. Deshalb ist es  D r i t t e n s  fraglich, ob man sie auf die Gefahr hin noch größere Ungerechtigkeiten hervorzubringen über ein einheitliches Steuerrecht brechen kann. Ursache des Eklats waren objektiv bestehende Entwicklungsunterschiede in der Finanzpolitik der deutschen Länder.

"Venus die Auftauchende" wird noch nicht zur Steuer-Execuition erscheinen. Vielmehr muss sich - O-Ton! -

"Der arme Posadowsky"

im Sommer 1895 mit Millionen von Überschüssen im Reichsetat herumschlagen. Eine gefährliche Lage. Womöglich verliert jetzt der Letzte noch den Glauben an die notwendige Vermehrung der Staatseinnahmen durch Tabakfabrikat-, Bier- und Weinsteuer. Der oberste Finanzstratege des Landes deckt seinen Rückzug, indem er mitteilt, dass ein Wiederaufruf der Reichsfinanzreform in die Tagesordnung erst dann sinnvoll ist, wenn die Konvertierung der Reichsanleihen gewährleistet ist. "Wir sind für eine gründliche Zinsherabsetzung der Reichs- und preußischen Anleihen. Wird diese in unserem Sinne durchgeführt, dann haben die Posadowskyschen Pläne vollends jede Berechtigung verloren." (Vorwärts 24.08.1995)

Das Problem der Matrikularumlagen bleibt ungelöst. "Wir sehen darin keinen Schutz gegen Übergriffe der Reichsfinanzverwaltung und der einzelnen Ressorts", hebt Eduard Bernstein am 15. Mai 1906 im Reichstag hervor. "Wir sehen im Gegenteil darin eine Aufmunterung der einzelnen Ressorts, mehr auszugeben (....), weil die einzelstaatlichen Vertretungen bei ihr vor jeder Verantwortung geschützt sind." Wenn die Matrikularumlagen gebunden, und die Ausgaben steigen, dann bleibt eben weiter gar nichts übrig, als entweder neue Schulden zu machen oder wieder eine Vermehrung der indirekten Abgaben vorzunehmen. "Auf keines von beiden können wir uns einlassen," schlussfolgert Eduard Bernstein, "wir halten nach wie vor daran fest - und um so mehr werden wir uns jeder Nachgiebigkeit mit Bezug auf die Matrikularumlagen entgegenstemmen -, daß eine

Reichseinkommensteuer
und Reichsvermögenssteuer
die Grundlage
der deutschen Finanzwirtschaft
sein muß."

Auf eine einheitliche Reichsabgabenordnung und Abschaffung der Matrikularbeiträge musst das deutsche Finanzsystem bis zur Erzbergersche Finanz- und Steuerreform 1919/20 warten.

Trotz der Widrigkeiten um das Finanzreformgesetz bescheinigt ihm am 13. Dezember 1897 Eugen Richter, ein kritischer Parlamentskollege von der Freisinnigen Volkspartei (FVp), im Reichstag rückblickend auf seine Tätigkeit als Staatssekretär des Reichsschatzamtes, dass durchaus der Vorsatz zu erkennen, die Verwaltung zu vereinfachen, möglichst viel Klarheit und Durchsichtigkeit zu erreichen. Das war keine Selbstverständlichkeit, denn die Etatplanung wies in den letzten Jahren dazu gegenläufige Tendenzen auf. Als Posadowsky 1897 die Geschäfte im Reichsschatzamt niederlegt, verzeichnete der Staat einundzweidrittel Milliarden Mark Schulden. Vierzehn Jahre später waren sie bereits auf über fünf Milliarden Mark angewachsen. (Posa RT 16.2.1912, 81)

 

 

Umsturzgesetz   zurück

"Die Sozialdemokratie hat eben ein wahres Schweineglück in der Politik,
die Regierung macht ihnen das Konzept." (Adolf Gröber, 12. Mai 1895)

Neben dem Finanzreformgesetz, welches scheiterte, trieb die Regierung die Umsturzvorlage voran.

"Nachdem der Schäfer gefesselt, können die Schafe bequem geschoren werden."

Links auf dem Bild Arthur von Posadowsky- Wehner, rechts Johannes von Miquel und am Baum gefesselt der deutsche "Michel".

Der wahre Zweck. In: Der Wahre Jacob. Titelblatt, Nr. 221, Stuttgart, den 31. Juli 1893

Am 17. Dezember 1894 liegt dem Reichstag der Entwurf eines Gesetzes, betreffend Änderungen und Ergänzungen des Strafgesetzbuches, des Militärstrafgesetzbuches und des Gesetzes über die Presse vor. Ihren "wahren Zweck" enthüllt 1893 Der Wahre Jacob im Subtext am unteren Rand der Grafik:

"Nachdem der Schäfer gefesselt, können die Schafe bequem geschoren werden."

Auf "Umsturz" steht eine Strafe von fünf Jahre Zuchthaus. Undemokratisch war vor allem die damit einhergehende gesetzlich gestützte Willkür, die ein gewaltiges Explorations- und Tätigkeitsfeld erhielt.

Nach heftigen ideologischen Kämpfen, lehnt der Reichstag die Vorlage am 11. Mai 1895 in zweiter Lesung ab. Nun war zu befürchten, dass ein neues Sozialistengesetz aufgelegt wird. Doch ein Teil der bürgerlichen Politiker erkannten durchaus, dass dies Kontraproduktiv wirken könnte. Zu ihnen gehörte Adolf Gröber (1854-1919). Er tadelte in der abschließenden Debatte die Scharfmacher, was damals ein eingeübter und gut definierter politischer Begriff war. Gemeint waren hier der preußische Justizminister Karl Heinrich Schönstedt (1833-1924) und der Preuße Ernst von Köller (1841-1928). Der volkstümliche Zentrumabgeordnete aus Württemberg beklagte ihr höchst ungeschicktes und ungehobeltes Auftreten. "Noch ein paar solche Reden," sagte Adolf Gröber unter viel Zuspruch im Saal, "und der Triumph der Sozialdemokratie ist fertig."

"Es ist indeß noch nicht aller Tage Abend", warnt der Vorwärts (Berlin) vor den umgestürzten Umstürzler!. "Die Junker, die Pfaffen und Geldsack-Gesellschaft, von der die verunglückte Umsturz-Kampagne veranlasst ward, muß auf anderem Wege zum Ziele zu kommen versuchen."

 

 

Revirement  zurück

 

Handwerks leid (Orginaltitel)

 

 

Reichskanzler Leo von Caprivi (1831-1899) unterweist Johannes von Miquel (1828-1901), Finanzminister von Preußen, in Sachen "Zuverlässigkeit" und "Collegialität". Man sagte ihn um 1892 Avancen auf das Amt des Reichskanzlers nach. Tief in die politischen Kämpfe der Agrarier gegen die Caprivischen in Handelsverträge verstrickt, rechnete er zu den Scharfmachern (SPD-Kampfbegriff) der Rechten.

1897 wurde er Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums.

Ihn umgab der Nimbus, in Vorbereitung der Reichstagswahlen am 16. Juni 1898, eine Sammlungsbewegung der rechtstreuen Kräfte zu organisieren, die gegen den Kanzler gerichtet.

Handwerks leid. Der Wahre Jacob. Jahrgang 11. Nr. 205. Stuttgart, den 05.Juni 1894, Titelblatt (Teilansicht)

 

Posadowsky ist bis Ende 1894 unter Caprivi`s Kanzlerschaft tätig, also praktisch bis zum Revirement des Philipp zu Eulenburg (1847-1921), der quasi mit dem Kaiser befreundet, und am 20. März 1894 eine Denkschrift zur Umgestaltung der deutschen Regierung vorlegt. Danach soll Adolf Marschall von Bieberstein (1842-1912), seit 1890 Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, entfernt werden. Angeblich wird ihm der Zusammenstoß mit Kuno Moltke und August Eulenburg anläßlich des Bismarck-Besuchs in Berlin nicht verziehen. Bernhard von Bülow muss übernehmen. Miquel als "Bindeglied zwischen der Regierung und den rabiat gewordenen Agrariern" darf bleiben. Caprivi`s Kanzlerschaft wackelt. (Vgl. Röhl 2002, 55-59) Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst soll ihn ablösen. Am 29. Oktober 1894 übernahm er als erster Katholik und Süddeutscher das Amt. Die personelle Erneuerung ist ein Triumph über die Politik des Ausgleichs und der Agrarzölle des Vorgängers, sie stärkt das persönliche Regiment Wilhelm II.

Schon im kommenden Frühjahr soll Heinrich von Boetticher (1833 -1907), Unterstützer der Caprivischen Handelsverträge, von 1880 bis Juli 1897 Staatssekretär das Reichsamt des Innern, durch Posadowsky und Adolf Marschall von Biberstein (1842-1912) durch Bernhard von Bülow ersetzt werden.

1896 nimmt Doktor Hans Hermann von Berlepsch (1843-1826), der mit der Präsidentschaft über die Internationale Konferenz für Arbeitsschutz vom 15. bis 28. März 1890 in Berlin Geschichte schrieb, seinen Abschied aus dem Amt des preußischen Staats- und Handelsministers. Begonnen hatte er seine Karriere in Thüringen, später zum Oberpräsident der Rheinprovinz befördert, übernimmt 1890 auf Bismarcks Fürsprache die Berufung zum preußischen Staats- und Handelsminister. Unter Berlepsch`s Ägide erfolgte der Ausbau der Arbeiterversicherungsgesetzgebung und Gewerbeaufsicht. In den Betrieben wurden neue Sicherheitsvorschriften eingeführt und die Kinderarbeit zurückgedrängt, die Arbeitszeit für Frauen und Jugendliche reduziert und die Sonntagsarbeit verboten.

Als Dr. von Berlepsch von seinem Staatssekretärsposten scheiden musste, schrieb der Geschäftsführer des Centralverbandes Deutscher Industrieller, Herr Bück, "daß wir endlich doch den Herrn v. Berlepsch kleinbekommen haben, hat mich mit Befriedigung erfüllt …. Ich nehme keinen Anstand zu erklären, daß die Ablehnung des im übrigen ganz vernünftigen Handelskammergesetzes hauptsächlich gegen die weiteren Pläne des Herrn von Berlepsch gerichtet gewesen ist, und zwar hauptsächlich gegen die von ihn geplante Organisation von Arbeitern." (Hoch 25.2.1927, 9249)

"Während Kaiser und Regierung bei Streiks repressiv gegen Arbeiter und Gewerkschaften vorgehen wollten," erhärtet dies Carsten Schmidt 2007 (20/21), "setzten Berlepsch und seine sozialreformerisch gesinnten Mitarbeiter auf eine Stärkung der Rechte der Arbeiter. Auf Druck der Reformgegner gab Berlepsch sein Amt schließlich auf."

"Berlepsch hat gehen müssen," kommentiert am 1. Juli 1896 das Znaimer Wochenblatt aus Wien, "weil seine eifrige Befürwortung positiver Sozialreformen nicht mehr in das gegenwärtige politische System passt."

Die Personalrochade verläuft im März 1896, wie C. G. Röhl (2002, 57) eingehend erläutert, ob der "Verschwörung" von Holstein nicht nach Plan, was nicht weiter expliziert werden muss, weil es hier lediglich darauf ankam zu zeigen, wie die Position Graf von Posadowsky in die planmäßig vorbereitete Ernennung von Bernhard von Bülow im Sommer 1897 als Staatssekretär des Äußeren und anderer Positionswechsel eingebunden war.

 

 

Staatssekretär des Inneren  zurück

[Ernennung  zurück] Seine Majestät der Kaiser ernennt am 1. Juli 1897 allergnädigst Dr. jur. Graf Arthur Adolph von Posadowsky-Wehner zum Staatssekretär des Reichsamtes des Inneren und beauftragt ihn mit der allgemeinen Vertretung des Reichskanzlers nach Maßgabe des Gesetzes vom 17. März 1878. Der König von Preußen erhebt ihn allergnädigst zum Staatsminister und Mitglied des Staatsministeriums.

[Die Institution  zurück] "Das Reichsamt des Innern hatte seit 1879 immer mehr Aufgaben an sich gezogen: Im Frühjahr 1894 war von der I. Abteilung eine neue III. Abteilung für wirtschaftliche Fragen abgezweigt worden, die nach sechs Jahren wiederum geteilt wurde, so dass seit Mai 1900 vier Abteilungen bestanden. Die Anzahl der Direktoren stieg von einem im Jahr 1889/92 auf drei im Jahr 1900, die der Vortragenden Räte von zehn auf sechzehn.

Die legislatorischen Aufgaben der "II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten", die eigentlich sozialpolitische Angelegenheiten bearbeitete, wurde bereits 1891 im "Handbuch für das Deutsche Reich" - und dann fortlaufend - präzise und treffend gekennzeichnet: "Der zweiten Abteilung liegt die Bearbeitung derjenigen Angelegenheiten ob, welche sich auf die Fürsorge für die arbeitenden Klassen (Kranken-, Unfall-, Invaliditäts- und Altersversicherung, Arbeiterschutz, Sonntagsruhe etc.) beziehen. Dieselbe bearbeitet außerdem die gewerblichen Angelegenheiten, einschließlich des Versicherungswesens, die Freizügigkeitssachen und das Armenwesen."

Das Reichsamt des Inneren wurde wieder Vorreiter der sozialpolitischen Gesetzgebung." (Tennstedt 2021, 49f.)

[Nächste Aufgaben  zurück] Die bevorstehenden Wahlen zum 10. Deutschen Reichstag am 16. Juni 1898 lassen ihre erste Aufgaben fallen. Ein hartes Ringen, ist um die Festlegung der Friedenspräsensstärke des Heeres zu erwarten. Bei der Ausrichtung der Handelspolitik sind die Interessen von Industrie, Agrarierer, Handels- und Bankkapital auzutarieren. Im 13. Dezember 1897 (176) verspricht Posadowsky vor dem Reichstag, "dass Wohl der arbeitenden Klasse weiter zu fördern", "soweit es sich um berechtigte Forderungen für die sittliche und körperliche Gesundheit der Arbeiter handelt." Das wird nicht, so einfach einzulösen sein. Denn die Phase der wirtschaftlichen Prosperität ist zu Ende, erklärt am 10. Dezember 1897 August Bebel unmissverständlich im Reichstag. Es folgt die Periode der Krise und die Entlassung von Arbeitern, was weitreichende Folgen für den Staat hat. Das Reichsbudget baut sich zu neun Zehntel auf den Einnahmen aus Konsumartikeln, aus den indirekten Steuern, wie Branntwein- (119 Millionen), Zucker- (90 Millionen) und Salzsteuer (48 Millionen). Hinzukommen die Einnahmen aus dem Getreide- (142 Millionen), Petroleum- (59 Millionen) und Kaffeezoll (52 Millionen Mark - alles 1895). Es liegt auf der Hand, dass bei einem allgemein schlechteren Geschäftsgang, die Konsumfähigkeit der Massen abnimmt. Aber die besitzenden Klassen greifen, um den Patriotismus zu nähren, ungern in die eigenen Beutel.

Seitens der Ritterguts-, Grundbesitzer und Führer landwirtschaftlicher Unternehmen bestehen klare Erwartungen an die Agrarpolitik, die im Dezember 1897 (152) der Deutschkonservative (DKP) Reichstagsabgeordnete Karl von Leipziger (1848-1924) mit Nachdruck artikuliert: "Wir haben ja die Hoffnung, daß, nachdem der jetzige Herr Staatssekretär des Innern als Schatzsekretär uns bereits in der vorigen Session gesagt hat, daß er neue autonome Maximal- und Minimaltarife ausarbeiten lasse, die spezialisirter sein sollen als früher, .... - daß man wohl aus diesen ….. schließen dürfe, daß der Wind günstiger für die Landwirthschaft aus den höheren Regionen der Reichsregierung zu uns herabweht, und daß man bei den nächsten Handelsverträgen eine Vernachlässigung der Landwirthschaft, wie sie bei den letzten Handelsverträgen stattgefunden hat, nicht wieder eintreten läßt."

Man ist optimistisch, daß er der richtige Mann ist, um all diese Aufgaben zu stemmen. "Die politischen und wirthschaftlichen Anschauungen des Grafen Posadowsky-Wehner passen in den allerneuesten Kurs durchaus hinein," schreibt im Sommer 1897 die Berliner Zeitung. "War der Graf bisher schon an aller reaktionären Regierungspolitik schaffend betheiligt, hat er seinen "guten Willen", dem Volke mehr Steuern auzuhelfen, mehrfach bewährt."


Staatsweisheit
(Orinalüberschrift)

 


Bülow (beim Einmarsch des Ministeriums in den Reichstag): "Ganzes Bataillon - Augen rechts!"

"Der Wahre Jacob". Stuttgart, den 3.Dezember 1901, Seite 3645, Ausschnitt

Angetreten sind: Arthur Graf von Posadowsky-Wehner: Staatssekretär des Inneren; Theodor Adolf Möller, seit 1905 von Möller: 1901 preußischer Minister für Handel und Gewerbe; Georg Kreuzwendedich Freiherr von Rheinbaben: 1899 preußischer Innenminister; Victor Adolf Theophil von Podbielski, Gutsbesitzer aus der Priegnitz, Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten (1906) und Staatssekretär des Reichspostamtes; Peter Friedrich Tirpitz: 1896 Chef des ostasiatischen Geschwaders, 1897 Staatssekretär des Reichsmarineamtes; Karl Hermann Peter Thielen, ab 1900 von Thielen: 1891 Minister der öffentlichen Arbeiten, später auch "Eisenbahnminister"). (Der letzte Name auf dem Bild ist nicht eindeutig lesbar.)

 

1901 beginnen die Arbeiten am Zollgesetz und zum Zolltarif. Fragen der Reichsbank-Privilegien sind zu klären. Die Ausgaben für die Flottenrüstung belasten den Staatshaushalt. Die Einführung der Schaumweinsteuer und die Erhöhung der Reichsstempelabgaben (1901) reichen nicht zur Deckung des Finanzbedarfs. Die Schuldenlast des Staates steigt. (Vgl. Eheberg 2010, 13) Es entbrennt von Neuen die Steuererhöhungs-Debatte. Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler Adolph Wagner (1835-1917) und Ernst Hasse (1835-1917), ein Nationalliberaler (NLP) der den Wahlkreis Leipzig Stadt im Reichstag vertritt, stehen bereit und projektieren bereits neue Steuereinnahmequellen. Die Deutschen, überlegen sie, könnten sich bei Bier und Tabak für die Flottenrüstung etwas absparen. Hier gilt es jetzt die Reserven zu erschließen! Darüber mokiert sich Eugen Richter von der Fortschrittlichen Volkspartei (FVp) am 14. Dezember 1899 (3363) im Reichstag. Zunächst wird aber Posadowsky´s geheimes Rundschreiben vom 11. Dezember 1897 hohe Wellen schlagen. (Siehe Kapitel Graf Posadowsky hat die Schlacht verloren.)

[Reformen  zurück] "Mit seinem neuen Kurs im Reichsamt des Inneren und der Unterstützung von Seiten des Zentrums", so blickt Joachim Bahlcke auf seine Tätigkeit in den ersten Jahren zurück, "begann Posadowsky eine Reihe durchgreifender sozialpolitischer Reformen."

Durch seine Initiative erfolgt der weitere Ausbau der staatlichen Sozialpolitik. Es werden bedeutende wirtschafts- und sozialpolitische Reformen realisiert (siehe Gladen 1974, u.a. 85f.):

  • Im Juli 1899 erfolgte mit Zustimmung der Reichstagsabgeordneten der SPD die einheitliche Festlegung der Höhe der Invalidenrenten.

  • Einführung obligatorischer Gewerbegerichte zum 1. Juni 1901

Bestehende Arbeitsschutzbestimmungen werden verschärft. Das Mindestalter für nichtschulpflichtige Kinder in gewerblichen Betrieben beträgt jetzt 13 Jahre. 14jährige Jugendliche dürfen höchstens 6 Stunden und 16jährige maximal 10 Stunden täglich arbeiten. Sie dürfen nicht zwischen 20.30 Uhr und 5.30 Uhr arbeiten. Die Höchstarbeitszeit für Frauen beträgt 11 Stunden. Verbot für Nachtarbeit und Beschäftigungsverbot an Vorabenden von Sonn- und Feiertagen nach 17.30 Uhr. Kinderarbeit unter 13 Jahren ist verboten. Die Bestimmungen über die Sonntagsarbeit für alle Beschäftigten werden präzisiert. Der Mutterschutz, die Bedingungen für Nachtarbeit, Arbeit an Sonn- und Feiertagen in der Industrie und auf dem Bau werden verbessert.

Siehe auch Gesetz, betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung vom 30. Mai 1908.

  • Erweiterte Kinderschutzgesetz vom 30. März 1903

  • Gesetze zu den Gewerbe- (1901) und Kaufmannsgerichten (1904)

Ihre Einrichtung soll die Arbeitskonflikte friedlich regeln. Sie erkennen den Arbeiter als gleichberechtigten Vertragspartner des Unternehmers an, die im Ergebnis des Bergarbeiterstreiks von 1905 weitere Rechte erringen.

  • Finanzielle Förderung des Baus von Arbeiterwohnungen

  • Ausbau der Versicherungsgesetzgebung, vor allem durch das Unfallversicherungsgesetz vom 30. Juni 1900

  • Verbesserung des Krankenversicherungsgesetzes vom 2. Mai 1903. Verlängerung der Zahlung des Krankengeldes von 13 auf 26 Wochen.

  • Novelle zum preußischen Bergbaugesetz vom 14. Juli 1905

  • Novelle der Gewerbeordnung vom 25. Mai 1908.

 

                                         

Eisenwalzwerk
Adolph von Menzel (1815-1905). Öl auf Leinwand. 158 mal 254 Zentimeter. Entstanden von 1872 bis 1875. Standort: Alte Nationalgalerie, Berlin.

Von 1873 bis 1893 verdoppelte sich die Roheisenproduktion in Deutschland. Die Arbeiterklasse wächst schnell. 1873 beträgt die Zahl der Beschäftigten in Industrie und Handwerk 4,7 Millionen. 1913 sind es 10 Millionen. Deutschlands Einwohnerzahl erhöht sich von etwa 40 Millionen im Jahr 1870 auf 67 Millionen im Jahr 1913.

Friedrich Naumann (1860-1919): Deutschlands Zukunft hängt an der Frage, "dass auch die großindustrielle Arbeit freudige und selbstgewollte Leistung und Eigeninteresse der arbeitenden Personen wird." (11. April 1907, Reichstag).

 

 

Im Zeitraum von 1900 bis 1903 trägt die SPD Reformen zur Sozialversicherung, Regelung der Arbeitszeit, Verbot der Kinderarbeit und Verbesserung des Mutterschutzes mit.

Manchmal übertreibt Posadowsky die Erfolge deutschen Sozialpolitik. Zum Beispiel, wenn er am 13. Februar 1897 (173) den Sozialdemokraten im Reichstag vorhält:

Es ist noch keinem Staat in der Welt gelungen, uns das nachzumachen, was wir für die arbeitenden Klassen gethan haben. (Lebhafter Beifall.)"

Gehen die Pferde mit ihm durch? Denn es gab natürlich, etwa in der Schweiz und Österreich, bereits vor der Berlepschen Arbeiterschutzgesetzgebung entsprechende sozialgesetzgebende Initiativen. Selbst Russland kannte den gesetzlichen Arbeitsschutz für Arbeiter. Arthur Raffalovich (1854-1921) sprach darüber im Oktober 1897 in Brüssel auf dem Internationalen Kongress für Arbeitergesetzgebung vor einem auserlesenen wissenschaftlichen Publikum, besetzt mit Gustav Schmoller, von Berlepsch, Werner Sombart und vielen anderen namhaften Akteuren, über die Arbeiterschutzgesetze für Frauen und Kinder in Russland.

Einen Vorsprung, es sei mit Vorsicht angemerkt, könnte Deutschland vielleicht auf dem Gebiet der Invaliditäts- und Altersversicherung errungen haben.

 

 

Ist er ein Bremser?   zurück

 

Er weiß es nicht. (Originaltext)

 

 

Alter Arbeiter: Wissen Sie vielleicht, wo hier die Frau Sozialreform wohnt?
Portier Posadowsky: Frau Sozialreform? Nee, kenne ich nich, wird wohl verzogen sind!
(Originaltext)

Er weiß es nicht. Der Wahre Jakob. Nummer 524, Stuttgart, den 20.Dezember 1898, Titelblatt, Ausschnitt

 

Über das Reformtempo kommt Unzufriedenheit auf. Noch 1932 flirrt im Redaktionsgedächtnis der Frankfurter Zeitung umher, dass der neue Staatssekretär damals zunächst einer temporeichen Fortführung der Sozialpolitik und Erweiterung des Koalitionsrechts kühl gegenüberstand. Posadowsky Berufung erscheint sowohl in der Einschätzung des Znaimer Wochenblatts von 1897 wie in der von Carsten Schmidt aus dem Jahr 2007 im faden Licht des Bremsers. Er antwortet am 13. Dezember 1897 im Reichstag auf diese Vorwürfe: "Einen berechtigten Grund zur Unzufriedenheit mit unserer inneren Politik glaubt man darin gefunden zu haben, daß unsere soziale Gesetzgebung ziemlich stillstände. Wie man diesen Vorwurf erheben kann gegenüber dem Inhalt der Thronrede, das ist mir unverständlich. (Sehr gut! rechts.) Das können Sie doch nicht geglaubt haben, daß das deutsche Volk wirthschaftlich stark genug sei und genug Elemente der Selbstverwaltung in solchem Maße besäße, um in diesem Tempo auf dem Gebiete der Sozialgesetzgebung fortzuschreiten, wie das in der Vergangenheit gewesen ist, als wir die drei großen sozialen Institutionen geschaffen haben. (Sehr richtig! rechts.) Es mußte darnach ein gewisser Zustand der Ruhe eintreten, und wir müssen uns jetzt zunächst damit beschäftigen, diese sozialen Gesetze, die noch viele und, wie ich anerkenne, schwere Lücken haben, sachlich auszubauen, das große Gebäude vor allen Dingen wohnlich, hell, geräumig und durchsichtig zu gestalten. Ein solches Gesetz ist aber angekündigt worden, und über dessen Fassung wird zur Zeit beraten." "Wir sollten uns überhaupt im Reichstag beschränken, nicht fortgesetzt neue sozialpolitische Gesetze geben, sondern die vorhandenen Gesetze weiter ausbauen und in ihrem Wirkungskreis ausdehnen. Das ist eine Riesenarbeit." (Posa RT, Vorwärts 14.12.1897)


Invalidenversorgung (Originaltitel)


 

Was ich bin und was ich habe,
Dank` ich dir, mein Vaterland.

Simplicissimus. Illustrierte Wochenschrift. 4. Jahrgang Nummer 8. 20. Mai 1899, Titelblatt, Ausschnitt

"Zu den Petitionen, die am regelmäßigsten beim Reichstage eingehen, gehören die Militärinvaliden. So war es z.B. auch im Jahre 1895. Zehntausende Invaliden baten unter Hinweis auf ihre traurige Lage um Erhöhung ihrer Pensionen. Doch was antwortete die Regierung? In der Petitionskommission erklärte der Geheime Oberregierungsrat Plath, dass an eine allgemeine Erhöhung der Pensionen nicht gedacht werden könne." (Die Kriegsinvaliden 1907)

 

Am Tempo der Sozialgesetzgebung drehten noch andere mit. Doktor Friedrich Naumann (1860-1919) wirft am 7. April 1907 den Parteien im Reichstag die "Unfruchtbarmachung der deutschen Sozialgesetzgebung" vor. Zu diesem Zeitpunkt bereitete man den Abgang von Graf von Posadowsky aus seinen Amt vor. Nicht ihn nimmt der Liberale ins Visier, sondern den Bundesrat. Obwohl für eine Reihe sozialpolitischen Forderungen im Reichstag eine Majorität vorhanden, verschleppte er immer mal wieder die Entscheidung. Zur Lösung des Problems schlägt Naumann die Einrichtung eines "Industrieparlamentarismus" vor. Posadowsky sah darin ein bemerkenswertes "philosophisches Programm".

Seitens der SPD fiel die Reaktion weniger positiv aus, erkannte sie doch darin eher den Versuch, die Verhältnisse im bürgerlichen Staat weiter zu idealisieren. Der Referent, kommentiert der "Vorwärts" (Berlin), schien nicht zu merken, dass er eine Kritik an den bürgerlichen Parteien vortrug, die sich in Mehrheit vor dem Bundesrat duckte, und sich diese Verschleppung gefallen lassen, weil sie unter den Einfluss der Großindustrie und des Kapitalismus stehen.

SPD-Reichstagsabgeordneter Ignaz Auer (1846-1907) verortet 1900 (134) eine andere Ursache für die amtliche Geschwindigkeitsbegrenzung der Sozialpolitik: "Es ist doch kein Geheimnis, daß selbst die Regierung sozialpolitische Vorlagen, die sie für nothwendig erachtete - ich erinnere hier nur an die Unfallnovelle von 1896/97 - zurückgezogen und dem Reichstag nicht mehr vorgelegt hat, weil der Zentralverband [CdI] Einspruch erhob, weil man dort erklärte:

wir wollen nicht,
daß in dieser Richtung noch weiter reformirt wird."

Außerdem können Entscheidungen, die klare Präferenzen setzen, Bremsspuren hinterlassen. So wünschenswert die Witwen- und Waisenversicherung ist, laut Berufsstatistik von 14. Juni 1895 können immerhin 7,7 Millionen männliche Arbeitskräfte einen Anspruch geltend machen. Vorrang sollte die Reform des Krankenversicherungsgesetzes, die Verlängerung von 13 auf 26 Wochen haben, weil damit eine für die Arbeiterfamilien unheilvolle Lücke zwischen der Beendigung der Krankenversicherung und dem Beginn der Invalidenrente geschlossen werden kann. "Das ist die verhängnisvolle Zeit ….," "wo in der Tat einer Arbeiterfamilie, die vollkommen subsistenzlos wird, verelenden kann und vielleicht ihr bisschen Hausrat verschleudern und die Ersparnisse, die sie gesammelt hat, aufzehren muß, um überhaupt leben zu können." Es ist eben "eine einfache Frage der finanziellen Leistungsfähigkeit", erklärt am 12. Januar 1900 der Staatssekretär des Inneren vor dem Reichstag, weshalb zunächst die Reform der drei großen Versicherungsgesetze abgeschlossen werden soll.

 

 

Was konnte er entscheiden? zurück

 

Hampelmänner.
Ein Weihnachtsgeschenk. Originaltext

Kommentar: Graf von Posadowsky am Seil von unten der zweite.

Der Wahre Jacob. Nummer 428. Stuttgart, den 16. Dezember 1902, Titelblatt; Ausschnitt


Er erkannte, "dass staatliche Sozialpolitik in eine emanzipatorische Gesellschaftspolitik einmünden müsse, die den Arbeitern Freiheit und Möglichkeit zur Selbsthilfe gab." Das erforderte die Aufhebung des politisch-diskriminierenden Zensuswahlrechts mit anachronistischer Wahlkreiseinteilung und die uneingeschränkte Koalitionsfreiheit. An die Lösung der Arbeiterfrage nicht nur sozialpolitisch heranzugehen, betont Albin Gladen (1974), sondern sie als Verfassungsfrage anzuheben, das wollte Posadowsky nicht verantworten.

Nur, wollte oder  k o n n t e  er nicht?

Dies führt endlich zu der Frage: Über welche Handlungsspielräume verfügte der Staatssekretär a) innerhalb der institutionellen und b) in den Grenzen der kaiserlich-herrschaftlichen Subordinationsverhältnisse?

Die Zahl der dem Reichsamt des Innern unterstellten Institutionen war groß und es erschien vielen so, als wenn sie ins unermeßliche wächst. Sie "alle zu leiten, im Auge zu behalten, zu kontrollieren und zu entwickeln geht über die Arbeitskraft eines einzelnen, sogar des tüchtigsten Mannes weit hinaus." Diese Leistung "ist nur unter völligem Verzicht auf alles Behagen, auf alle Annehmlichkeiten des Lebens möglich." (DG 1906, 464)

Gelegentlich erhob die Öffentlichkeit gegen das Reichsamt des Innern den Bürokratie-Vorwurf. Seine Größe und den damit angeblich verbundenen Verlust des unmittelbaren Zusammenhangs, waren dazu durchaus angetan. Indes konnte man ihn in dieser Form mit demselben Recht gegen fast jede Behörde wenden. Ausgeglichen wurde dieser Nachteil durch zahlreiche Enqueten, die jahrein jahraus über alle möglichen Fragen und Bevölkerungsgruppen verfasst und das Amt so in unmittelbare Berührung mit den betreffenden Kreisen setzen. Das erbrachte eine Fülle von Kenntnissen aus dem unmittelbaren praktischen Leben und bereicherte die Tätigkeit des Amtes. In dieser Hinsicht war es also den anderen Ämtern und Ressorts gleichwertig, wenn nicht sogar überlegen. (Vgl. DG 1906, 463).

Das Reichsamt des Inneren ist nicht wie das preußische Ministerium des Inneren eine verwaltende Behörde, sondern ein Ressort für die Vorbereitung von Gesetzen und für die Überwachung ihrer Ausführung. Der Staatssekretär dieses Amtes hat sowohl in dieser Eigenschaft wie als Mitglied des preußischen Staatsministeriums selbstverständlich zu allen ernsten politischen Fragen, die Reich und Staat bewegen, Stellung zu nehmen. Da alle politischen Vorlagen, ehe sie in den Bundesrat kommen, zunächst das preußische Staatsministerium passieren, so ist das Staatssekretariat des Reichsamtes des Innern sehr wohl in der Lage, sich zu jedem in seinem Ressort ausgearbeiteten politischen oder wichtigen sozialpolitischen Gesetzesentwurf im preußischen Staatsministerium auszusprechen. Allerdings kann die politische Bekämpfung der Sozialdemokratie nur eine sekundäre, nebenamtliche Aufgabe sein. (Vgl. DG 1906, 462)

 

Der Ritt auf dem Rasiermesser (Originaltext)

 


Regis voluntas supreme lex - Der Wille des Königs ist oberstes
Gesetz.

Die Sesshaftigkeit der Minister kann auch im Neuen Jahr von niemanden garantiert werden. (Originaltext)


Erläuterungen:
Die Personen auf dem Rasiermesser sind in der Reihenfolge von vorn nach hinten "Bülow", "Posa", "Budde", "Studt", "Einem", "Möller", "Reinbe" und "Po". Gemeint sind damit:

Bülow = Bernhard von Bülow (1849-1929), 1897 Staatssekretär des Äußeren, von Oktober 1900 bis Juli 1909 Reichskanzler

Posa = Arthur Graf von Posadowsky-Wehner (1845-1932), Staatssekretär des Reichsschatzamtes (1893), Staatsekretär des Inneren (1897)

Budde = Hermann Budde (1851-1906), 1900 Abschied als Generalmajor, dann preußischer Staatsminister und Minister der öffentlichen Arbeiten

Studt = Heinrich Conrad von Studt (1838-1921), Kultusminister in Preußen (1899), Minister im Ministerium der Geistlichen-, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten. Er scheidet 1907 im Rahmen der Bildung des Bülow-Blocks etwa zeitgleich mit Posadowsky aus dem Amt.

     Einem = Karl von Einem (1853-1934), preußischer Generaloberst, 1903 bis 1909 Kriegsminister

Möller = Theodor Möller, Mitglied des Reichstages für den Wahlkreis Duisburg, Mülheim an der Ruhr, Ruhrort, Oberhausen, Nationalliberale Partei, Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses (1894-1901), Vorstandsmitglied des CdI (siehe Kapitel Graf Posadowsky hat die Schlacht verloren"). 1901 preußischer Minister für Handel- und Gewerbe. Erklärt am 13. Dezember 1890 im Reichstag, dass von der Aufrechterhaltung des Exports, die gesamte Wohlfahrt Deutschlands abhängt. (Nach Lübecker Volksblatt 8. Mai 1901)

Rheinb = Georg Freiherr von Rheinbaben (1855-1921)
Preußischer Innen- und Finanzminister, Vertrauter von Friedrich Alfred Krupp

Pod = Victor Adolf Theophil von Podbielski (1844-1916), preußischer Generalleutnant, Staats- und Landwirtschaftsminister (1901), Staatssekretär des Reichspostamts (1897)

Arthur Graf von Posadowsky-Wehner zweiter von vorn, hinter Bernhard von Bülow.

Quelle: Der Ritt auf dem Rasiermesser. Der Wahre Jakob. Nummer 455, Stuttgart, den 2. Januar 1904, Seite 4, Zeichner: Emil Erk.

 

Wenngleich sich Staatssekretär Posadowsky "mit der politischen Tätigkeit, der Organisationen der Sozialdemokratie, ihren Vereinen, ihren Versammlungen und ihrer Presse nicht zu beschäftigen hat, weil das nicht zu seinem Ressort gehört, und weil er ihr gegenüber auch keinerlei administrative Massnahmen treffen kann, so hat er dafür einen um so genauern Einblick in die vielen Wirkungskreise des Ressorts, in die Stellung der Sozialdemokratie zu den sozialpolitischen Massnahmen des Reiches und deren Wirkung auf die Arbeiterkreise." (DG 1906, 462)

Ein großer Teil der Arbeit im Reichsamt des Innern galt immer dem Reichstag. Der Staatssekretär und ein nicht geringer Teil seiner Räte waren dazu verurteilt, Woche für Woche in Kommissions- und Plenarsitzungen des Reichstages zuzubringen. (DG 1906, 462)

Hinzu kam, "In der persönlichen Vertretung seines Ressorts vor dem Reichstage, sogar bis in alle Kleinigkeiten und in der Verantwortung der unglaublichsten Fragen, geht er fast zu weit."(DG 1906, 462)

Über die genaue Aufgabenverteilung zwischen dem Staatssekretär und dem Reichskanzler, kritisiert Posadowsky 1899, bestanden bei den Reichstagsabgeordneten öfters Unklarheiten.

Der Reichskanzler verantwortet die allgemeine Reichspolitik und formuliert ihre Führungslinien. Graf von Posadowsky steht dem Reichstag zunächst als Ressortchef vom Reichsamt des Innern gegenüber. Während der Reichskanzler als preußischer Ministerpräsident auch im Herren- und im Abgeordnetenhaus Fragen der allgemeinen Staatspolitik zu erörtern und demgemäß für deren einheitliche Verhandlung zu sorgen hat, hat Graf Posadowsky, obwohl preußischer Staatsminister, im preußischen Landtage nichts zu tun, sondern ist parlamentarisch auf die Vertretung seines Ressorts im Reichstag beschränkt, allerdings des umfangreichsten, das überhaupt von der Regierung angeboten wird. (DG 1906, 462)

Sie unterschieden nicht zwischen den Rechten, welche die Reichsverfassung dem Reichskanzler und den verbündeten Regierungen gibt, und der souveränen Verwaltung der Einzelstaaten. (Posa RT 13.12.1899, 3387)

Die Satire-Zeitschrift Der Wahre Jacob 1904 karikiert die Personalentwicklung der Reichsführung auf seine Weise und lästert:

"Die Sesshaftigkeit der Minister kann auch im Neuen Jahr von niemanden garantiert werden."

An der Spitze der Klinge vom Rasiermesser sitzt der Reichskanzler Bernhard von Bülow und dahinter Posadowsky, der Staatssekretär des Innern. Was lässt das persönliche Regiment von Wilhelm II. zu? Regierung, Beamtenschaft usw waren "…. durchsetzt von dem Bestreben, die Gunst, der Allerhöchsten Person für sich zu gewinnen bzw. zu erhalten" (Röhl 2002, 133). ".… immer weiter frisst sich die Überzeugung Bahn, die sämtlichen Minister seien nicht selbständige Männer, die nach ihrem guten Glauben handeln, sondern mehr oder weniger Puppen, die blindlings den Winken und Launen ihres kaiserlichen Herren folgen" (W. J. Mommsen 2005, 64). "Die Reichskanzler, die Staatssekretäre der Reichsämter und die preußischen Minister waren praktisch zu Handlangern der Monarchen herabgesunken ....". Das System auf dem Prinzip des "allerhöchsten Vertrauens" und Schmeichelns, musste zur Katastrophe führen (Röhl 2002, 130) und ballte sich 1914 zum Desaster.

 

 

 

Weltpolitik, Handel, Flottenrüstung  zurück

Deutschland stürmt auf das Spielfeld der Weltpolitik. Vornan das Großbürgertum in Erwartung neuer Märkte, gefolgt von der Mittelschicht mit ihren nationalen Sehnsüchten von der führenden Nation und dem Geist der Unbesiegbaren als Erbgut der Schlacht von Sedan. Eugen Richter (RT 1898, 701) befürchtet, dass die Weltpolitiker keine Grenzen kennen. Damit wäre dann die am 6. Februar 1888 im Deutschen Reichstag (673) während der Debatte zur Wehrvorlage durch Otto von Bismarck in einem Anfall von Schwelgerei und Selbstgerechtigkeit feierlich verkündete Reziprozität von militärischer Stärke und deutscher Friedfertigkeit entsorgt.

[Kräftegleichheit herstellen  zurück] Posadowsky ist bereit, so erzählt es das Protokoll über die Etatberatung des Deutschen Reichstags vom 14. Dezember 1899 (240f.), die gewaltigen, weiter steigenden Staatsausgaben der Flottenrüstung zu finanzieren. In dieser Debatte gerät Reichskanzler Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst unter den Druck der Mittelparteien. Die Rechten glänzen mit harten Worten gegen die Reichsregierung, während Eugen Richter von der 1884 gegründeten Freisinnigen Partei erneut gegen die Militärausgaben polemisiert und den Reichstag darüber informiert, dass die deutsche Jugend die Flottenrüstung wolle, und es wäre ein schwerer Schlag für den Liberalismus, dies nicht zu erkennen. Posadowsky ergreift die Gelegenheit, um eine Lektion über den Wert der Androhung von Gewalt zu halten:

"Jemand, der aber eine starke Waffe in der Hand hat den behandelt man, wenn es zum Streit kommt, immer mit mehr Achtung wie den Waffenlosen." "Ich meine, wenn ein Staat wie Deutschland, der sich bereits so im Welthandel engagiert hat und mit Kolonialbesitz so festgelegt hat, nicht eine ausreichend starke Flotte hat, die den militärischen Anforderungen unter allen Umständen genügen kann, die an die Seewehr gestellt werden, so würde Deutschland etwa in der Lage eines Kavalleristen sein, der zwar sehr gut kann, aber kein Pferd hat".

[Flottenrüstung als Krisenbewältigung   zurück] Die deutsche Wirtschaft badet im Aufschwung. Doch plötzlich, um 1895 sinkt die Roheisenproduktion, was ein untrügliches Zeichen für eine Krise. Da kommt die Flottenvermehrung zur rechten Zeit. Am 6. Dezember 1897 eröffnet der Reichstag die

Erste Berathung des Entwurfs eines Gesetzes,
betreffend die deutsche Flotte.

Kosten in Höhe von 32 Millionen Mark müssen bis 1904 finanziert werden.

 

Deutschland.
Erhaltung der nationalen Kraft.

Karikatur. Aus: Internationale Revue. In: Der Wahre Jacob. Nr. 407, Stuttgart, den 25. Februar 1902. Seite 3700, Ausschnitt

 

Am Tag nach der Eröffnung spricht Eugen Richter von der Freisinnigen Volkspartei, der seit 1871 allen Verhandlungen des Reichstags im Plenum und in den Kommissionen zur Militäretaterhöhung beiwohnte. Er unterstützt den Flottenbau zum Schutz a) der Nord- und Ostsee und b) der handelspolitischen Interessen im Ausland. Ihm genügt nicht bloß die "reine Defensive" (70), hält aber die Rüstungskosten für unverhältnismäßig hoch. Seit dem Tode von Wilhelm I. wuchsen sie von 367 auf 487 Millionen Mark. Heer und Marine erhielten 1816 Millionen Mark. "Infolgedessen hat sich die Reichsschuld seitdem verdreifacht, ist von 721 Millionen auf 2151 Millionen gestiegen."

[Respekt vor den deutschen Handeltreibenden  zurück] Dass die Verstärkung der Marine "der Anfang einer gewissen Aggressivpolitik" (6.12.1897, 59) sei, tut Posadowsky flugs als Irrtum seines Vorredners ab, weil er die Lage der Außenhandeltreibenden nicht beachtet, die schwierig und politisch elendig. Erhält das Auswärtige Amt von ihnen einen Hilferuf, konnte es manchmal keine Schiffe schicken oder doch nicht in der erforderlichen Zahl. Sie erhalten keinen Schutz. Freilich sind Hermann Molkenbuhr (1851-1926) Fälle bekannt, "die ja auch früher erwähnt sind, wo man Forderungen gestellt hat, und die gewünschten Schiffe nicht gekommen sind, aber wo die Reichsregierung ans wohlerwogenen Gründen nicht eingreifen wollte." Das war der Fall "als der Vertreter der Firma Wölber und Brohm, die bei dem Kriege zwischen Frankreich und Dahomey an Dahomey Waffen und Munition lieferte und dafür Sklaven in Zahlung nahm." "Damals hat Deutschland seine Hilfe versagt ...... , und Herr von Marschall sagte: .... wenn man damals den Vertreter der Firma, Herrn Richter, gehängt hätte, hätten wir keinen Finger gerührt." (Molkenbuhr RT 9.12.1897)

 

Wilhelm II. erteilt am 3. Juli 1900 aus Anlass des Stapellaufs von "SMS Wittelsbach" in Wilhelmshafen den Auftrag:

"die schärfsten Mittel rücksichtlos anzuwenden". 

Um dem Nachdruck zu verleihen, inszeniert sich in den Weltmeeren, gut umsorgt von 650 Offizieren, Unteroffizieren und Mannschaften, die "SMS Wittelsbach" (11.775 Tonnen Wasserverdrängung) mit 24-, 15- und 8,8 Zentimeter Schnellfeuerkanonen, zwölf Revolverkanonen und sechs Torpedorohren. So lässt sich, plädierten 1897 Bernhard von Bülow und Graf von Posadowsky, Außenhandel treiben.

 

Der Staatssekretär des Innern wünscht, und das schmiegt sich an die Vorstellungen von Bülow an, Deutschland soll mit den gleichen Machtmitteln auftreten wie England und Amerika. Die Erfahrung sagt uns "Jemand, der aber eine starke Waffe in der Hand hat - den behandelt man, wenn man es zum Streit kommt, immer mit mehr Achtung wie den Waffenlosen." Hier liegt auch die "eigentlich innere Ursache, weshalb im deutschen Volke in so weiten Kreisen sich plötzlich das Verständnis für die weitere Vermehrung unsere Flotte Bahn gebrochen hat. (….) (RT 14.12.1899, 240)

England versucht uns vom Welthandel abzuschließen. Dann bleibt uns nur ein kleiner Teil des zivilisierten Weltclubs. Wenigstens auf den verbleibenden Teil des Erdballs wollen wir mit den gleichen Machmitteln Englands auftreten. Da gestehe ich dem Herrn Abgeordneten Eugen Richter ohne weiteres zu:

"mit Kanonen erwirbt man keine Konventionaltarife
und schließt keine Handelsverträge ab."

[Rettung bringt die maritime Defensionsakte   zurück] Um dem Volk die letzten Bedenken für die militärisch gestützte Außenwirtschaftspolitik zu nehmen, verweist Posadowsky am 6. Dezember 1897 (59) im Reichstag auf die "maritime Defensionsakte" hin. In diesem Modus bekommt die englische Regierung zum Bau von Schiffen einfach eine Summe zur Verfügung gestellt, über die sie frei disponieren kann. Und wenn das, wie er ausführt, im "klassischen Land des Parlamentarismus" üblich, muss man sich in Deutschland nicht weiter um die demokratische Entwicklung ängstigen.

 

Chor der Alten: "Scheint die Sonne noch so schön, einmal muß sie untergehen." (Originaltitel)

 

 

Erläuterung

In Bildmitte von links nach rechts: Posadowsky (Inneres), Podbielsky (Reichspostamt, preußischer Landwirtschaftsminister), Tirpitz (Flotte). Davor Miquel (Finanzen) und rechts von ihm Gossler (1894 Chef des Generalstabes des VI. Armee-Korps).

Links unten im Bild die Prinzessin Victoria von Großbritanien und Irland (1840-1901), Mutter von Wilhelm II.. Ihr Gemahl Friedrich III. (*18.10.1831), König von Preußen und Deutscher Kaiser, starb am 15. Juni 1888, dem neunundneunzigsten Tag nach der Thronbesteigung.

Der Wahre Jacob. Nummer 351, Stuttgart, den 2. Januar 1900, Titelblatt, Ausschnitt

 

[Mehrheitsmeinung und Untertanenverstand  zurück] Zur Unterstützung und ideologischen Legitimierung der Flottenrüstung eröffnet Graf von Posadowsky am 14. Dezember 1899 (3388) mit folgender Frage eine weitere Argumentationslinie: Wird "die Nation stark und opferwillig genug sein", die finanzielle Aufgabe der Flottenrüstung "zu lösen". Niemand kann dafür, dass sie es schafft, einen mathematischen Beweis erbringen. Was also tun? "Wenn aber die Mehrheit des Hohen Hauses der Ansicht ist," fließen seine Gedanken weiter, "wir brauchen eine stärkere Flotte zur politischen und handelspolitischen Entwicklung Deutschlands - dann müssen wir auch den Mut haben, diesen Schritt zu unternehmen und, wenn es notwendig ist, auch die Mittel dafür aufzubringen."

"Ich möchte mich aber da auch mit einem Wort des Herrn Grafen v. Posadowsky beschäftigen," interveniert am 19. Februar 1912 (132) im Reichstag Doktor Hermann Paasche (1851-1925) von der Nationalliberalen Partei, "dem ich nicht zustimmen kann, wenn er gesagt hat: entweder haben wir Vertrauen zu unserm Kriegsminister, zur Marine und Heeresverwaltung, dann müssen wir alles bewilligen; oder wir haben kein Vertrauen, dann dürfen wir ihnen nicht die Geschäfte unserer großen Heeresverwaltung usw. anvertrauen. Ja, meine Herren, ich glaube, dazu gehört nicht viel Aktenstudium, diesen Grundsatz vom beschränkten Untertanenverstand aufzustellen. (Sehr wahr!) Das ist ungefähr das, was in anderer Tonart laut ward:

"Maul halten, Schiffe bauen,
Armeekorps aufstellen, Steuern zahlen.""

Die Masse ist bei der Entscheidungsfindung für Selbsttäuschung, Moden, Oberflächlichkeit, Suggestibilität, Gehorsamkeit und Okkultismus anfällig, woraus bekanntlch für die rationale Entscheidungsfindung erhebliche Gefahren resultieren. Trotzdem erteilt Posadowsky der Urteilsfindung durch Mehrheitsmeinung die Approbation. Solange das Axiom des Relativismus gilt, also jede politische Auffassung, "die sich die Mehrheit verschaffen konnte, die Führung im Staate zu überlassen", anerkannt wird, betrachtet die Demokratietheorie dies als legitim. Doch darf sie, fordert Gustav Radbruch (1878-1949) in der 1914 erschienenen "Rechtsphilosophie" weiter, nicht mit bestimmten Auffassungen identifiziert werden, weil es ein eindeutiges Kriterium für die Richtigkeit politischer Anschauungen ebenso wenig wie die Möglichkeit eines Standpunktes über den Parteien gibt. Es ist völlig klar, dass hieraus weitreichende praktische Konsequenzen für Gesellschaft und Politik resultieren ....

[Manipulation mit der neutralen Bedeutung   zurück] Den bereits im Reichstag florierenden Begriff der "Flottenschwärmerei" lehnt Posadowsky ab und beliebt am 9. Februar 1900 aus Anlass der Novelle des Flottengesetzes von 1898 (294) festzustellen:

"… und wenn sich jetzt für die Vergrößerung der Flotte ein solch lebhaftes Interesse in den verschiedenen Berufsständen des Landes, in den verschiedensten politische Parteien zeigt, so ist das nur ein Zeichen von der hohen neutralen Bedeutung der Sache für unser Vaterland."

Ganz so kann es nicht gewesen sein. Denn von dem lebhaften Interesse der Massen blieb nicht viel übrig, als SPD-Reichstagsabgeordneter Richard Fischer am 12 Januar 1901 vor dem Reichstag in der Bueck-Woedtke-Posadowsky Affäre auspackte und nachwies, dass der CdI (Centralverband deutscher Industrieller) zur Flottenrüstung Jubelfeiern organisierte und sponserte. Es war offensichtlich so, dass nicht bei allen Bürgern die waffenstarrende Welt Freudentaumel auslöste, weshalb die Politiker nur schwerlich bei der Wahrheit bleiben konnten, wenn es sich darum handelt, dem Militarismus einer mehr oder weniger feindlichen Wählerschaft für die Bewilligung neuer Militärforderungen geneigt zu machen. Schwindel bleibt deshalb Trumpf und durchzieht die ganze Agitation zu Vaterland, Verteidigung und Militär. (Vorwärts 29. März 1893)

[Rüstung als Kulturausgabe   zurück] Nun gilt es, Richter`s Argument von den unverhältnismäßig hohen Militärkosten niederzuringen (Posa RT 6.12.1897, 59). Und das geht so: "Wenn man von den ungeheueren Kosten der Marine spricht, so muss man meines Erachtens theilen zwischen den Kosten, die wirklich Kosten der Landesvertheidigung sind, und den Kosten, die ausgegeben werden für Schiffe, die unserem Handel Ausland schützen sollen. Dieser Theil der Marineausgaben, der bestimmt ist, unseren Handel im Ausland zu schützen, fällt nicht dem Konto der Landesvertheidigung anheim, sondern ist eine Ausgabe, die lediglich gemacht wird zum Schutz unserer Industrie und unseres Handels,

also eine Art  K u l t u r a u s g a b e."

[Eine Alternative  zurück] Bebel stellt es so dar, moniert Posadowsky am 13. Dezember 1897 im Reichstag, als wenn Deutschland von England, Rußland und dem Panamerikanismus vollkommen eingesackt würde. Deshalb müssen wir schon jetzt neue Handelsgebiete aufsuchen und dem Handel erhöhten Schutz gewähren. Warum hat er dann aber, fragt er, nicht beim Ausbau der Flotte mitgearbeitet? - Die Antwort darauf findet sich in seiner Reichstagsrede vom 11. Dezember 1897 (162). Vor die Entscheidung gestellt, in die Rüstung oder Entwicklung der Gesellschaft zu investieren, fällt seine Antwort deutlich anders aus als bei Posadowsky:


August Bebel.
22. Februar 1840 bis 13. August 1913

"In Oberschlesien brauchten wir allein, damit kein Lehrer mehr als 60 Schüler zu unterrichten hätte, mindestens 1 1/2 Tausend Lehrer. Dafür hat aber der Staat kein Geld! Dafür reicht es nicht! Viele Schulhäuser sind in so erbärmlichem Zustande, daß sie gegen die Pferde- und Kuhställe der ostelbischen Junker wahre Paläste genannt werden müssen. (Lachen rechts. Sehr richtig! links.) So sieht es in Wahrheit aus! Es müssten von Rechts wegen Tausende und Abertausende von Schulhäusern gebaut werden, an denen Arbeiter zehntausendweise Beschäftigung fänden!

Aber Sie haben ja nicht die Mittel! Wie traurig sieht es mit dem Fortbildungsschulwesen, mit dem landwirthschaftlichen sowohl wie mit dem gewerblichen aus! Nirgends Mittel! Meine Herren, ich führte an, daß in Oberschlesien allein es an 1200 Schulen giebt, in welchen mehr als 80 Schüler auf einen Lehrer kommen! Wenn Sie dem Kriegsminister die Zumuthung machen wollten, daß er die Lehrer seiner Armee, die Offiziere und Unteroffiziere, in demselben Maße reduziren sollte, wie Sie das für die armen Kinder des Volks jetzt thatsächlich thun, dann würde er erklären: meine Herren, ich kann keine Stunde mehr Kriegsminister."

Das ist durchaus richtig, untermauert der Abgeordnete Eugen Richter zwei Tage später in seinem Debattenbeitrag, was August Bebel über die schlechten Schulverhältnisse ausführte. "Es ist auch keine sozialdemokratische Entdeckung, daß jetzt die Kulturaufgaben unter den Militärausgaben leiden". Weniger verständnisvoll nimmt er auf, dass Posadowsky die herabsetzende Kritik von Bebel an den Handelsverträgen nicht moniert.

[Der Champion  zurück] Am 14. Dezember 1899 möge der Reichstag beschließen, dass die Zahl Schlachtschiffe verdoppelt werden soll, statt 19 Linienschiffe 40! Herr Schatzsekretär Posadowsky beziffert die jährlichen Mehrausgaben für das Flottengesetz 1898 auf 25 Millionen Mark. Eugen Richter (14.12.1899, 688 f.) rechnet nach und präsentiert schließlich die Summe von 125 Millionen Mark jährlich anfallender Zusatzkosten. Seine Kritik reicht weit über die finanziellen Folgen der hohen Rüstungsausgaben für die Bürger und Gesellschaft hinaus. Er beobachtet (1899, 705), dass sich die Kultur und gesellschaftliche Denkweise ändert, erkennt die Gefahr der Entstehung einer gesellschaftlichen Hypermoral, die nach der Maxime verfährt:

".... Deutschland soll sich zum Champion machen, der soll alles Unrecht in der Welt bekämpfen, soll überall mit der gepanzerten Faust hineinfahren, wo in der Welt etwas los ist und wo man glaubt, dass jemand in das Unrecht von anderen Staaten gesetzt ist."

Der neue Champion lässt nicht von Naturrecht, sondern vom positiven Recht leiten, wie am 6. Dezember 1897 Staatssekretär des Auswärtigen Freiherr von Bülow zur Haiti-Frage klarstellt: "Ich gebe mich der Hoffnung hin, daß ..... Regierung nicht länger zögern wird, unseren Anforderungen Folge zu geben, die ebenso wohlberechtigt und wohlbegründet wie maßvoll sind. Ich gebe mich dieser Erwartung um so lieber und um so bestimmter hin, als wir nicht nur das gute Recht auf unserer Seite haben, sondern auch den Willen und die Macht, unserem Rechte Geltung zu verschaffen. (Lebhaftes Bravo.)"

[Wir verlangen unseren Platz an der Sonne  zurück] Die Aneignung von Jiaozhou, deutsch Kiaotschau-Schi, 552 Quadratkilometer, 83.000 Einwohner, im Süden der Chandong-Halbinsel, 1897 durch Deutschland markieren den Übergang zu einer ehrgeizigen, politisch und militärisch-aggressiven Weltpolitik. Deutschland importierte aus China von 1886 bis 1890 jährlich 551 Millionen Mark, 1893 608 Millionen Mark.

Die "Erschließung" des Agrikulturstaates China mit 360 Millionen Einwohnern "ist nothwendig geworden für die kapitalistische Produktionsweise". Die "Kapitalistenklasse", rät Karl Kautsky 1898 im Aufsatz "Kiaotschau", "muss danach trachten, diesen größten ihr noch verschlossenen Markt zu eröffnen, und sie wird es durchsetzen."

"Bülow rechtfertigte die Okkupation auf dem chinesischen Festland mit dem Argument, dass die deutsche Industrie, die den amerikanischen Markt über kurz oder lang doch verlieren werde, ein größerer Absatz in Ostasien ermöglicht werden müsse." (Mommsen 2005, 96) Die vorläufigen Kosten der ersten Aktion der deutschen Weltpolitik belaufen sich nach Eugen Richter (1898, 691) auf 10 Millionen Mark. Die Hinterbliebenen der Chinakämpfer erhalten laut einem im Januar 1901 dem Bundsrat voliegenden Gesetzesentwurf 33 1/3 Prozent höhere Zuschüsse, als sie nach dem Militärpensionsgesetz von 1871 beanspruchen dürften. (JV 11.1.1901)

Diese Außenpolitik korrespondiert mir der politischen Ideologie vom Platz an der Sonne. "Wir betrachten es als eine unserer vornehmsten Aufgaben," erklärt hierzu am 6. Dezember 1897 der Staatssekretär des Äußeren, "gerade in Ostasien die Interessen unserer Schifffahrt, unseres Handels und unserer Industrie zu fördern und zu pflegen."

"Wir müssen verlangen, daß der deutsche Missionar und der deutsche Unternehmer, die deutschen Waren, die deutsche Flagge und das deutsche Schiff in China geradeso geachtet werden, wie diejenigen anderer Mächte. (Lebhaftes Bravo.) Wir sind endlich gern bereit, in Ostasien den Interessen anderer Großmächte Rechnung zu tragen, in der sicheren Voraussicht, daß unsere eigenen Interessen gleichfalls die ihnen gebührende Würdigung finden. (Bravo!) .... Mit einem Worte:

wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren

Platz an der Sonne. (Bravo!)"

"Die Zeiten, wo wir Deutschen dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, dem anderen das Meer und sich selbst den Himmel reservierte, wo die reine Doktrin thront, (....) - diese Zeiten sind vorbei" (60), verkündet Bernhard Graf von Bülow (*3. Mai 1849) am 6. Dezember 1897 im Reichstag aus Anlass der Ersten Berathung des Entwurfs des Gesetzes, betreffend der deutschen Flotte, den neuen Leitsatz deutscher Außenpolitik.

Die internationale Konkurrenz der Großunternehmen, der Banken- und des Handelskapitals um Abatzmärkte verschärft sich und schteibt sich in die Handels- und Außenpolitik ihrer Staaten, verbunden mit "unaufhaltsame(n) Vordringen in alle Welttheile" (Bernhard von Bülow 1900) ein. Graf von Posadowsky prophezeit am 2. März 1899 (111) auf der Fünfundzwanzigsten Plenarversammlung des Deutschen Handelstages in Berlin: "Da wird selbstverständlich der große Kampf der Interessen aufbrennen." Es tobt, wie Rosa Luxemburg 1913, schon mehr rückblickend in "Die Akkumulation des Kapitals" (391) formuliert, der Kampf "um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus".

[Der Kuli pocht an die Thore Europas Kautsky 1898   zurück] Zwei Jahre vor der Okkupation von Jiaozhou tauchten Pläne von Wilhelm II. zum Bau einer großen Schlachtenflotte auf. Seit dem chinesisch-japanischen Krieg von 1894/95 wachsen die deutschen Begehrlichkeiten gegenüber dem geschwächten China. Den Vorwand zur Intervention bot am 1. November 1897 der Mord an zwei katholischen Priestern in der Provinz Shandong. August Bebel kritisiert am 19. November 1900 im Reichstag (20) scharf die verbreitete Neigung zur Manipulation der Schuldfrage:

".... nach allen Richtungen hin" ist "an diesem Volke seit Jahrzehnten gesündigt worden. Bei jedem anderen Volke der Welt, außer bei diesen außerordentlich geduldigen, füg- und schweigsamen chinesischen Volk würden solche Mißhandlungen schon längst den Ausbruch des Zorns und der Rache hervorgerufen haben, deren Zeugen wir in den letzten Monaten gewesen sind. (Sehr wahr! sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)"

August Bebel erregt besonders die Schönrednerei von Kanzler Bülow, womit er nicht einverstanden sein kann. Ihm ist völlig unklar, wie der die Rolle des deutschen Missionswesens, warum er so tut, also ob gegen sie bis heute kein Vorwurf erhoben werden kann. (Vgl. RT 19.11.1900, 20/21). Wenn, egal ob evangelische oder katholische Mission, die für ihre religiöse Überzeugung Propaganda machen wollen, lautet sein Standpunkt, dann ist das Privatsache. Der Staat sollte sie nicht in Schutz nehmen. Bei der Ablehnung der Missionsarbeit stützt er sich auf die verhängnisvolle Rolle (Bebel) von Bischof Johann Baptist von Anzer (1851-1903), dem die katholische Mission im Süden der Provinz Shandong am Unterlauf des Gelben Flusses, einem Landstrich mit einer langen Tradition des Taoismus und Konfuzianismus, unterstellt ist. (Details)

Kanonenbootpolitik und Missionarstum drohen anderen Nationen und Völkern, den Weg zu selbstbestimmten institutionellen und wirtschaftlichen Reformen abzuschneiden.

 

 

Friedensverhandlungen mit China (Originalbildunterschrift)

 

 

Jetzt ist er an den Zopf gepackt.
Es wird ihm gleich was abgezwackt.
(Originaltext
)

Der Wahre Jacob. Nummer 379. Stuttgart, den 29. Januar 1901, Titelseite, Ausschnitt

Kommentar. "Es kann keinen Zweifel darüber bestehen," analysiert am 11. Dezember 1900 August Bebel (SPD) im Reichstag die deutsche Ostasienpolitik, "daß das erste große weltpolitische Abenteuer, mit dem die berühmte Weltpolitik in die Praxis eingetreten ist, die Chinaffäre, schon heute mit einem debacle nicht bloß für Deutschland, sondern für die sämtlichen in China betheiligten Mächte geendigt hat." China könnte "für Deutschland ein deutsches Transvaal" werden.

Die übergeordneten deutschen Staatsmotive waren nicht Rache an den Gräueltaten oder an der Ermordung des Freiherrn Clemens von Ketteler am 20. Juni 1900 in Peking. Deutschland will, danach steht Kaiser Wilhelm II. der Sinn, Respekt, und zwar den einer Weltmacht.

Wenn der Cartoon andeuten will, dass die Großmächte zusammenarbeiteten, verleitet er den Betrachter zu einem gedanklichen Irrtum. Denn die "Abendländer" erwiesen sich als unfähig, ihre Interessen auszutarieren und zu koordinieren. Keiner traute dem anderen genug. Um den 12. Dezember 1900 kursiert in der deutschen Presse die Nachricht, dass die USA in Peking den chinesischen Friedensvermittlern, den Wortlaut eines gemeinsamen Abkommens übergeben haben. Er soll zurückkommen, da es mit dem "Weltoberbefehl" "ziemlich windig" aussieht. Gemeint war damit der Oberbefehlshaber über die europäischen Interventionstruppen zur Niederschlagung des Boxeraufstandes im Kaiserreich China Alfred Graf von Waldersee (1832-1904).

 

 

Es scheint so, als wenn in diesem Moment Posadowsky mit einem klaren Urteil zögert. Jahre später, am 24. August 1924, fordert er am Gedenkstein für die im Kriege Gefallenen Domschüler Selbsterkenntnis und außenpolitische Selbstbeschränkung. Heute kann er das nicht. Über das Warum und Wieso, wäre lange zu diskutieren. Jetzt hilft erstmal Eugen Richter (RT 14.9.1899, 3370) mit klaren Worten aus:

"Deutschlands Beruf ist es nicht, auf andere Völker loszuhämmern. Wir wollen es jedem Volksstamm überlassen, in der Facon sich zu entwickeln, nach seinem Gefallen und seinen Verhältnissen entsprechend, und haben nicht den Beruf, auf ein Volk loszuhämmern und ihm die Gestalt zu geben, die uns als die richtige erscheint."

[Weltpolitik  zurück] ".... die jüngsten Ereignisse in China sind weder Zurückzuführen auf Kiautschou noch auf Hongkong, weder auf Tonkin noch auf Port Arthur, weder auf diese noch jene fremde Macht," erklärt am 19. November 1900 (12) Bernhard von Bülow im Deutschen Reichstag, "sondern die Krisis, die wir jetzt in China durchmachen, ist eine Etappe, welche

die europäische Kultur überwinden muß in ihrem unaufhaltsamen Vordringen in alle Welttheile und zu allen Völkern."

 

Ereignisse in China. Die Ermordung von Freiherrn Clemens von Ketteler (1853-1900) am 20. Juni 1900.

Le Petit Journal. Supplément Illustré. 22. Juli 1900

 

Das wird schwer, letztlich unmöglich, weil der On-The-World Optimismus in anderen Regionen und Weltteilen auf Widerstand stößt. Zudem fallen in der westlichen Politik oft Ideal und Praxis weit auseinander.

Idee und Anspruch der Weltpolitik gehen schwanger mit der Überschätzung der politischen Macht und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der deutschen Nation. Wir ".... glaubten, eine Weltmacht nicht nur zu sein zu können, sondern auch wirklich zu sein." Diesen Irrtum büßte das deutsche Volk mit dem Ausgang des Krieges "auf das Furchtbarste", rechnet der Russlandexperte und Berliner Hochschulprofessor Otto Hoetzsch (1876-1946), politisch Deutschkonservativ (DKP) und Deutschnational (DNVP) orientiert, in seiner streng vertraulichen Denkschrift vom Oktober 1918 vor.

"Weltpolitik, das ist für die Politik," zitiert Eugen Richter den Abgeordneten Aloys Fritzen (Zentrum) aus dem Vorjahr, "was der Größenwahn für den einzelnen Menschen ist." Im Gegensatz dazu erhebt Max Weber (1864-1920) in der oft zitierten Antrittsvorlesung von 1895 an der Universität Freiburg, die Weltpolitik als notwendigen Abschluß und Ausgangspunkt der "Einigung.

Am 10. Dezember 1903 steht im Reichstag in Berlin die erste Beratung des Haushalts an. Am Bundesratstisch nehmen Platz: Graf Reichskanzler von Bülow, Freiherr von Stengel, Graf von Posadowsky, von Tirpitz, von Einem. - August Bebel wird sprechen. Er bereitet sich gründlich vor. In der deutschen Ostasienpolitik darf es keine Missverständnisse geben. Viel, zu viel steht auf dem Spiel. Er hat nicht vor für "eine aktive Weltpolitik" einzutreten, andernfalls, fürchtet der SPD-Führer, Deutschland stürzt in Weltverwicklungen hinein, "welche die allerschwersten Opfer von uns erheischen".

Doch es sind weitere strategische Überlegungen zur Zukunft des Landes, die er an diesem Dezembertag - zumindest einem renommierten Teil - der politischen Elite warnend anträgt. Am Tag darauf erscheint sein Redeteil in einigen sozialdemokratischen Tageszeitungen und damit zur "Ansprache an das Volk" gekürt. Ein wenig sortiert, sind seine Schlussfolgerungen Folgende (alles Bebel 10.12.1903):

  • Der Zustand der Reichsfinanzen ist bedenklich. Die Bewilligung der großen Flottenvorlagen von 1898 bis 1900 hat dafür gesorgt, das bis in "unabsehbare Zukunft die Steigerung" der Reichsausgaben gewaltig zunehmen werden. Charakteristisch für diese Finanzpolitik ist, dass die berüchtigte Zukunftsanleihe aufgebracht werden soll. "Daß dabei ein Weg betreten wird, der mit Artikel 70 der Verfassung direkt im Widerspruch steht …" Zieht man weiter die kolossalen Schulden in Betracht, "dann sollte man sich wirklich sagen, das kann unmöglich so weitergehen."

  • Die Finanzpolitik ist auf den falschen Weg. Sie macht die Einzelstaaten unabhängig von der Finanzwirtschaft des Reiches, schwächt ihren Widerstand und fördert ihre Zustimmung zu unnützen Ausgaben, sichert sie gegen unangenehme direkten Steuern ab und macht neue indirekte Steuern im Reiche notwendig.

  • Das "denkbar traurigste Ergebnis unserer Politik" (August Bebel): "Wir hatten 1897 eine Einfuhr nah Deutschland von China in Höhe von 57,4 Milliarden Mark. 1902 beträgt die 55,8 Milliarden Mark. Und wie hoch waren doch die Aufwendungen? Für Kiautschau etwa 70 Millionen Mark.

  • Die Militärs gehen bei der Rüstungsgüterbeschaffung leichtfertig vor. Das bedingt, "das unser gesamtes Kriegsmaterial im Kriegsfall unterwertig ist". Zu der damals im Rahmen der Artillerievorlage 1896 eingeführten neuen Feldhaubitze, erklärt heute Generalleutnant Georg von Alten (1846-1912), dass "auf 100 Schuss" "höchstens zwei Treffer" kämen und dafür 30 Zentner Blei verschossen werden müssen.


Westliche Kultur in China.


 

Westliche Kultur in China.Internationale Revue. In: Der Wahre Jacob. Nr. 407, Stuttgart, den 25. Februar 1902. Seite 3700, Ausschnitt

 

[Schuld sind die Europäer und Amerikaner zurück] Baron von Korff (eigentlich Emanuel von Schmysingk,1826-1903) berichtet 1893 in einem Buch darüber, dass die chinesische Bevölkerung unausgesetzt wird. Wenn der Chinese in die Nähe eines Europäers oder Amerikaners kam, wurde er gepeitscht oder mit Stöcken geschlagen. Er sah wie man den Leuten ihre aus Bambus gefertigten Karren und Wagen bei Seite schleuderte und mit den Füßen zertrat, wie man auf den Schiffen die Leute mißhandelte, so daß dadurch "nothwendig eine hochgradige Erbitterung, Haß und Rachelust angesammelt werden müsse und sich eines Tages schwer an den Europäern und Fremden rächen werde." "Das Vorausgesagte ist jetzt eingetroffen." Die Schlußfolgerungen von August Bebel lautet am 19. November 1900:

"Ich klage hiermit Europa und die Vereinigten Staaten an, daß sie die wirklichen Urheber der Wirren sind, die wir in China haben. (.....)" (Protokoll Reichstag, Seite 22/23)

 

 

Kohlehandel-Syndikate zurück
Kapitalassoziationen als Triebkräfte

Ausgelöst durch die Tätigkeit der Kohlehandel-Syndikate und den forcierten Bau städtischer Warenhäuser, ergreift die Öffentlichkeit um 1900 in Deutschland eine Debatte zu den Vor- und Nachteilen moderner Kapitalassoziationen. Mehr als einmal beklagte sich der kleine Mittelstand über ihre rüde Art, die viele Existenzen zerstörte. Angeblich versuchte man dieses Problem seitens der Regierung, durch eine entsprechende Steuergesetzgebung zu entschärfen. Zugegebenermaßen stellte sich das als wirkungslos heraus. Auf keinen Fall so äußerte sich der Staatssekretär des Innern, wollte er die modernen Triebkräfte der Wirtschaft hemmen oder zu alten Formen der Wirtschaft zurückkehren, räumt aber ohne Weiteres am 13. Dezember 1905 im Reichstag ein:

"..... diese Assoziation des Kapitals hat sehr düstere Seiten und ist für den Mittelstand eine große Gefahr!" "Ich bin der Letzte, der ein Loblied auf sie singen will …."

Und was wird aus dem Mittelstand? Ad libitum merkt der Staatssekretär an, dass einiges geschehen muss, um das technische und kaufmännische Niveau der Ausbildung zu heben, also ihn möglich zu machen. Gleichwohl wirkt das unsicher, es klingt nach vertrösten. Von Anti-Trust-Gesetzen hört und ließt man nichts.


"Wie das Kohlesyndikat im Ruhrgebiet um das Gemeinwohl bemüht ist." (Originalbildunterschrift)


 

Der Wahre Jacob. Nummer 466. Stuttgart, den 31. Mai 1904, Titelseite, Ausschnitt

 

Eine Erklärung und Vertiefung des Problems bieten 1900 die Debatten im Reichstag zur Tätigkeit der Kohlehandel-Syndikate. Es war ein wirtschafts- und sozialpolitisch hochaktuelles Thema. Allein schon deshalb, weil sich in Deutschland der Kohleverbrauch pro Kopf der Bevölkerung von 1,08 Tonnen im Zeitraum 1872 bis 1875 auf 3,047 Tonnen im Jahr 1908 erhöht hatte. 1914 sind im Ruhrbezirk bis auf einen Rest 2 bis 3 Prozent der gesamten Kohlenproduktion im Rheinisch-Westfälischen Kohlen-Syndikat (RWKS) vereinigt (Grunzel 1914, 15). Die Essener Organisation entstand auf Anregung von Emil Kirdorf (1847-1938), gegründet zusammen mit der Discont-Gesellschaft am 1. Juli 1888 als Kohlesyndikat mit einer gemeinsamen Verkaufsstelle. 1905 stellt Kirdorf auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik in Mannheim klar, indem er dazu auffordert mit den Arbeiterorganisationen nicht zu verhandeln, in welchen System industrieller Beziehungen von Arbeiter und Unternehmer sich dies ökonomischen Wandlungen realisieren soll. Also keine Beziehungen zur Sozialdemokratie, auch nicht mit den außerhalb von ihr stehenden Organisationen, die noch schlimmer sind, weil sie ihre Pläne unter dem Mäntelchen christlicher Liebe und Eintracht versteckt halten. (Vgl. Der Gewerkverein Nr. 7)

Die "ungesunde Konkurrenz", die Karl Marx im Kapital Band I (790) einst mit dem Bonmot beschrieb, je ein Kapitalist schlägt viele tot, soll im Kohlenmarkt mit der Kartellbildung und syndizierten Zechen überwunden werden. Das RWKS praktiziert, wie Otto Bartz 1913 zeigt, eine neue Form der Produktion und Organisation des Absatzes. Hierzu weist ihnen das Syndikat bestimmte Beteiligungen am Gesamtabsatz zu, die jedes [Syndikats-] Mitglied erforderlichen Falls herabsetzen kann, durch: [1.] Abstimmung der Kapazitäten, [2.] Festlegung der Preise und [3.] Gestaltung der Geschäftsformen und Mengen des Vertriebs.

Pars pro toto wandelt sich die deutsche Wirtschaft von der freien Konkurrenz zum Typus der Monopole und Kartelle mit einem hohen Konzentrationsgrad des Kapitals. Vom Centralverband deutscher Industrielle (CdI) dringt in Vorbereitung einer für den 9. April 1902 geplanten Konferenz herüber, dass binnen weniger Jahre in Deutschland 300 Syndikate, Kartelle und Konventionen entstanden sind. Achtzig von ihnen fallen auf den Handel und zweihundertzwanzig auf die Produktion.

"Das ist umso schlimmer," beschreibt am 11. Dezember 1897 August Bebel die sozialen Implikationen und Auswirkungen, "als heute, in einer Periode des größten wirtschaftlichen Aufschwunges, wo insbesondere in der Kohlenindustrie ein ausgezeichneter Geschäftsgang seit Jahren blüht, und Dividenden und Profite eingesackt werden, wie sie seit Jahrzehnten nicht vorgekommen sind, unsere Kohlenbarone also Millionen über Millionen einheimsen, und die Arbeitskräfte aus aller Herren Ländern bezogen werden, weil sie in Deutschland angeblich nicht zu haben sind, die Löhne nicht gestiegen sind, weil die Arbeiter nicht wagen dürfen, sich zu organisieren."

Über diese Tendenzen und Erscheinungen ist Staatssekretär Graf Posadowsky gut informiert. Ihm liegen genügend Klagen aus weiten Bevölkerungskreisen zur "schwer bedrückende(n) Kohleteuerung" vor. In den Regierungen, Preußen wird genannt, überlegt man wie man sie besser kontrolliert und gestaltet.

 

 

So konnten die Petroleum-Monopolisten in Deutschland
schalten und walten wie in einem eroberten Land.
zurück

Die Standard Oil Company beabsichtigt in Deutschland weiter zu expandieren. Besonders die Folgen des Konkurrenzkampfes und Fragen der Preisbildung beschäftigen die Öffentlichkeit. Um die Reaktionen von Graf von Posadowsky zu verstehen, ist es zweckmäßig, einen kurzen Überblick über die Lageentwicklung zu geben.

"Im Jahre 1895 waren die Versuche, den Petroleumhandel vollständig zu monopolisieren, fast bis zum Abschluss gediehen. Die Welt war zwischen den amerikanischen und russischen Petroleumproduzenten bis auf die letzte Insel im Weltmeere aufgeteilt worden." Die amerikanische Standard Oil Company bediente die atlantischen Länder einschließlich Deutschland, während die russischen Petroleumkönige außer in Russland, Ostafrika und Asien über ein fast unumschränktes Absatzfeld herrschten. "Der Vertrag wurde so prompt ratifiziert, dass in Ostasien der amerikanische Import von 74 pCt in 1894 auf 55 pCt in 1995 sank, der russische dagegen von 26 auf 55 pCt anstieg. Als strittiges Terrain waren nur noch die Mittelmeer-Länder verblieben. Aber auch hier war bald eine Einigung erzielt. Italien verblieb bei Standard Oil Company, Österreich, soweit es nicht dem vorzüglichen galizischen Petroleum versorgt wurde, wurde zum alleinigen Absatzfelde der Russen."

 

Vom Petroleumring

Konzessionierte internationale Taschendiebe

 

Der Wahre Jacob. Nummer 152, Stuttgart den 1. Juni 1895, Titelblatt, Ausschnitt

 

 

Eine Ausnahme bildete die Firma Philipp Roth, die in Mannheim eigene Tankanlage herstellte und versuchte den süddeutschen Raum zu erobern. Ein aussichtsloser Kampf, in dem der Unternehmer schließlich unterlag und seine Firma in der Mannheim-Bremer Petroleumgesellschaft als eine Filiale der Deutsch-Amerikanischen aufging.

"Lange Zeit schien es, als ob die Nobel-Gesellschaft nicht gemeinsames Spiel mit den Rockefeller, Rothschild und der russischen Regierung machen wolle. Um sie zu beschwichtigen, überließ man ihr das Reservatrecht der Alleineinfuhr nach Deutschland, was in Anbetracht der technischen Bedeutung russischen Schmieröles ein recht lukratives Geschäft ist. Aber auch ihr Trotz scheint definitiv gebrochen zu sein; denn die Einfuhr russischen Leuchtöls sank in den ersten 9 Monaten dieses Jahres auf 187 000 Doppelzentner gegenüber 275 000 Doppelzentner im gleichen Zeitraume des Vorjahres."

 

Erdölförderung 1897
Vereinigten Staaten von Amerika 65 000 000 Barrel
Rußland 40 000 000 Barrel
Galizien   2 300 000 Barrel
Rumänien      500 000 Barrel

Quelle: Wirthschaftliche Rundschau 1898

 

Ein guter Teil der Geschichte des Petroleum-Monopols spielte sich in Deutschland auf dem strittigen Terrain der einst feindlichen, jetzt friedlich vereinten Brüder statt. Das Land verbraucht etwa ein Drittel des gesamten amerikanischen Leuchtöl-Exports für sich allein, einschließlich des Schmieröls, leichterer Petroleumdestillate, von Massuth (Naphta-Rückstände), zirka 1/8 der Produktion der ganzen Welt. Eine nationale Erdölförderung kam trotzdem nicht in Betracht, weshalb Deutschland auf Importe angewiesen ist. Eigentlich hätte die deutsche Regierung jeden Monopolisierungsversuch der Rockefeller und Rothschilds von vornherein einen Riegel vorschieben müssen. Denn die Einigung der großen Erdölmagnaten geschah nicht von heute auf morgen, sondern im Resultat eines mörderischen Konkurrenzkampfes. Doch die deutsche Regierung blieb untätig, was eine "stumme Begünstigung" bedeutete. "So konnten die Petroleum-Monopolisten in Deutschland schalten und walten wie in einem eroberten Land." Die deutsche Reichsregierung ist deshalb nicht unschuldig an dem Zustandekommen des Petroleum-Weltmonopols. (Nach Neues vom Petroleum-Monopol, 1897)

 

 

Die Amerikaner
werden ihr Monopol weiter ausdehnen   zurück

Im Reichsschatzamt oft mit Strukturen und Folgen monopolistischer Konkurrenz konfrontiert, setzt sich Graf von Posadowsky in der

Reichstagssitzung am 9. Dezember 1897

(RT 113ff., 115) speziell mit der Expansion der Standard Oil Company in Deutschland auseinander. Er erinnert sich an die großen Schwierigkeiten mit der Preisbildung im Jahr 1895. Jetzt ist anzuerkennen, dass mit der Gründung der Filiale der Standard Oil Company, der deutsch-amerikanischen Petroleumgesellschaft in Bremen, die Preise für den Konsumenten fortgesetzt gesunken sind. Das ist erfreulich und ein Erfolg des technischen Fortschritts bei der Gewinnung, Organisation des Handels und Verteilung ihres Produkts. Er schildert kurz die Ereignisse um die deutsche Mannheimer Gesellschaft und verließt dazu eine Erklärung, die ein Vertreter der deutsch-amerikanischen Gesellschaft verfasst. Es ist nach seiner Ansicht unbedingt davon abzuraten, dass die Mannheimer noch weitere Vertragsabschlüsse anstrebt. Damit erscheint ihm aber das volkswirtschaftliche Problem nicht gelöst. Bei der großen Preissteigerung 1895 kam bei Posadowsky die Frage auf, ob es denn nicht richtig und notwendig wäre, die deutschen Firmen in Mannheim und Bremen zu unterstützen. Zur Vorbereitung des Eisenbahntransports und zur Anschaffung großer Tankschiffe für die Ozeane und Flüße wäre dazu viel Kapital notwendig. Das Risiko wäre für den Staat zu groß gewesen, weil unklar, was die Standard Oil Company unternehmen wird, womit der Erfolg keineswegs sicher war. Die Presse-Kritik am zögerlichen und ausbleibenden Handeln der Reichsregierung, betont Posadowsky, ist "vollkommen unberechtigt". Freilich ist demnächst zu erwarten, daß die Amerikaner ihr Monopol in Deutschland weiter ausdehnen und möglicherweise unbillige Preissteigerungen herbeiführen werden. Zur Lösung der Probleme unterbreitet eine Reihe von Vorschlägen:

"Der eine Weg besteht zunächst in der Begünstigung des russischen Petroleums."

Das ist bereits in der Weise geschehen, dass die Zollabfertigung des russischen Öls nach Volumen und nicht nach Gewicht erfolgt, weil es bekanntlich ein größeres spezifisches Gewicht aufweist als das amerikanische. Trotz dieser Begünstigung ist die Einfuhr des russischen Öls rückläufig.

"Welche Mittel könnten wir nun weiter ergreifen, um dem russischen Petroleum die Versorgung des deutschen Marktes zu erleichtern."

Eine weitere Möglichkeit wäre, den Flammpunkt des Öls zu erhöhen, womit das minderwertige amerikanische Öl ausgeschlossen würde. Dies wäre allerdings mit preislichen Opfern der deutschen Konsumenten verbunden.

Außerdem könnte man der Raffination des Petroleums für den Eigenverbrauch nach Deutschland verlegen. Dazu müsste eine Zolldifferenz zwischen Roh- und raffinierten Petroleum eintreten. Damit wäre sicher eine Verteuerung verbunden. Ein weiteres Problem entsteht dadurch, daß die Produkte zu den Nebenprodukten der Braunkohleindustrie in Konkurrenz treten würden.

Ein anderer Weg, um das russische Petroleum zu begünstigen, besteht darin, die Gebühren für die Eisenbahnfracht herabzusetzen. Seit dem 5. Oktober 1897 ist für den Transport des russischen Petroleums von Alexandrowo zu den deutschen Stationen der Ausnahmetarif Nummer 20 gültig. Die Beförderung von raffinierten russischen Petroleum erfolgt in Wagenladungen von je 10 000 Kilogramm. Desweiteren soll Spezialtarif Nummer 3, der billigste Tarif für Rohprodukte in Preußen überhaupt, Anwendung finden, womit sich die Frachtkosten um ein Drittel verringern. (Vgl. Posa RT 10.12.1897, 125).

Schließlich wäre es möglich, die Zölle für das Öl des amerikanischen Trusts zu erhöhen.

Im Fall der amerikanische Konzern mißbraucht seine Macht, dann könnte die deutsche Landwirtschaft die Spiritusproduktion erhöhen.

"Meine Herren, ich meine," fasst Posadowsky zusammen, "wir haben immer noch, wenn auch wie ich angedeutet habe, beschränkte Mittel, gegen eventuelle Mißbräuche der Standard Oil Campany zu kämpfen, selbst wenn uns dieser Kampf vorübergehend gewisse Opfer auferlegen sollte."

Die weiteren Ereignisse sollen mit einer Bemerkung von Eduard Bernstein (SPD) am 22. Februar 1906 im Reichstag ihre Abrundung erfahren: Wir sind auf das Petroleum von Amerika "absolut angewiesen", weil uns Rußland nicht versorgen kann. Und es ist dabei zu beachten, dass es als Leuchtmittel und Heizmaterial einer großen Klasse von Arbeitern dient, speziell auch den Heimarbeitern, die darauf angewiesen sind und Preiserhöhungen nicht vertragen.

 

 

Der "Sozialismus ist ihm
nach wie vor völlig verschlossen" (Vorwärts, 1904)   zurück

Die Sozialdemokraten haben, sagen sie, an der Konservierung überlebte Wirtschaftsformen kein Interesse und sind offen für Veränderungen, stehen den modernen Assoziationen nicht feindlich gegenüber. Sie feuern Staatssekretär Posadowsky noch an, alle Kräfte freizumachen, "die heute noch gebunden sind". Andererseits möchten sie noch immer den Kapitalismus beseitigen, weil die Privatbetriebe "nur Rücksicht auf den Vorteil der Kapitalbesitzer" nehmen, "nicht" aber "auf das Interesse der Gesamtheit". "Das begreift Graf Posadowsky nicht. Seine Einsicht ist äußerst kurzsichtig", urteilt am 16. Dezember 1904 der Vorwärts aus Berlin.

"…. die positiv schöpferische Kritik des Sozialismus ist ihm nach wie vor völlig verschlossen."

 

 

Tuberkulose-Bekämpfung   zurück

 

"Ein Hoffnungsstrahl". Gemälde von Rudolf Konopa (1864-1936)


Altruistisch, außerhalb seiner administrativen Zuständigkeit, engagiert sich Graf von Posadowsky in der nationalen Gesundheitserziehung und der sozialen Prävention von Krankheiten. Er will nicht nur Helfer in der Not sein, sondern die Gesundheit der Bevölkerung aktiv fördern. Die Sozialpolitik erschöpft sich für ihn nicht in der Installation der Krankenversicherungs- und Rentengesetzgebung. Der Geist von Freiheit und Wohlstand muss sich in der Prophylaxe bewähren. Noch rafft die Tuberkulose jedes Jahr Tausende dahin. Mit der Heilstättenbewegung rückt man der Krankheit zu Leibe. Auf der 30. Versammlung des Vereins zur Bekämpfung der Tuberkulose am 23. März 1901 setzt sich Posadowsky dafür ein, den Mangel an Kranken- und Genesungsheimen für die Tuberkulösen bald möglichst zu beseitigen.

Die Elfte Generalversammlung des Deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulose lädt Posadowsky zum 23. Mai 1907 nach Berlin ein. Er übernimmt das Eröffnungsreferat und betrachtet die Lungenkrankheit als soziale Krankheit, die biologische, hygienische und sittliche Ursachen hat, die oftmals besonders in ärmlichen Lebensverhältnissen gedeiht. Ein präventives Handlungskonzept erfordert daher ebenso den Kampf gegen das noch bestehende menschliche Elend. Die Regierung unterstützt deshalb die Kranken, die in den Familien gepflegt werden, aber auch die Heilstätten-Bewegung, wo auch Kinder behandelt werden können. Besonders im ersten Stadium der Erkrankung konnten große Erfolge errungen werden. "Wir sind bemüht," fast der Gastredner die staatlichen Bestrebungen in diesem Feld zusammen, "ein gesundes, arbeitsfrohes und lebensfrohes Geschlecht zu erziehen."

 

 

Graf Posadowsky hat die Schlacht verloren   zurück
Leipziger Volkszeitung, 22. Oktober 1900

Die Mehrheit der Abgeordneten des Deutschen Reichstages lehnt am 20. November 1899 in zweiter Lesung - gegen die Stimmen der Konservativen - den Entwurf des Gesetzes zum Schutz des gewerblichen Arbeitsverhältnisses ab, worauf die sozialdemokratische Fraktion sichtbare Freude und Heiterkeit erfasst. Es war ein Erfolg im Kampf um das Streik- und Koalitionsrecht, das unter dem Schagwort

"Zuchthausvorlage"

in der Geschichte der Arbeiterbewegung einen festen Platz gefunden hat.

 

Streiks, Aussperrungen, Arbeitswillige

Im letzten Jahrzehnt nahm die Streikbewegung immer größeres Ausmaß an. Preußen registrierte vom 1. Oktober 1895 bis 1. April 1896 71 Streiks mit 3861 Ausständigen. Vom 1. April 1896 bis 1. Oktober 1896 waren es 304 Streiks mit 51 309 Streikenden. Unvergessen bleibt der am 1. Mai 1889 spontan, ohne zutun der Gewerkschaften auf der Großzeche Prosper II in Gelsenkirchen aufflackernde Massenstreik, der dann schnell auf schätzungsweise 80 000 beteiligte Bergleute anwuchs. Ebenso hinterließ der Hamburger Hafenarbeiterstreik 1897/98 in der Öffentlichkeit und bei den Arbeitgebern einen tiefen Eindruck. Diesen Streik hätte man verhindern können, legte der Centralverband deutscher Industrieller (CdI) in einer Eingabe an den Kaiser und den Reichskanzler dar, wenn man ihren Vorschlag zum

"Schutz der Arbeitswilligen gegen die Tyrannei der Streikenden" gefolgt wäre.


Dem Hunde, wenn er gut gezogen.
Wird selbst ein weiser Mann gewogen;

Und naht, ihm einmal, das Verhängniß.
Hilft so ein Hund aus der Bedrängnis.

[Und überbringt eine Rolle mit der Aufschrift
"Schutz der Arbeitswilligen".]

Schöne Seelen finden sich. Der Wahre Jacob. Nr. 347. Stuttgart, den 7. November 1899, Titelblatt

Die Vertreter der Regierung stützen sich natürlich, was vorab aller weiteren Details zum Zweck der Allgemeinverständlichkeit gesagt werden muß, auf die Auseinandersetzung Arbeiter gegen Arbeiter, die häufig darauf zurückzuführen war, den Beitritt der nicht organisierten Kameraden zu den Arbeiterkoalitionen zu erzwingen.

"Die Arbeiterbewegung der letzten Jahre", heißt es in der Denkschrift zur Zuchthausvorlage 1899, hat "in beträchtlichen Maße strafbare Ausschreitungen im Gefolge gehabt." Über derartige Ereignisse berichtet am 8. Juni 1899 die sozialdemokratische "Volksstimme" aus Magdeburg ausführlich. Hiernach waren 1896 allein bei der Staatsanwaltschaft I Berlin unter Berufung auf Paragraph 153 der Gewerbeordnung 124 derartige Verfahren anhängig. Dabei umfasste das Spektrum der Ausschreitungen heftige Beleidigungen, schlimme Schmähungen, gefährliche Drohungen und Gewalttätigkeiten. Während der letzten großen Bergarbeiterausstände im rheinisch-westfälischen Kohle- und Saalerevier wurden wiederholt Dynamitanschläge, darunter drei auf Eisenbahnzüge, verübt." Aus vielen Orten wird auch von Ausschreitungen gegen Arbeitgeber (Sachbeschädigung, Beleidigungen, Hausfriedensbruch, Bedrohungen, Mißhandlungen, Erpressungsversuchen) berichtet." (Volksstimme, Magdeburg, 8. Juni 1899)

 

Bielefelder-Rede, 17. Juni 1897

Die Gegner der Arbeiterbewegung sprachen von "sozialdemokratischen Terrorismus". Aus dieser Perspektive betrachtet, erschienen staatliche Regulierungen und Eingriffe notwendig. Trotz der Bedenken, die aus seinem persönlichen Umfeld geäußert wurden, greift Kaiser Wilhelm II. frontal in die Streikkonflikte ein. Am 17. Juni 1897 fordert er in Bielefeld den

"Schutz der nationalen Arbeit aller produktiven Stände
und die Kräftigung des gesunden Mittelstandes".

Ziel war es, die Tätigkeit von Streikposten zu unterbinden und jeden mit Zuchthaus zu bestrafen, der zum Streik aufreizte. Diese Drohungen nehmen im Gesetzesentwurf vom 26. Mai 1899

Zum Schutz des gewerblichen Arbeitsverhältnisses

folgende Form an:

Wer es unternimmt, durch körperlichen Zwang, Drohung, Ehrverletzung oder Verrufserklärung Arbeitgeber oder Arbeitnehmer zur Teilnahme an Vereinigungen oder Verabredungen, die eine Einwirkung auf Arbeits- oder Lohnverhältnisse bezwecken, zu bestimmen oder von der Teilnahme an solchen Vereinigungen oder Verabredungen abzuhalten, wird mit Gefängnis bis zu einem Jahr bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so ist auf Geldstrafe bis zu eintausend Mark zu erkennen.

Die Bielefelder-Rede erregte ungeheure Aufmerksamkeit und löste eine Vielzahl öffentlicher Reaktionen und Proteste aus. Um das

Gesetz zum Schutz der Weiterarbeitenden,

wie es im Alltag ironisch genannt wurde, entbrannte eine heftige öffentliche Diskussion.

 

Geheimes Rundschreiben

Am 11. Dezember 1897 versendet der Staatssekretär des Reichsamtes des Inneren Arthur Graf von Posadowsky-Wehner ein geheimes Rundschreiben an die Regierungen der deutschen Einzelstaaten. Darin legt er den Adressaten nahe zu prüfen, ob gesetzliche Maßnahmen gegen das Streikrecht und die Koalitionsfreiheit angezeigt sind, wörtlich:

"In letzter Zeit ist in der Tagespresse und Fachliteratur wie in Vereinsversammlungen die Frage lebhaft erörtert worden, ob nicht angesichts der durch die Arbeiterbewegung der letzten Jahre gelieferten Erfahrungen von der Gesetzgebung ein erhöhter Schutz gegen Missbrauch der durch § 152 der Gewerbeordnung gewährleisteten Koalitionsfreiheit zu verlangen sei."

Es sind in der Debatte mehrfach Bestimmungen als erforderlich bezeichnet worden, die bereits durch die verbündeten Regierungen im Jahr 1800 in den Entwurf der Gewerbe-Ordnungs-Novelle zur Verschärfung des Paragraphen 153 eingebracht, aber zum Teil aus Bedenken grundsätzlicher Art abgelehnt wurden. Posadowsky bittet weiter zu prüfen, ob arbeitswilligen Personen gegen Vergewaltigung und Einschüchterung seitens der Ausständigen kräftigerer Schutz als bisher gewährt werden kann. .... Der Verfasser des Rundschreibens bittet freundlich um Äußerung, damit beim nächsten Zusammentreffen im Reichstag eine neue Vorlage vorgestellt werden kann.

 

Veröffentlichung im "Vorwärts"

 

Kommentar zur Veröffentlichung der Zuchthausvorlage im "Vorwärts", Berlin den 15. Januar 1898

Den Sozialdemokraten gelang es, daß Rundschreiben in die Hände zu bekommen und am

15. Januar 1898

im Vorwärts (Berlin) zu veröffentlichen.

Es war ein Knall zur rechten Zeit, der Protest und Widerstand gegen die Unterdrückungspolitik und jeden Versuch, die Dynamik der Sozialpolitik auszubremsen, ankündigte.

"Eine gouvernementale Wahlmacherei plumper Sorte", schimpft am 9. Juni 1898 die Arbeiter-Zeitung aus Wien. Außerdem nennt sie den Schreiberling aus dem Reichsamt des Inneren einen

"Agent des Junkertums in der Regierung".

Das sozialdemokratische Zeitung für Salzburg vom 6. November 1899, befürchtet, dass durch das Zuchthausgesetz, die Geldsäcke der Großindustriellen leichter gefüllt werden sollen.

Rosa Luxemburg (1871-1919) wirft Posadowsky in Sozialreform oder Revolution? (1899) vor, ein Attentat auf das allgemeine Reichstagswahlrecht begehen zu wollen.

Friedrich Naumann (1866-1919) wendet sich 1899 in einem Vortrag gegen die Zuchthausvorlage.

Felix Fechenbach (1894-1933) erkennt vierzig Jahre später in der Veröffentlichung des Geheimpapiers einen schweren "Schlag für die sozialpolitischen Rückschrittler."

August Bebel sagt im Juni 1899 das Desaster voraus: "Wenn sie glauben meine Herren, der Sozialdemokratie irgendwie zu Leibe gehen zu können, begehen sie die größte Torheit. "Denn, meine Herren, täuschen sie sich nicht. Mit diesem Gesetzesentwuf werden sie gegen die Sozialdemokratie nichts erreichen. Sie werden aber mit diesem Gesetzesentwurf, Hundertausende von Arbeiter, die heute noch nicht zur Sozialdemokratie gehören, uns in die Arme treiben." (RT 19.6.1899, 2644)

 

Emanuel Wurm, 17. Januar 1898

Der SPD-Reichstagsabgeordnete Emanuel Wurm (1857-1920) attackiert Posadowsky am 17. Januar 1898 (459-462) im Plenum des Reichstages. Wir kennen das Programm des neuen Staatssekretärs [Posadowsky], es heißt:

"Vernichtung der Gewerkschaften".

  • Unter dem Vorwand der Ausschreitungen, sollen die "Arbeiter geknebelt" werden.

"Sie [zu Posadowsky] haben außerdem jede Gelegenheit wahrgenommen, den Arbeiterkoalitionen das Leben so schwer wie möglich zu machen."

  • Sie wollen "die Streiks einschränken, das heißt, die gewerkschaftlichen Organisationen, die Vereinigung der Arbeiter wehrlos machen" und

  • "den Arbeitern das Koalitionsrecht rauben". Dazu soll der Paragraph § 153 der Gewerbeordnung verschärft werden.

  • Das Gesetz will das Aufstellen von Posten verbieten.

  • Die Zugänge sollen nicht überwacht werden dürfen. "Der Arbeiter soll also nicht mehr das Recht haben, seinem Kameraden zu sagen: - sei kein schlechter Mensch, sei kein Streikbrecher, falle uns nicht in den Rücken, tritt mit uns zusammen für unsere Kameraden ein! Nicht einmal das wollen Sie mehr dulden."

Posadowsky (RT 17.1.1898), entgegnet:

"Ich begreife nicht, weshalb sich der Abg. Wurm in solche Erregung hineinredet. Will er doch mit diesem Manifest in der Hand vor die Wähler treten. Da sollte er mir doch eher dankbar für den Erlaß sein. Ich wundre mich nur, daß ich nicht zum Ehrenmitglied der sozialdemokratischen Partei ernannt wurde. (Sehr gut! rechts. Ruf links. lächerlich.)"

".... ich lese ..... heute im "Vorwärts" einen Artikel, der vom Wahlkampf spricht und mit den Worten schließt:

Graf Posadowsky wird
diesen Kampf
nicht überleben.

Solche Redensarten lassen mich absolut kalt. (Bravo! rechts.) Wir haben keine Angst; wir wissen, was wir wollen, und wir werden unsere Maßregeln im Nothfalle auszuüben auch die Kraft haben. (Bravo! rechts. Heiterkeit links.)"

"Wenn der Abgeordnete Wurm sagte, wir wollten die Koalitionsfreiheit der Arbeiter unterdrücken, so hätte er doch die Güte haben sollen" den Passus vorzulesen wo es heisst "bei der grundsätzlichen Aufrechterhaltung der Koalitionsfreiheit (hört! hört! rechts)". Untersagt werden sollen jedoch unerlaubte Regeln und Handlungen, wozu die Anwendung von Paragraph 153 der Gewerbeordnung von 1890 zweckmäßig erscheint. Denn in Deutschland sollen keine englischen Verhältnisse einreißen. "Dort kommt es soweit, daß, wenn die Arbeiter einen Streik beschließen, ein Unternehmer gezwungen wird, den Arbeiter, der noch arbeiten will, zu entlassen, und daß dann entschieden wird, dieser Unternehmer habe unter solchen Verhältnissen einen berechtigten Grund gehabt, den Arbeiter zu entlassen. Dann ist allerdings nicht mehr der Fabrikbesitzer Eigenthümer seiner Fabrik, sondern die Fabrik wird hier thatsächlich ein Kollektiveigenthum der Arbeiter."

 

Reichstags-Debatte, 20. Januar 1898

"Eine Anzahl Forderungen, die Sie stellen," kommt am 20. Januar 1898 (547) Posadowsky dem Vertreter der SPD-Fraktion Emanuel Wurm entgegen, "sind sachlich durchaus berechtigt; Sie verlangen aber viel zu viel auf einmal. Kein Staat, keine Gesellschaft kann alle diese Forderungen, selbst, soweit Sie sie in berechtigtem Umfange stellen, auf einmal erfüllen; dazu fehlen schon die Organe, und manche der Forderungen können nur erfüllt werden mit der zunehmenden allgemeinen Kultur und mit der steigenden Wohlhabenheit des Landes."

 

 

Reichstagswahlen 1898

Im Wahlkampf für die Reichstagswahlen am 16. Juni 1898 mobilisiert die SPD weiter gegen die Zuchthaus-Vorlage.

 

 

10. Deutschen Reichstagswahlen
am 16. Juni 1898

Erklärung: Erste Reihe zum Vergleich die Wahlen von 1893

SPD
Zentrum
NLP
DtVP
Minderh.
DRP
FVp
44
96
52
11
28
28
24
56
102
48
8
26
22
29
   
FVg
BB
DHP
DKP
Antisem.
Unabhäng. Liberale
Unabhäng.Kons.
13
4
7
72
16
13
11
9
56
13
3
1

Wahlbeteiligung 1898: 68 Prozent

Zentrum - Deutsche Zentrumspartei

NLP - Nationalliberale Partei

DtVP - Deutsche Volkspartei

FVp - Freisinnige Volkspartei

DRP - Deutsche Reichspartei

DHP - Deutsch-Hannoversche Partei

SPD - Sozialdemokratische Partei Deutschland

FVg - Freisinnige Vereinigung

NLP - Nationalliberale Partei

Antisemiten - Antisemitenparteien

DKP - Deutschkonservative Partei

BB - Bayerischer Bauernbund

Minderh. - Minderheiten

 

 

Deutschkonservative, Freikonservative und Nationalliberale mußten Verluste hinnehmen. Die Sozialdemokraten wurden mit 2 Millionen Stimmen die stärkste Partei. Doch bedingt durch Besonderheiten der Wahlkreiseinteilung erhielten sie lediglich 56 Sitze, hinter dem Zentrum mit 102 Sitzen rangierend, der zweistärksten Partei.

Kanzler Hohenlohe-Schillingsfürst stützt sich auf die Zustimmung des Zentrums. 1900 gelang es den Sozialdemokraten, Liberalen und Zentrum bei der Abstimmung zur Umsturzvorlage das Sonderstrafrecht gegen Arbeiter und Gewerkschafter zu verhindern.

 

Oeynhausener Trinkspruch, 6. September 1898

Während des Gastmahls am 6. September 1898 im Kurhaus Oeynhausen für die Provinz Westfalen bringt Wilhelm II. folgenden Trinkspruch aus:

"Der Schutz der deutschen Arbeit, der Schutz Desjenigen, der arbeiten will, ist von Mir im vorigen Jahre in der Stadt Bielefeld feierlich versprochen worden. Das Gesetz naht sich seiner Vollendung und wird den Volksvertretern in diesem Jahr zugehen, worin Jeder, er möge sein, wie er will, und heißen, wie er will, der einen deutschen Arbeiter, der willig wäre, feine Arbeit zu vollführen, daran zu hindern versucht oder gar zu einem Streik anreizt, mit Zuchthaus bestraft werden soll. Die Strafe habe Ich damals versprochen, und Ich hoffe, daß das Volk in seinen Vertretern zu mir stehen wird, um unsere nationale Arbeit in dieser Weise, soweit es möglich ist, zu schützen. Recht und Gesetz müssen und sollen geschützt werden .…"

 

"Unverschämtes Proletengesindel! Das möchte ich sehen, der mich hindern könnte, wenn ich arbeiten wollte." (= Text unter dem Bild.)

Zuchthausvorlage. Simplicissismus, 4. Jahrgang. Nummer 13.
24. Juni 1899

 

Die Oeynhausener-Rede, wie sie meist genannt wird, erneuerte die Drohungen gegen die Streikenden und verstärkte die repressive Tätigkeit bestimmter Staatsorgane gegen sie, worüber August Bebel am 15. Dezember 1898 (104) im Reichstag berichtet:

"Seit den Reden in Bielefeld und Oeynhausen urtheilt ein großer Theil unserer Richter geradezu wie auf Kommando, als wären sie nunmehr verpflichtet, mit den drakonischsten Urtheilen gegen Arbeiter, die bei einem Streik sich ein Vergehen zu Schulden kommen lassen, vorzugehen."

Im Juni 1899 protestieren Bürger und Arbeiter gegen die Zuchthausvorlage in Berlin und Leipzig. Am 8. Juni 1899 ruft die Leipziger Volkszeitung auf: "Zum Massen-Protest // fordert heraus // die Zuchthausvorlage. // Für Sonntag den 11. Juni lautet der Weckruf: // Auf nach Stötteritz! [in Leipzig] // Hoch das Koalitionsrecht der Arbeiter!"

Jedermann war sich nach der ersten Lesung des Gesetzes vom 19. bis 22 Juni 1899 und zugehöriger Debatte im Reichstag darüber im Klaren, entsinnt sich Posadowsky am 11. Dezember 1900 (390), dass es nicht mehr angenommen würde. Interessant ist, wo er die Ursache dafür sucht: Indem die sozialdemokratische Presse immer wieder predigte, dieses Zuchthausgesetz soll jeden Arbeiter bestrafen, der überhaupt streikt, und verschwiegen hatte, dass nur derjenige bestraft werden sollte, der ungesetzliche Mittel gegen die Arbeitswilligen anwendet, und das sich dieses Gesetz ebenso gegen den Terrorismus der Arbeitgeber richtete. Weiter beruhen die Paragraphen des Gesetzesentwurfs, argumentiert Posadowsky, auf dem Grundsatz der Gleichheit und lauten: "Das Recht jeden einzelnen Arbeiters, der arbeiten will, gilt ebenso viel wie das der übrigen Arbeiter, welche nicht arbeiten wollen." (389) Weil man diese Tatsachen verschwiegen hat, bricht es aus ihm heraus,

"war eine ungeheure Aufregung und Missstimmung in der Arbeiterbevölkerung entstanden."

Entgegen diesem Anliegen interpretierte die sozialdemokratische Presse Teile des Gesetzesentwurfs zum Schutz der Arbeitswilligen einseitig und propagierte: er war nicht zum Besten der Arbeiter, er war zum Besten der Arbeitgeber, was sein Anliegen entstellte und desavouierte. So gelang es der 12 000-Mark-Kampagne die öffentliche Wahrnehmung dahingehend zu verschieben, dass es nun hieß, es war ein Gesetzesentwurf allein zugunsten der Unternehmer, und man erbat dazu von ihnen einen Beitrag für die Agitation.

 

Streit um das Koalitionsrecht

Der Schlüssel zum Verständnis der Ambitionen und Ziele von Staatssekretär Graf von Posadowsky in der Zuchthaus-Affäre ist zweifellos seine Haltung zur Koalitionsfrage. "Die Scharfmacher", mahnt 1914 Wolfgang Heine (1861-1944) in Schutz dem Koalitionsrecht, "wollen die freien Organisationen überhaupt unterdrücken." War Posadowsky ein Scharfmacher? Nein - so versteht er sich nicht. Freilich, seiner Selbstdefinition muß im Konfliktfall nicht unbedingt das letzte Wort gehören. Aber außer Acht lassen, soll man sie nicht. In der Reichstagsdebatte am 17. Januar 1898 bestreitet er, dass sein Anliegen "gegen das Koalitionsrecht der Arbeiter" gerichtet ist. Den "Vorwärts" (Berlin) lässt das kalt. Unbeirrt erhebt er weiter den Unterdrückungs-Vorwurf, obwohl doch sogar im Geheimbrief vom 11. Dezember 1897 die Formulierung

"bei grundsätzlicher Aufrechterhaltung
der Koalitionsfreiheit"

lautete.

Im November 1904 Begann in Bochum auf der Zeche Bruchstraße von Hugo Stinnes der große Streik der Bergarbeiter. Im Januar schlossen sich ihm 50 000 Arbeiter an.

"Wo stehen wir im Streik der Bergleute?"

fragt Eugen Katz am 29. Januar 1905 und antwortet: Es kommt nicht auf eine bloße papierne Befugnis an. Was sollten die nützen, wenn die Unternehmer diese durch ihre Machtentfaltung hintertreiben und versuchen die Arbeiterorganisationen auszuschalten?

 

"Hans Huckebein, der Rabe, spricht, - ein gutes Kraut gedeiht hier nicht!"
(= Originalbildunterschrift)

Das Motiv partizipiert an der Idee einer Geschichte von Wilhelm Busch, die 1867/68 erschien.

Der Wahre Jacob. Jahrgang 16. Nummer 340. Stuttgart, den 1. August 1899, Titelblatt

Kommentar. Posadowsky steht als Vogelscheuche mit Pickelhaube inmitten konservativer Krautköpfe. Damit der Anlass nicht verloren geht, steht auf dem Schild "Zuchthausvorlage". Im Vordergrund links liegt ein Mann im großkarierten Anzug, dessen Oberkleidung den Schriftzug "Arbeitswillige" trägt. So bezeichnete man damals Streikbrecher. Daneben zum oberen Bildrand hin liegt ein Trinker. Dahinter die Andeutung eines Geistlichen. Das sind die Unterstützer und Scharfmacher der "Zuchthausvorlage".

Die Sozialdemokratie führt mit ihm in Sachen Zuchthausvorlage (1999) und Zollgesetzgebung (1901/02) eine scharfe Klinge. Aber die Sozialdemokraten brauchten ihn auch. Die Zeitschrift für Satire aus Stuttgart erkannte das. Sie entwirft, trotz aller Kritik, oft ein freundliches, mit sympathisierenden Effekten ausgeschmücktes Bild seiner Persönlichkeit. Der Leser konnte erahnen, in welchen Schwierigkeiten dieser Mann steckte. Das rückte ihn näher an den Bürger ran.

1899 erschienen die "Bilder aus der Sozialpolitik" (siehe Kapitel: Widerstand gegen die Sozialpolitik). Auf einem Bild ist zu sehen, wie die Sozialdemokratie, einen der schlimmsten politischen Gegner von Posadowsky, den preußischen Montanindustriellen Carl Ferdinand von Stumm (1836-1901) ersticht.

"Hans Huckebein...." fällt aus dem Rahmen. Sie ist die ungünstigste aller Karikaturen, die je über ihn "Der Wahre Jacob" veröffentlichte. Für das Ansehen von Posadowsky in Arbeiterkreisen, was ihm keineswegs egal, war dies ungünstig.

 

Die wichtigste Frage der gesamten Sozialpolitik heißt deshalb, soll das Arbeitsverhältnis auf eine

absolutistische oder eine konstitutionelle Grundlage

gestellt werden? In den Streiks konkurriert also das Prinzip des sozialpolitischen Absolutismus mit dem des sozialpolitischen Konstitutionalismus. - Posadowsky war für die Verrechtlichung der Beziehungen zwischen Unternehmer und ArbeiterInnen, also gegen ein absolutistisch verfasstes Arbeitsverhältnis.

 

 

Erste Lesung 19. Juni 1899

Nicht müde, wiederholt er am 19. Juni 1899 (2638) im Reichstag zur ersten Lesung der Zuchthausvorlage seinen Standpunkt zur Koalitionsfrage:

"Wir denken gar nicht daran, die berechtigte Koalitionsfreiheit des deutschen Arbeiters aufzuheben oder auch nur zu beschränken. Im Gegenteil, ich persönlich bin der Ansicht, daß diese Koalitionsfreiheit in gewissem Maße im wirtschaftlichen Interesse aufrecht erhalten muß."

Die Textstelle im Brief vom 11. Dezember 1897 zum "Terrorismus der Ausständigen", expliziert er weiter, ist nichts als die wörtliche Übernahme einer Stelle aus der Petition, die der deutsche Innungsverband an den Bundesrath und den Reichskanzler gerichtet hat. Anschließend erklärt er (RT 17.1.1898) sein moralisch-politischen Standpunkt:

"Ich kenne keine größeres Unrecht, als einen Arbeitswilligen an der Arbeit zu hindern! (Bravo rechts.)"

Nun informiert er das Plenum über entsprechende Vorkommnisse zwischen den Ausständigen und Arbeitswilligen. Zum Beispiel als am 1. November 1897 der Streik im pommerschen Torgelow ausbrach, drangen von dort über den Ablauf verschiedene Nachricht in die Öffentlichkeit. Einige Berichte befassten sich mit Gewalttätigkeiten und Drohungen gegenüber den Arbeitswilligen. Man kann den Streikenden nicht übelnehmen, kolportierte der Meinungsstrom, dass man ihnen nicht freundlich gegenübersteht. Unter Bezugnahme auf einen Fall, hieß es, "der Mann wäre wahrscheinlich am Schlage verstorben."

Einige Arbeiter wenden sich mit einem Brief über die Zustände an Graf von Posadowsky und schildern darin, dass sie am Abend des 10. Januar (1898) auf dem Heimweg von Ausständigen überfallen wurden. Ihre Angreifer traten einheitlich geleitet und organisiert auf. Ungefähr 60 an der Zahl. Auf Zeichen des Anführers starteten sie die Überfälle. In einer anderen Gegend, fort von Aschersleben, führten zwanzig Streikende auf dem Weg den Überfall aus. Ähnlich trug es sich bei Stollberg in Harz zu. Erst ein Arbeiter, dann zwei und zuletzt vier, wurden mit starken Knüppel misshandelt, wobei einer mit dem Namen "Arndt" erschlagen wurde. Also, korrigiert Posadowsky die Nachricht des SPD-Abgeordneten Paul Singer (1844-1911):

"Also nicht am Schlag gestorben, sondern erschlagen ist er (hört, hört, rechts)." (Posa RT 20.1.1898, 547/548)

 

Ablehnung, 20. November 1899

"Meine Herren, bei der Situation, die sich heute in diesem Saale entwickelt hat," erwärtm der SPD-Reichstagsabgeordnete Wolfgang Heine (1861-1944) vorsichtig die Stimmung, "glauben meine politischen Freunde und ich, dass wir unsere Pflicht verletzen würden, wenn wir hier noch lange Worte machten (Sehr richtig! links)" (Vorwärts 20.11.1899) Der Reichstag lehnt am 20. November 1899 den

Entwurf eines Gesetzes
zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse

- "Zuchthausvorlage" genannt-

ohne Kommissionsberatung ab.

Posadowsky sah zu diesem Zeitpunkt längst das Scheitern, wie er 1919 glaubhaft versichert, des Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse voraus. Trotzdem legte er sich damals in der Debatte so fest:

"Gegen die einzelnen Bestimmungen der Vorlage, besonders gegen die Tendenz, kann doch gar nichts eingewendet werden."

Er behauptete, dass mit diesem Gesetzesentwurf nicht nur die Arbeitswilligen gegen den Terrorismus der Streikenden, sondern auch die Arbeiter gegen den Terrorismus der Unternehmer geschützt werden, worauf am 12. Dezember 1900 August Bebel antwortet: "In den Fabriken und gewerblichen Etablissements des Zentralverbandes der Großindustriellen ist eine Arbeiterorganisation, die Zwecke verfolgt, welche den Unternehmern nicht genehm sind, einfach unmöglich. (Hört! hört! Links) Jeder Arbeiter der es wagt, eine politische Gesinnung zu vertreten - und davon sind nicht allein die sozialdemokratischen Arbeiter betroffen, sondern auch freisinnige und Zentrumsarbeiter betroffen worden. Ich erinnere nur an die Handlungsweise der Fabriken von Krupp -, die den Unternehmern nicht paßt, fliegt hinaus." (RT 12.12.1900, 482)

In der Retrospektive entsteht die Frage: Warum sah Posadowsky das Ergebnis eigentlich voraus? Vielleicht deshalb, weil die Reichsleitung beschlossen, das Gesetz, um das Flottengesetz nicht zu gefährden, fallen zu lassen? All sein lamentieren und schluchzen verlief im Nichts. Mehr oder weniger ein Proformauftritt. Trotzdem waren Auswirkungen der Zurückweisung des Gesetzes zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse vielfältig.

[a] Derweil verschlechterte sich immer mehr die Stimmung des Kaisers gegenüber dem Parlament und den Parteien. Er dachte daran, die Dinge in der Weise auszufechten, den Reichstag mehrmals hintereinander aufzulösen und anschließend das Wahlrecht zu ändern. (W. J. Mommsen 2005, 83) Praktisch würde dies in einen Staatsstreich münden.

Posadowsky scheiterte und vollzog nach kurzer Zeit einen Richtungswechsel. Er sucht jetzt in sozialen Fragen mit der SPD und Arbeiterbewegung ehr den Ausgleich. Tut er das wirklich, möchte man Joachim Bahlcke fragen, der dies 2006 formulierte. Denn ob dies der sozialistischen Opposition wirklich nutzt, scheint nicht völlig klar. Bekanntlich erwarten der Kaiser, die Reichsleitung und bürgerlichen Parteien

von ihm im Kampf gegen die Sozialdemokratie
"Etwas zum Gruseln" (1902).

Und wenn er das nicht erwartungsgerecht tut, was passiert dann? Schützt ihn seine Reputation als Sozial-, Arbeitsschutz- und Handelspolitiker? Ihm droht die Relegation. Infolgedessen verliert das parlamentarische System der offenen und versteckten Kollaboration seine Stabilität und der Reichstag stürzt in eine Krise. Profitiert also die Sozialdemokratie wirklich davon, wenn Posadowsky aus der Reichsleitung ausscheidet und politisch-kulturell verbannt wird? Sie verliert einen Politiker, der die Lebenslage der arbeitenden Klasse versteht, ihr ehrlich gegenübertritt, und sich der Anhebung des materiell-kulturellen Lebensniveaus politisch-moralisch verpflichtet fühlt.

[b] Die Zuchthausvorlage war gescheitert. Es war ein Erfolg der Sozialdemokratie und fortschrittlich-bürgerlichen Oppositionellen.

A b e r  e s  w a r  k e i n  S i e g !

Besonders im größten Land Deutschlands, in Preußen, setzt sich nach Ablehnung der Zuchthausvorlage am 20. November 1899 durch den Reichstag der politische Kampf mittels der staatlichen Rechtspflege bis in die nächsten Jahrzehnte fort.

"Nachdem der Deutsche Reichstag für die Bestrafung des Organisationszwanges, des Streikpostenstehens und des Kontraktbruches im Wege des Gesetzes zum Schutz der Arbeitsfreiheit (Zuchthausvorlage) nicht zu haben war, wies der preußische Justizminister die ihm unterstellten Behörden an, die Rechtsprechung nach dieser Richtung hin zu beeinflussen, um dem Reichsgericht Gelegenheit zu geben, diesbezügliche Rechtsnormen aufzustellen. Dazu apportiert der preußische Landtag fortwährend Anträge, die eine gesetzliche Bestrafung des Streikpostenstehens, des Kontraktbruches, der Behinderung Arbeitswilliger usw. verlangen, ebenso ein gesetzliches Einschreiten gegen die Sozialdemokratie, wodurch die Gewerkschaften getroffen werden sollen. Daß diese Materien formell zum Gebiete der Reichsgesetzgebung gehören, jeder Eingriff in dieselbe also nur im Wege des Verfassungsbruches möglich ist, stört die dort wortführenden Junker sehr wenig." (Correspondenzblatt 27. Januar 1906)

[c] Wolfgang Heine (739f. und 741) gelangt 1914 zur Erkenntnis, dass das Koalitionsprinzip nicht von den Arbeitern, wie Reichskanzler von Bethmann Hollweg es unlängst darstellte, bereits in gefährlicher Weise überspannt wird, sondern es noch immer und überhaupt prekär ausgestaltet ist. Es gab die sozialdemokratischen Versuche, etwa mit der Reichstagsresolution 1285,

"den Reichskanzler zu ersuchen, dem Reichstag baldigst einen Gesetzesentwurf zugehen zu lassen, wodurch alle das Koalitionsrecht einschränkenden ausnahmegesetzliche Vorschriften in den Reichs- und Landesgesetzen aufgehoben werden sollen".

Seit aber Staatssekretär Doktor Clemens von Delbrück (1856-1920) am 10. Dezember 1912 im Reichstag diese verfassungs- und naturrechtliche Grundlage des Koalitionsrechts bestritten hat, ist es notwendig sie durch ausdrücklichen Akt der Gesetzgebung zu proklamieren.

 

 

Zwölftausendmark-Affäre zurück

1899 erhält das Reichsamt des Inneren vom Centralverband deutscher Industrieller (CdI) Propaganda-Geld. Begonnen hatte es mit einer Anfrage von Ministerialdirektor Erich v. Woedtke (1847-1902) vom Reichsamt des Inneren an den Geschäftsführer des CdI Henry Axel Bueck (1830-1916), ob sie die Finanzierung von Agitationsschriften gegen die Sozialdemokratie unterstützen könnten. Der übermittelt das Anliegen an den Geheimen Finanzrat und stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralverbandes Jenke, der nach Prüfung empfahl, das Verlangen nicht zurückzuweisen.

"Man werfe oben 12000 Mark hinein und ein fertiges Ausnahmegesetz gegen die Arbeiter fällt unten heraus."

Der Wahre Jacob. Jahrgang 17. Heft 376. Stuttgart, den18. Dezember 1900, Seite 3395
 

Am 22. Oktober 1900 veröffentlicht die Leipziger Volkszeitung die Niederschrift des Geschäftsführers des CdI vom 3. August 1898. Danach spendete die Industriellen 12 000 Mark zur Agitation für den Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse. Alles flog auf, als ein Archivar vom Geschäftsführer Bueck heimlich die zugehörige Korrespondenz an den "Vorwärts" (Berlin) weiterleitete. Wir sagen "Archivar". Zunächst war das überhaupt nicht klar. Vielmehr konnte man annehmen, Bueck selber habe den Brief dem "Vorwärts" zugeleitet, um Posadowsky zu kompromittieren. Andere Erkenntnisse legen nahe, dass Bueck in dieser Angelegenheit höchstpersönlich von Johannes von Miquel dazu veranlasst wurde.

Die Freie Presse in Wien unkt am 25. Oktober 1900, dass Posadowsky "mit dem Verlust seines hohen Postens büßen" muss. Wird er büßen? Ausgelöst war diese Reaktion vielleicht durch die Information über die Interpellation der Abgeordneten Albrecht und Genossen, Drucksache Nr. 21, vom 24. November 1900 zur 7. Sitzung des Deutschen Reichstages, die lautet:

"Welche Maßregeln gedenkt der Herr Reichskanzler gegen die Beamten des Reichsamtes des Inneren zu ergreifen, welches von einer Interessengruppe, dem Zentralverbande deutscher Industrieller, die Summe von zwölftausend Mark gefordert und erhalten hat, um damit die Agitation für den vom Bundesrath dem Reichstage am 26. Mai 1899 vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zum Schutze des gewerblichen Arbeitsverhältnisses zu betreiben."

Den entscheidenden Vorstoß gegen die Angriffe von der Opposition unternimmt in dieser Sitzung Bernhard von Bülow, indem er seinem Staatssekretär das Vertrauen ausspricht:

"Im vollen Einverständnis mit dem Herrn Staatssekretär des Inneren (na! na! bei den Sozialdemokraten) - jawohl Einverständnis, dessen eminente Arbeitskraft, dessen Geschäftserfahrung, dessen Kenntnisse, dessen Charakter ich trotz aller gegen ihn gerichteten Angriffe immer gleich hoch Stelle (Bravo!) bin ich der Ansicht, daß derartige Wege in Zukunft nicht wieder eingeschlagen sollen."

Es ist bei Weiten nicht allein ein Vertrauensbeweis, gibt Bülow doch klar zu verstehen, dass sich dies nicht wiederholen darf. So wie der Vorgang um den Bettelbrief in der Öffentlichkeit erscheint, läuft er allen den Traditionen des deutschen Beamtentums zuwider.

"Über die Sache selbst mich zu äußern," reagiert Posadowsky 11. Dezember 1900 im Reichstag,

"habe ich keine Veranlassung. Ich lehne es ab".

"Aus diesem Schweigen," hält ihn daraufhin August Bebel, es war immer noch die Etatsberatung, "darf ich mir aber schließen erlauben, dass der Vorgang, d.h. die Forderung der 12 000 Mark, nicht nur im vollen Einverständnis mit ihm, sondern wahrscheinlicher weise auf seine eigene Veranlassung hin geschehen ist."

Posadowsky (RT 11.12.1900, 388) eilt an das Rednerpult:

"Ich glaube, wer mich in meinem Privatleben und im öffentlichen Leben kennt, der weiß, dass ich Furcht nicht kenne (Bravo! - Zurufe links), und daß ich der letzte bin, der irgendeine Verantwortlichkeit von sich ablehnt und den Kampf mit der Partei scheut, die mir heute gegenübersteht. (Lebhaftes Bravo. - Oh! Oh! bei den Sozialdemokraten.)"

Er wirkt angeschlagen. Er dankt dem Vorredner, August Bebel, für die Wiederaufnahme der Debatte die partie remise, um dann anzufügen:

"Ich erkläre hier vor dem versammelten Reichstage und vor dem ganzen Lande, dass es vollkommen nebensächlich ist, ob ich von diesem Ansuchen an den Zentralverband der Industriellen etwas gewußt habe oder nicht (hört! hört! und Bewegung links), ob ich es veranlasst habe oder nicht, ob ich anwesend war oder nicht - ich trage die Verantwortung für das, was in meinem Amte geschieht. (Bravo!), und werde sie nie von mir abwälzen."

Am Schreiben selbst moniert am 13. Januar 1901, als alles aufgeflogen war, der Vorwärts, kann "er nichts Unkorrektes, nichts Unrichtiges" finden.

"Die jetzige Erklärung des Grafen Posadowsky", heizt der Vorwärts (Berlin) am 12. Dezember 1900 die Stimmungan, "beweist die reuelose Verstocktheit der Schuldigen. Im Ressort des Grafen Posadowsky fehlt das Gefühl der Unwürdigkeit, dessen, was gethan wurde." - "Reuelose Verstocktheit?", wo er doch übersichtlich darlegte:

"Der Beitrag, den der Zentralverband der Industriellen gleistet hat, der von ihm erbeten ist zur Vertretung des Gesetzesentwurfs in der Öffentlichkeit, ist verwendet worden, um Ausgaben zu decken, welche entstanden für die Verbreitung lediglich amtlichen Materials, welches bereits seit Wochen und Monate dem Reichstag vorlag ...." (Posa 11.12.1900, 431)

Am 12. Januar 1901 sorgt der Abgeordnete Fischer von der SPD in der Samstagnachmittagssitzung des Deutschen Reichstags mit der Feststellung

"Das Reichsamt des Inneren ist eben nichts andres als eine Filiale des Centralverbandes" [deutscher Industrieller]

für viel Aufregung. Das Kesseltreiben gegen Grafen Posadowsky, meldet das Grazer Volksblatt am 15. Januar 1901, hält an.

 

Die Frage nach dem Verhältnis von Industrie, Unternehmerverbände und staatlicher Sozialpolitik kam immer wieder hoch. Zum Beispiel in der Reichstagsdebatte am 5. Oktober 1917 (3707), also Posadowsky behauptete, dass die Staatssekretäre früher vollständig losgelöst vom Einfluss der mächtigen industriellen Verbände tätig waren, was den SPD-Reichstagsabgeordneten Arthur Stadthagen (1857-1917) mit den Sätzen auf die Barrikade trieb: "Wir sehen das Gegenteil. "Da war der Staatssekretär Boetticher: "Meine Herren wir arbeiten ja nur für sie." Ich erinnere an das Staatssekretariat des Herren Grafen v. Posadowsky selbst, einmal an die Zuchthausvorlage, und dann auch an die Tatsache, dass 1897 die Unfallgesetzvorlage, wie sie aus der Kommission herauskam, keine Gnade fand vor den Augen des mächtigen Verbandes der Industriellen und darum in der Versenkung verschwand. …. Ich gehe nicht auf die weiteren Nachteile ein, die sie den Arbeitern gebracht hat."

Weiter kam an diesem Tag im Plenum noch die Frage auf, wie mehr erreicht kann: a) wenn die Sozialpolitik als selbständiges Amt geführt wird oder b) ob es zusammen mit großen wirtschaftlichen Verbänden untergebracht und zusammenarbeiten sollte.

Dem Reichamt des Inneren waren durch den Krieg viele Aufgaben zugewachsen, was zu seiner Überlastung führte. Ist eine Teilung des Amtes nötig, fragt Posadowsky. Weder Delbrück, noch Bethmann Hollweg oder der jetzige Staatssekretär befürworteten dies. Möglicherweise wäre es sinnvoll, die Institution als eine rechtssprechende Behörde dem Reichsamt für Jusitz zuzuordnen. Ebenso könnte eine Entlastung durch Schaffung eines Staatssekretärs für öffentliche Arbeiten erfolgen. "Die Herren von der Sozialdemokratie, die ein besonderes Reichsarbeitsamt schaffen wollen, möchte ich doch darauf hinweisen, dass sie sich vielleicht in den Erwartungen irren. Meine Herren, ich habe wirklich ein sozialpolitisches Herz, aber, ich glaube, sie täuschen sich darin, wenn sie durch Schaffung eines besonderen sozialpolitischen Amts die Sozialpolitik wirksam fördern zu glauben. Ich glaube, gerade das Gegenteil wird eintreten." Hierzu projiziert er gedanklich die einzelnen Abläufe des Amtes und stellt ihre Verbindung zu den preußischen Ministerien her, deren Zustimmung es einholen muss, zu den Kommissaren und den fraglos endlosen Kommissionssitzungen, wo besonders die entgegengesetzten Ansichten zu bekämpfen sind. (RT 5.10.1917, 3698) Posadowsky vertrat die Ansicht, dass Reichsarbeitsamt dürfe vom Wirtschaftsamt und dem Amt für Handel nicht getrennt werden, weil dies die sozialpolitische Macht schwächt. Daran reibt sich der SPD-Reichstagsabgeordnete Arthur Stadthagen (1857-1917):

"Meine Herren, ich bin gerade entgegengesetzter Ansicht. So lange Sozialpolitik und Wirtschaft in einer Hand liegen, wird aus der Sozialpolitik nichts."

"Ich glaube, ein selbständiges Amt kann mehr leisten, als ein Amt, das in Verbindung wirtschaftspolitischen und handelspolitischen Aufgaben gebracht wird." (RT 5.10.1917, 3707)

 

Zu Zeiten der Zwölftausendmark-Affäre, wollte Posadowsky von einer Abhängigkeit vom CdI nichts wissen, weil er ahnte, wie die Öffentlichkeit darauf reagieren würde. Denn was geschehen, dies widerspricht nach vorherrschender Anschauungsweise den alten tradierten Vorstellungen von der Unabhängigkeit des deutschen Beamtentums.

Geschickt greift am 12. Januar 1901 der SPD-Abgeordnete Richard Fischer die Zwölftausendmark-Affäre auf und agitiert:

"Wenn nicht Herr v. Woedtke der Urheber des Briefes ist, wie ist es zu erklären, daß v. Woedtke als Opferlamm für den Bueckbrief sein mußte, insofern als er heute nicht mehr hier als Vertreter der verbündeten Regierungen funktioniert? Ist er unschuldig, so ist dies eine schreiende Ungerechtigkeit, die mir als Stück jener Moral erscheint, die die kleinen Diebe hängt, die großen laufen läßt. (Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Wenn aber diese Darstellung der "Frankfurter Zeitung" nicht richtig sein sollte, wenn wirklich Herr von Woedtke der Urheber des Bettels ist, so hat doch andererseits Graf Posadowsky erklärt, daß er nicht Unkorrektes, nicht Unrichtiges an diesem Schreiben finden könne. Auch dann ist es unverständlich, daß trotzdem Herrn von Woedtke jetzt die Pforten zum Bundesratstisch verschlossen sind."

Posadowsky antwortet:

"Ich habe niemals danach gestrebt, an dieser Stelle zu stehen, dass weiß jeder der mich kennt, aber ich werde an dieser Stelle stehen, so lange ich das Vertrauen meines Monarchen besitze, so lange ich es für politisch zulässig halte und solange meine körperliche und geistige Widerstandskraft gegenüber solchen Angriffen ausreicht." (Kesseltreiben 15.1.1901)

Im Verlauf der Affäre distanziert er sich öffentlich von seinem Ministerialdirektor, der zum Direktor des neugeschaffenen Reichsaufsichtsamtes für das Versicherungswesen demissioniert.

Die SPD will die Aufklärung der Zwölftausendmark-Affäre, ohne ihn stürzen. "Es liegt uns ganz fern, den Grafen Posadowsky von seinem Platze zu bringen. Je länger er an seinem Platze bleibt, desto lieber ist es uns," bekundet der Abgeordnete Richard Fischer am 12. Januar 1901 im Reichstag, "desto mehr liegt es im Interesse unsrer Sache. (Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten.)"

Die Zwölftausendmark-Affäre ermöglichte neue Einblicke in die Phalanx von Industrie, CdI und Staat (Reichsamt des Inneren).

 

 

Posadowsky-Statistik   zurück

Die gezielte und sozialökonomisch wirksame Realisierung des Ersten Hauptsatzes der Sozialpolitik erfordert eine aussagekräftige Sozialstatistik, nicht in Art Ludendorff`scher Kriegsberichterstattung, sondern als Widerspieglung von epidemiologischen Entwicklungstendenzen der Gesundheitslage, Sicherung der Ernährung und Wohnungslage. Als Posadowsky über den Bundesratsbeschluß vom 10. Juni 1898 veranlasst, eine Statistik über die Ausstände und Aussperrungen zu führen, nehmen dies die Sozialdemokraten um die Leipziger Volkszeitung mit Chefredakteur Bruno Schönlank (1859-1901) skeptisch auf. Am 9. Dezember 1898 titelt ihr Blatt auf der ersten Seite:

Posadowsky-Statistik.

Sie fürchten ein Déjà-vu Erlebnis mit der "Zeit der Sozialreaktion von oben" und den "Unterdrückungsvorlagen". "Büttel, Gefängnis, Polizeischikane und Massregelung drohen hinter diesen Erhebungen." "Besonders verdächtig erschien ihnen die Ermittlung und Registrierung der "Zahl der Minderjährigen", die "Kontraktbrüchigen", "polizeilichen Massnahmen" und das "staatsanwaltschaftliche Einschreiten". "Immer deutlich zeigt sich in den Bestimmungen der Pferdefuß des rücksichtslosen Arbeitertrutzes, der Scharfmacherei .…" Die Daten können zur Bekämpfung der verhassten gewerkschaftlichen und proletarischen Massenbewegung herangezogen werden und negative Auswirkungen auf das Koalitionsrecht haben. "Immer deutlicher zeigt sich in den Bestimmungen der Pferdefuß des rücksichtslosen Arbeitertrutzes, der Scharfmacherei ...." "Unsere anfängliche Auffassung über die Streikstatistik des Grafen Posadowsky hat sich bestätigt."

Unbenommen der kritischen Prüfung von Zweck und Verwendung der erhobenen sozialen Daten, wäre es der Sache gut bekommen, wenn man die Vorteile für Verwaltung und das Anliegen vom Standpunkt der fachlich qualifizierten Führung von Prozessen durch das Staatssekretariat ebenso herausgestellt hätte.

Posadowsky strebt in seiner Behörde die Nutzung neue Erkenntnisse der Wissenschaft an, um die Wirkung der Arbeiterschutz- und Sozialgesetzgebung zu verbessern. Er fragt: "Haben wir nicht auf Anregung aus Arbeiterkreisen heraus Umfragen gehalten über die Lage der Handlungsgehilfen, über die der Bäcker und Müller, über die Milzbrandgefahr in Pinsel- und Roßhaarfabriken, über die Konfektionsbranche? Oder haben etwa die Unternehmer diese Erhebungen angeregt? Nein, die Arbeiter! Und wir haben den berechtigten Wünschen der Arbeiter bezüglich der Feststellung jener Verhältnisse Rechnung getragen." (28.1.1898)

Anzumerken bleibt noch, dass bei den Gewerkschaften und der SPD ebenso ein Bedürfnis, zum Beispiel nach einer aussagestarken Streikstatistik bestand.

 

 

Der Verwandlungskünstler zurück

 

Reichstag in Berlin (um 1895)

Im nebenstehenden Text ist mit den "Festsälen des Wallotbräus" der Reichstag gemeint, der nach Plänen des Architekten Paul Wallot erbaut wurde. Kaiser Wilhelm II. weihte ihn am 6. Dezember 1894 mit einer Thronrede ein, wo er ankündigte, "durch Erweiterung der geltenden Strafvorschriften den Schutz der Staatsordnung verstärken" zu wollen.

Außerdem will er, den Abgeordneten ein Gesetzesentwurf zur Entschädigung von unschuldig Verurteilten vorlegen, die eine Folge von Mängeln in der Strafprozessordnung und im Gerichtsverfassungs-Gesetz sind.

Foto "Reichstagsgebäude am Königsplatz in Berlin, 1895". Gemeinfrei. Fotograf ist leider nicht bekannt.

 

Nicht immer war es leicht seiner politischen Rhetorik zu folgen. Mitunter artikulierte er seine Gedanken zu den Bedürfnissen der sozialen Klassen, Parteien, Organisationen und Aufgaben des Staates in Abhängigkeit von den Tagesaufgaben der politischen Kommunikation. Dann war der Moment für den Auftritt des Verwandlungskünstlers Posadowsky gekommen. So war es bei einem Treffen von Reichstagsabgeordneten, das man heute vielleicht Pressekonferenz nennen würde, zu beobachten, als er diese Fähigkeit der Metamorphose demonstrierte.

"Die vierzehntägige Aufführung der handelspolitischen Komödie "Im Profistreben vereint" in den Festsälen des Wallotbräus" hat mit einem heiteren Knalleffekt geschlossen." Als Mitwirkende waren an diesem 25. Februar 1905 die Kollegen Reichstagsabgeordneten Hans von Kanitz (1841-1913) von der Deutsch Konservativen Partei (DKP) und Ludwig von Reventlow (1864-1906) von der Deutschsozialen Partei (DSP) geladen. Unterstützt durch Carl Herold (1848-1931) vom Zentrum, ereiferten sie sich über die Unzulänglichkeit der Handelsverträge. Zunächst als ein tragisches Rührstück angelegt, gestaltete es sich mit jedem Fortschritt, immer komischer und sollte schließlich "in einem Faschingsscherz" enden. (Vorwärts 26.2.1905) Ihnen vorzutragen, gab sich der Staatssekretär vom Reichsamt des Inneren die Ehre. Er "....forderte in der Rolle eines Anti-Posa als Gegengewicht gegen das Streben der unteren Schichten nach Verbesserung ihrer Lebenslage und den dadurch bewirkten heftigen Gang der Gesetzgebungsmaschine die Stärkung des politischen Einflusses der Landwirtschaft, das heißt der junkerlichen Position, die er als "festen Anker unseres Staates" bezeichnete."

 

 

Der kluge Hans und der blöde Michel  zurück

Neue Wege der Steuerung der öffentlichen Meinung kündigen sich 1902 mit der Affäre um den klugen Hans an. Psychologen, Ärzte, Physiologen, Zoologen, Psychiater und Veterinärmediziner zieht es in den Norden von Berlin, wo der Stall des denkenden Pferdes steht. Es kann Gedanken lesen, den Namen des Besuchers erraten und die Resultate seiner Operationen durch Fußtritte mitteilen. Aus dem Okkultismus um das denkende Pferd erwachsen allmählich fatale Konsequenzen. Was, wenn die Gutachten aus der Psychologischen Fakultät zur Feststellung von Schwachsinn und Unterbringung in der Irrenanstalt mit derselben Akribie verfasst sind, wie die professoralen Gutachten zum klugen Hans? Dann könnte sich Roßkomödie zu einer unsterblichen Blamage für das psychologische Deutschland auswachsen. Ab dem 2. September 1904 wird das Tier niemanden mehr gezeigt. Die gewünschte wissenschaftliche Kommission mit auserwählten Fachgelehrten nimmt ihre Arbeit auf. Horst Gundlach arbeitete die Geschichte auf und veröffentlicht sie 2006 in der "Psychologischen Rundschau". Es stellte sich heraus, dass das berühmte Buch des deutschen Psychologen Oskar Pfungst (1874-1932) Das Pferd des Herrn von Osten, Der Kluge Hans (1907), einen bisher nicht erkannten Zweck verfolgte, nämlich zu verbergen, dass Carl Stumpf lange Zeit höhere geistige Gaben des Pferdes annahm. Doch nicht diesem Wissenschaftsskandal, wie eingangs bereits angedeutet, gilt hier die Aufmerksamkeit.

Was sonst ist daran interessant? Das denkende Pferd setzte die Öffentlichkeit Deutschlands in Erstaunen und Erregung. Die einen erlagen der Suggestibilität des Phänomens, andere der Spekulation. Insgesamt war es beängstigend, wie eine Nation sich der kollektiven Halluzination und dem Okkultismus hingibt. Bis dann eines Tages sein Wärter, im Zustand der Verwirrung ausplauderte, dass der fünfjährige Orlow-Traber nur das nachmache, was er ihm durch eine geheime Zeichensprache signalisiert. "Der kluge Hans", sagte im August 1904 der Stallbursche der Berliner "Morgenpost", "bin eigentlich ich. Wenn ich die Augen niederschlage tu´, dann trampelt das Vieh so lange, bis ich die Augen wieder aufhebe." Trotz dieser peinlichen Indiskretion muss das Pferd den Forschern, hauptsächlich Psychologen, täglich Geistesproben seines Könnens darbieten. Gestern, berichtet der Vorwärts (Berlin) am 23. August 1904, buchstabierte Hans die Namen der anwesenden zwei Herren aus des Kaisers nächster Umgebung, Generaladjutant Graf Moltke und Flügeladjutant von Plüskow.

Die Kluge-Hans-Affäre offenbart neue Möglichkeiten zur Steuerung des Verhaltens der Massen. Wenn das Subjekt zu Okkultismus und Selbsttäuschung neigt, quillt daraus eine verheerende Vorahnung: Auf dem Weg durch die Geschichte erwarten uns unkalkulierbare Risiken und irrationale Kettenrektionen.

 

 

Wir sind auf Dauer nicht im Stande,
das zu bezahlen, was wir brauchen
zurück

Der deutsche Kinematiker und Maschinenbauer Franz Reuleaux (1829-1905) war mit seinem Fachwissen als Preisrichter auf vielen internationalen Ausstellungen gefragt. Von der Weltausstellung aus Philadelphia berichtet er 1876, dass die deutschen Produkte billig und schlecht. Industriepolitisch erregte dies viel Aufregung. Tatsächlich waren viele Branchen der deutschen Industrie durch die überlegene englische Konkurrenz in ihrer Existenz bedroht.

Was konnte oder mußte man dagegen von staatlicher Seite tun?

Mit 217 gegen 117 Stimmen faßte der Reichstag am 12. Juli 1879 den Beschluß zur Einführung von "Schutzzöllen" und eines "Zolltarifgesetzes" (15. Juli 1879). Damit war ein Versprechen aus der letzten Thronrede des Kaisiers erfüllt. Unter den Gegnern der Vorlagen rangierten, neben der gesamten Fortschrittspartei, alle Diejenigen, also Polen, Welfen und Sozialdemokraten, "deren staatsfeindliche Tendenzen bei jeder Gelegenheit unverhüllt zu Tage treten." (NAZ 14.7.1879) Auf der Spurensuche nach Anhaltspunkten zur Erklärung der gesellschaftlichen Moralbildung ist das nicht ganz unwichtig, härtet doch hier bereits die gesellschaftliche Stimmung aus: Gegner des Zolls sind Staatsfeinde. Im Zuge der Zollpolitikreform unter Führung von Graf von Posadowsky dynamisiert diese Mentalität zwanzig Jahre später wieder das gesellschaftliche Kräfteparallelogramm.

Was ist besser, Freihandel oder Protektionismus? So einfach ist das nicht, erklärt am 10. Dezember 1891 (3302) Kanzler Leo von Caprivi dem Reichstag und gibt eine kurze Einführung zur Lage des deutschen Aussenhandels: Der Import von Waren beträgt 4 000 Millionen Mark und der Export 3 000 Millionen Mark. Das Exportdefizit von 1000 Millionen Mark setzt er in seiner Rechnung auf 800 Millionen Mark fest und rechnet mit diesem Betrag weiter. Zum Teil werden mit den Importen unentbehrliche Nahrungsmittel eingekauft. Beispielsweise mußte, um den Bedarf der Bevölkerung an Schweineschmalz zu decken, 1897 ein Sechstel, 1898 dann etwas mehr als einen Fünftel aus dem Ausland eingeführt werden (Posa RT, 12.12.1906).

Dies bringt uns, fährt der Reichskanzler fort, mit der Handelsbilanz in Verlegenheit, denn es kommt zum Vorschein:

"Wir sind auf Dauer nicht im Stande, das zu bezahlen, was wir brauchen, um zu leben und um unsere Industrie in schwunghaftem Betrieb zu halten."

Deshalb erscheint es sehr zweifelhaft, ob wir auf den eingeschlagenen Weg fortfahren können.

Doch es besteht die Hoffnung durch "die Steigerung der deutschen Fabrikation", "erfolgreich die Einfuhr fremder abzuhalten". Dies erfordert die Warenausfuhr unbedingt zu steigern. Wir werden ohnehin "einen großen Teil unserer Fabrikate ausführen" müssen, versteift diese Erkenntnis Posadowsky am 9. Februar 1900 im Reichstag (295), "wenn wir überhaupt unsere Industrie auf der gegenwärtigen Höhe halten wollen", um den "erheblich steigenden einheimischen Konsums" zu gewährleisten. Nur der wirtschaftspolitische Weg war doch ein ganz anderer als ihn seinerzeit Caprivi eingeschlagen, der durch starke Senkung der deutschen Einfuhrzölle auf Getreide die Ausfuhr aus Belgien (1891), Serbien, Rumanien, Schweiz (1892/93) und Rußland (1893(94) nach Deutschland erleichterte. Das lag im Interesse der Industriekapitalisten, senkte es doch die Wertsubstanz der Arbeitskraft und verbesserte die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Es stieß natürlich auf Ablehnung und Protest bei den Agrariern. Als 1899 der Umschwung in der agrarischen Handelspolitik überdeutlich (siehe Posa, RT 13.12.1899), lästerte am 14. Dezember 1899 der Vorwärts (Berlin), nun muss noch die chinesische Mauer gebaut werden, wo die Agrarier auf Kosten des Volkes ungestört den Brotwucher treiben können.

 

Der Handelspolitiker  zurück

Im Sommer 1897 übernimmt Graf von Posadowsky das Reichsamt des Innern. Die Krisen des Kapitalismus brachten den Niedergang des Manchestertums, zerstörtem den Glauben an den Freihandel und die Segnungen der freien Konkurrenz. An die Stelle trat das Monopol nach innen, der Schutzzoll und der feste Unternehmerverband nach außen. (Kautsky 1900, 492) Dies kennzeichnet die neue Epoche der Wirtschaft und sie prägt seine Tätigkeit. Sofort beginnen die Vorbereitungen für eine umfassende Revision der Aufschläge im Außenhandel. Eine Phase, die am 25. Dezember 1902, begleitet von harten politischen Abwehrkämpfen, mit der Verabschiedung des Zolltarifs zum Zolltarifgesetz endet.

Selbst etwas überrascht, teilte leicht verdattert die Berliner Zeitung am 3. Juli 1897 mit: Es war Posadowsky, "der zum allgemeinen Staunen vom Tisch des Bundesrates herab die Politik der Handelsverträge als revisionsbedürftig hinstellte...." Ihre Wirksamkeit steht schon etwas länger in Frage, da sie zum Teil vom 26. Januar 1892 stammen. Nach seiner Einschätzung sind sie in der vorliegenden Form zur Führung der bevorstehenden handelspolitischen Verhandlungen als taktisches Instrument ungeeignet. Dieser Einsicht bemächtigte sich der neue Staatssekretär erstmals im Verlauf der Beratungen zum Import eines überseeischen Gerbstoffs, im Kontext der Revision des autonomen Quebrachozolls. (Vgl. Schiele 1897, 332 ff.). Gelöst werden konnte das Problem nicht. Man mußte warten bis die Handelsverträge 1904 auslaufen.

[Protektionismus und Freihandel zurück] Großen Raum in der Tätigkeit als Staatssekretär des Innern nimmt die politische Ausrichtung des Außenhandels ein. "Ich glaube die Verhältnisse haben", ist seine Überzeugung, "sich außerordentlich verändert." Die deutsche Handelsbilanz weist für Rohstoffe jährlich etwa 1 900 Millionen Mark aus, wovon ein großer Teil im Veredlungsverkehr besteht. Die Lage des Kaufmanns wird eine immer schwierigere sein. Russland, Amerika und Frankreich tendieren, beobachtet er, zu einer protektionistischen Handelspolitik. Verfährt Deutschland ebenso, wäre schließlich "ein Krieg Aller gegen Alle" die Folge. (Posa RT 6.12.1897, 58), Posadowsky will verhindern, dass die europäischen Staaten sich voreinander abschließen.

Es ist interessant wie er sein Wissen reflektiert und methodisch als Verfahrensweise nutzt. Eine Interessengruppe die durch Massregeln eines anderen Staates geschädigt ist, möchte sofort, dass man à tout prix einen Zollkrieg anfinge. Es kommt also sehr darauf an, sagt er 1899 im Reichstag, mit welchem Teil des deutschen Volkes und mit welchen Interessierten man verhandelt. Welche Gebiete unserer Industrie sind geschädigt und kann die Industrie eventuell den Schaden tragen? Ist vorübergehend oder ist er von Dauer? "Daß ist die Grundlage, von der aus die Regierung die handelspolitischen Fragen betrachten muss." (Posa RT 17.6.1899, 177)

[Zolltarifgesetz und Zolltarif  zurück] Von Öffentlichkeit werden bereits die ersten Schritte und Initiativen, die der neue Staatssekretär zur Reform des Zolltarifgesetzes und Zolltarifs unternimmt, aufmerksam verfolgt. "Auf allen Seiten des Reichstages hatte man die Empfindung," lässt sich am 3. Juli 1897 die Berliner Zeitung darüber aus, "daß mit diesem Vorstoße sich eine Art von Umkehr ankündigte, eine Umkehr von der freieren Anschauung in wirtschaftspolitischer Hinsicht, wie sie in der Handelsvertragspolitik siegreich gewesen waren, zu der "unentwegten" Rechtgläubigkeit der nackten junkerlichen Agrarwirtschaft.

Dagegen melden "Die Grenzboten" aus Leipzig Widerspruch an:

"Die ganze Einseitigkeit und Oberflächlichkeit womit in einem großen Teil der Presse die Fragen des öffentlichen Lebens behandelt werden, hat sich wieder einmal bei der Beurteilung der Äußerungen gezeigt die

Staatssekretär des Reichsschatzamtes
Graf von Posadowsky

bei der Beratung des Quebrachozolls über die Revision des autonomen Zolltarifs, über die gegenwärtig geschaffene Lage und über die Zollabänderungen gethan hat, die wir nach Ablauf und Neuabschluss der Handelsverträge vorzunehmen in der Lage sein werden."

Zunächst konstruierte sie daraus einen Gegensatz zwischen Reichsschatzamt und Auswärtigen Amt. Außerdem wollte man darin ein

"verheißungsvolles Eingehen
auf die einseitigen agrarischen Forderungen
der Konservativen erblicken".

Möglicherweise, räumt der Kommentar des "Grenzboten" ein, gibt es einige Unterschiede zwischen Posadowsky und Freiherren von Marschall. Doch es zeugt von einem großen Mangel an Reife der rechten und linken Parteien, dass die Tarife wie die Verträge vom ersten Augenblick an auf das erbitterste bekämpft werden. Man konnte aber aus den Worten des Staatssekretärs keine "Bekehrung der Reichsregierung zur wirtschaftlichen Weltanschauung der Agrarier schließen".

Indem man die Anschauungen des Staatssekretärs des Innern derart vergewaltigt, protestiert Georg Schiele in "Zoll- und handelspolitische Aussichten" (1897, 332 ff.), könnte damit in leichtsinnigerweise und zu Unrecht das internationale Vertrauen in die Vertragstreue der Staatsregierung erschüttert werden. Posadowsky sprach sich in der kritisierten Stellungnahme für autonome Handelstarife aus, die nach einer gründlichen Durchsicht, Ergänzungen und Verbesserungen erfahren sollen. Die Parteien sollten sich nun endlich beruhigen und gemeinsam (!) mit dem Reichsschatzamt eine brauchbare Grundlage für einen verbesserten und den wirtschaftlichen Verhältnissen angepaßten Zolltarif schaffen.

[Handelstag 1901  zurück] "Anknüpfend an seine Erklärung vom 14. März 1898 spricht der Deutsche Handelstag [1901] die Überzeugung aus, dass zur Erhaltung und Förderung des Volkswohlstandes, der wirtschaftlichen wie politischen Machtstellung des Deutschen Reiches, insbesondere auch zur lohnenden Beschäftigung seiner stark wachsenden Bevölkerung, die Fürsorge für die Ausfuhr deutscher Erzeugnisse durch

Beibehaltung und weitere Anwendung der bisherigen Politik der langfristigen Handelsverträge bethätigt werden muß.

Als wesentlicher Inhalt der Handelsverträge ist die Herabsetzung und Bildung der Zollsätze und Gewährung der Meistbegünstigung zu betrachten." "Die Einführung der sogenannten Doppeltarife, Maximal- und Minimaltarif, ist als schwere Gefährdung des Abschlusses günstiger Handelsverträge entschieden abzulehnen."

Zum Pessimismus besteht kein Grund, glänzt der Staatssekretär des Reichsamtes des Innern am 8. Januar 1901 in seiner Eröffnungsrede auf dem Deutschen Handelstag die Probleme weg. Der Fortschritt der Technik verbürgt die bessere Naturbeherrschung und die Internationalisierung (Globalisierung) der Wirtschaft erhöht die Effektivität der Wirtschaft. Als Mittel zur Expansion des Außenhandels nennt Posadowsky auf dem Handelstag nicht Schutzgebiete, Kartelle oder Flottenrüstung, sondern vertraut auf die "Hilfe des deutschen Erfindergeistes". Zuhause erfordert dies den wirtschaftlichen Interessenausgleich zwischen Kapital und Arbeit. Die Botschaft des Staatssekretärs wird gut angenommen.

Allerdings erwartet der Handelstag, dass er vom Reichstag rechtzeitig in die Beratung zum Entwurf der Zolltarife einbezogen wird. Einspruch erhebt er gegen die hohen Lebensmittelzölle, weil dadurch die Kaufkraft der Konsumenten für industrielle Erzeugnisse geschwächt wird. Minderbemittelte Bevölkerungskreise bedrohen die erhöhten Preise in ihrer wirtschaftlichen Existenz. In der Sache, eine schwere Kritik. Die Presse rätselte, ob es Posadowsky deshalb vorzog, die Tagung kurz nach dem Ende seines Referats zu verlassen.

[Abschluß der Verhandlungen  zurück] Anfang des Jahres 1901 begann es richtig, als Posadowsky und Genossen sich schlechterdings nicht dabei beruhigen konnten, dass irgendein Produkt ohne erhöhten Zollschutz blieb, da brach die Zollwut aus . "So haben sie die Zölle da gesteigert, wo sie ausdrücklich erklären mussten, dass aus den Kreisen der Interessenten keine Anträge gekommen sein." An die Stelle eines Generaltarifs sollen ein Minimal- und Maximaltarif treten. Zur Vorbereitung stellte das Reichsamt des Inneren detaillierte Produktionsstatistiken auf, was sich als "außerordentlich nützlich erwiesen", blickt im Juni 1899 Posadowsky darauf mit Stolt zurück. Aber der neue Zolltarif selbst, der wird im Reichsschatzamt festgelegt.

[Bauernfasching  zurück] Wer Lust verspürte, konnte am 11. Februar 1902 virtuell in Gesellschaft mit Minimal- und Maximalatrif beim "Wahren Jacob" abtanzen. Aus Anlass der Verhandlungen zum Zolltarifgesetz und Zolltarif im Reichstag spielt hier zum Bauernfasching Graf Posadowsky mit Band auf.

 

 

Bauernfasching

Der Wahre Jacob. Nummer 406. Stuttgart, den 11. Februar 1902, Titelseite, Ausschnitt

 

Kommentar. Arthur Graf von Posadowsky-Wehner, der fünfte von links, spielt zum Tanz mit Band, begleitet am Bass von Staatssekretär des Reichsmarineamtes Alfred von Tirpitz (ganz links) und seinem Nachfolger im Reichsschatzamt am 1. Juli 1897 Max von Thielmann.

August Bebel, SPD, - auf der Bühne fünfter von rechts - begleicht "alte Rechnungen" und drischt auf Georg Ernst Julius Oertel (1856-1916) von der Deutschkonservativen Partei ein. Unter der Maxime "Er soll und muss herunter" (VS 13.2.1906) mobilisiert der Chefredakteur der "Deutschen Tageszeitung" bereits 1906 gegen Posadowsky.

Paul Singer (SPD) maltretiert rechts oben auf der Bühne den politischen Gegner mit dem Bierkrug.

Links neben August Bebel Eugen Richter (Freisinnige Volkspartei) in Ekstase.

 

 

 

Am linken Rand der Seite mit dem Rücken zur Tanzfläche sitzt Georg Freiherr von Rheinbaben (1855-1921), 1899 preußischer Innenminister, ab 1901 preußischer Finanzminister. Rechts neben ihm spielt Karl von Thielen (1832-1906), seit 1891 Minister der öffentlichen Arbeiten, die Geige. Eugen Georg Freiherr von Hammerstein-Loxten (1827-1914), von 1894 bis 1901 preußischer Landwirtschaftsminister, bläßt die Trompete. Im Vordergrund tanzt Victor von Podbielski (1844-1916) mit dem Maximaltarif und dahinter der preußische Handelsminister Theodor Adolf Möller (1840-1925) mit dem Minimaltarif.

Nur diejenigen Staaten die sich auf Vertragsverhandlungen einlassen, sollen den Minimaltarif erhalten; die anderen nicht. Der Deutsche Handelstag sieht laut Beschluß vom Januar 1901 in der Einführung des Doppeltarifs, eine "schwere Gefährdung des Abschlusses günstiger Handelsverträge", weshalb er abzulehnen ist. Dabei sollte es nicht bleiben. Am 3. Januar 1901 rmeldet die Presse den Kurswechsel: Der Wirtschaftsausschuß des Centralverbandes deutscher Industrieller (CdI) stimmt jetzt für den Doppeltarif.

Graf von Posadowsky und Johannes von Miquel befürworten den Doppeltarif. Schatzsekretar Max von Thielmann (1846-1929) bevorzugt den Einheitstarif, weil seiner Ansicht nach das Handelssystem durch den Doppeltarif gefährdet wird und suchte deshalb Unterstützung bei Reichskanzler Bülow. (Mitteilung 16. März 1901)

Wiederholt prophezeite die Opposition im Reichstag, dass aus dieser Zollpolitik ernste Folgen für das gesamte deutsche Wirtschaftsleben entstehen. Deshalb ist jetzt nicht zu erwarten, dass sie sich in die freudige Stimmung beim Bauernfasching einklinkt. So gesehen, ist der Cartoon Buernfasching etwas positiv überzeichnet.

 

 

Befürworter und Gegner der Zollgesetzgebung trugen mit einer bisher nur selten erlebten Härte ihre politischem Kämpfe aus. Umstritten war nicht nur die Frage des Einheits- oder Doppeltarif. Grundlegende Fragen der wirtschafts- und Staatsentwicklung standen zur Disposition. Zum Beispiel soll die Exportwirtschaft über alle Maßen begünstigt werden? Oder muss die binnenwirtschaftliche Entwicklung im gleichen Takt gefördert werden? Ist der Schutzzoll nur ein Notbehelf oder eine Dauereinrichtung?

Das Schutzzollsystem dient nicht schlechthin protektionistischen Zwecken, also der Zurückdrängung der internationalen Konkurrenz, sondern mehr und mehr fiskalischen Aufgaben. Es beeinflußt die Produktions- und Zirkulationssphäre, den Kartelellierungs- und Syndizierungsprozess in der (Groß-) Wirtschaft, unterstützt den Übergang zur monopolistischen Konkurrenz.

Im Ergebnis eines komplizierten und langwierigen Gesetzgebungsverfahrens beschließt - nach einer fast neunzehnstündigen ununterbrochenen Sitzung - der Reichstag in der Nacht vom 13. auf den 14. Dezember 1902 das Zolltarifgesetz und den Zolltarif.

[Der Segen für die Landarbeiter   zurück] Nach Abschluß der Verhandlungen im Reichstag, reibt die Opposition sich vorzugsweise am Schuldigen,

dem Vater des Zolltarifs, Graf Posadowsky.

Der erklärt am 12. Dezember 1901 im Reichstag aus Anlass der ersten Beratung des Zolltarifgesetzes noch einmal geduldig die Notwendigkeit und den Erfolg dieser Strategie: Seit 1879, als die Bismarck`schen Schutzzölle eingeführt wurden, ist der Verbrauch von Baumwollgarn um mehr als Doppelte gestiegen. Im noch viel höherem Maße profitierte die Eisenindustrie von dieser Politik. 1879 betrug die Roheisenproduktion Englands das Dreifache der deutschen, die jetzt, 1901, fast die Höhe der englischen erreicht hat. "Der Roheisenzoll ist in Zeiten industrieller Krisen eine Notwendigkeit, um eine Überschwemmung des deutschen Marktes mit Roheisen zu verhindern."

 

Der unvorsichtige Lokomotivführer (Originaltext)

 

 

Die Deutschland-Lokomotive prallt auf die Proteste gegen Getreidezölle

Der unvorsichtige Lokomotivführer. "Der Wahre Jacob. Nummer 384. Stuttgart, den 9. April 1901, Titelblatt, Ausschnitt

 

Die quantitative Betrachtung zur Steigerung der Produktion erfaßt nicht die sozialen Ausdifferenzierungs- prozesse in der Gesellschaft nach Klassen und Schichten und die hierdurch bedingten Veränderungen der Arbeits- und Lebensbedingungen. Zweifellos steigerten die Zölle die Grundrente, die im Wesentlichen wieder, entweder durch Aufnahme einer Hypothek oder durch Verkauf des Guts zu einem höheren Preis, kapitalisiert wurden. Während die Besitzer sich an der Kapitalrente laben konnten, mussten die Landarbeiter, die jetzt, statt höhere Löhne zu bekommen, für die Verzinsung des erhöhten Kapitals Sorge tragen. Das war, blickte am 20. Januar 1914 der SPD-Reichstagsabgeordnete Hermann Krätzig (1871-1954) zurück, "der Segen des Zolltarifs für die Landarbeiter".

Vom Standpunkt der Agrarier bietet sich noch eine andere Möglichkeit an: Man importiert gemäß den Reproduktionsbedürfnissen aus China billige Arbeitskräfte. "Die Großgrundbesitzer", berichtet Abgeordneter Arthur Stadthagen am 12. Februar 1906 (1196) im Reichstag, "haben ja schon diesbezüglich Unterhandlungen angeknüpft."

[An das arbeitende Volk Deutschlands!  zurück] Die Malaise veranschaulicht am 19. Dezember 1902 die SPD in der großangelegten Erklärung

"An das arbeitende Volk Deutschlands!"

Diese Politik bedeutet "eine der schwersten Schädigungen für die Lebenshaltung und die wirtschaftliche Entwicklung der ungeheuren Mehrheit des deutschen Volkes, insbesondere der arbeitenden Klassen". Dafür konnte sie einige Gründe nennen. Infolge der Zollgesetzgebung müssen die Lohnabhängigen immer höhere Lebensmittelpreise tragen. Nicht nur sie, natürlich! Aber ihr Arbeitslohn richtet sich im Unterschied zu anderen Einkommen, nicht direkt an den Lebensmittelpreisen aus, sondern bildet lediglich die Nachfrage von Arbeitskräften ab. Den Arbeiter und Arbeiterinnen blieb nur, lästerten damals die Sozialdemokraten, das teuerste Brot der Welt zu essen. Fleisch, noch immer für die meisten Familien ein Luxusgut, verteuerte sich.

 

 

Im Durchschnitt aller Monate kommen auf je 100 offene Stellen Arbeitssuchende:

 

1899
1902
1905
1906
104,7
174,8
118,5
109,2



Quelle: Das Wirtschaftsjahr 1906. .... Hamburg, den 5. Januar 1907

 

 

Es kam nicht so schlimm wie erwartet.

Unter Nutzung von Daten der Ortskrankenkasse Dresden mit seinen 118 000 Mitgliedern analysiert 1911 Karl Kautsky die Lohn-Preis-Spirale. 1899 beträgt der Durchschnittslohn für alle männlichen Versicherten 3,10 Mark. Zehn Jahre später 3,67 Mark, was einer Steigerung von 18,7 Prozent entspricht. Von 1899 bis 1909 erhöhte sich der Preis für Fleisch um 16,2 Prozent, für Magermilch um 16,6, Margarine um 20, Fische um 19,7 und Weizenmehl, Grieß um 28,1, für Brot um 15 bis 18 und Steinkohle um 13,8 Prozent. Während die Löhne in England im selben Zeitraum um 6,1 Prozent anstiegen, wuchsen sie in Deutschland um 18 Prozent, allerdings bei gleichzeitiger Erhöhung der Lebensmittelpreise um 11 Prozent.

Für alle weiblichen Versicherten erhöhten sich im Zeitraum von 1899 bis 1909 die Löhne um 16 Prozent, also von 1,81 auf 2,11 Mark. Ihre Zahl vergößerte sich in diesem Zeitraum um 16.949 Personen. Das, kommentiert Karl Kautskay (1911), ".... deutet bereits auf einen bedenklichen Rückgang des Wohlbefindens der Arbeiterklasse hin. Es ist ein Symptom dieses Rückgangs, denn der Arbeiter, dessen Lohn ausreicht, schickt nicht Weib und Kind in die Fabrik". "Die Kinder bleiben mehr sich selber überlassen, die Kleider können nicht mehr so im Stande gehalten werden."

Bei der Bewertung des Anstiegs der Löhne ist zu berücksichtigen, dass Sachsen zusammen mit dem Ruhrgebiet das führende Industrieland Deutschlands war und ein im Vergleich zu den übrigen Gegenden Deutschlands hohen Anteil tarifierter Lohnempfänger aufweist. Außerdem bestehen zwischen Stadt und Land große Unterschiede beim durchschnittlichen Arbeitseinkommen. "Die Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Landarbeiter sind meist ebenso skandalös wie ihre Rechtsverhältnisse. Furchtbar lang ist die Arbeitszeit, und sehr karg ist der Lohn." Weiter berichtet an diesem Tag, den 20. Januar 1914, SPD-Abgeordneter Hermann Krätzig (1871-1954) vor dem Reichstag:

"Ich habe hier den Arbeitsvertrag des Ritterguts Klein-Gestewitz bei Naumburg; er ist geschlossen im Jahre 1910. Darin heißt es: Die Arbeitszeit währt im Sommerhalbjahr von früh 3 bis abends 8 Uhr, (hört! hört! bei den Sozialdemokraten) im Winter von früh 4 bis abends 7 Uhr."

 

 

Ich stehe zwischen zwei Welten.  zurück

Praktisch machte Posadowsky 1902, den vor zehn Jahren gegen den Widerstand der Junker erfolgten Abbau der Getreidezölle wieder rückgänging, was die Lebensmittelpreise verteuerte und Proteste im Volk aufbranden ließ.


"Was er der arbeitenden Klasse gewährt."

Bildunterschrift links.



"Was er den oberen Zehntausend
gewährt."

Bildunterschrift rechts.

 


Der Januskopf des modernen Staates.
"Der Wahre Jacob". Nummer  581. Stuttgart, den 27. Februar 1901, Seite 3444

 

Im Fall des Zolltarifs sind die Maßregeln so tief- und durchgreifend, daß sie ohne direkte Stellungnahme des Volkes nicht hätten beschlossen werden dürfen, stellt erzürnt die SPD am 19. Dezember 1902 in "An das arbeitende Volk Deutschlands!" fest. Neuwahlen wären das richtige Mittel der Wahl gewesen. "Aber aus Furcht vor dem drohenden Volksurteil sind die Regierungen und die Reichstagsmehrheit dieser selbstverständlichen Forderung ausgewichen."

Posadowsky verteidigt immer wieder die Notwendigkeit und den Erfolg der Zollpolitik. Die Industrie- und Agrarzölle dienen dazu, erklärt er der Öffentlichkeit, "dem deutschen Arbeiter vermehrte Arbeitsgelegenheit zu geben", unterschlägt aber die Teuerungsraten und sinkenden Reallöhne verschiedener Beschäftigungsgruppen und verschleiert damit den

"Januskopf des modernen Staates".

Kann man, lautet eine psychologische Grundfrage der Zeit, in einem Zustand der Schizophrenie leben und dabei seinen täglichen Geschäften nachkommen? Man kann, durchaus, wenn man die moralische Selbstfindung und politische Innenschau nach dem Muster wählt, was der Tonio Kröger von Thomas Mann (1903) im Schlusskapitel im Brief an Lisaweta Iwanowna konstruiert: "Ich stehe zwischen zwei Welten, bin in keiner daheim und habe es infolgedessen ein wenig schwer."

Gewerkschaftssekretär Martin Segitz (1853-1927), ehemaliger Redakteur der Fränkischen Tagespost, wartet am 12. April 1913 mit einem Therapievorschlag auf: "Der Domherr von Naumburg möge einmal mit dem früheren Staatssekretär Grafen v. Posadowsky eine gründliche Gewissensforschung vornehmen, er wird dann zu dem Bekenntnis des reumütigen Sünders kommen, mea culpa, mea maxima culpa."

 

 

Deutsch-amerikanischer Zollkrieg  zurück

Am 3. Mai 1897 informiert der Staatssekretär des Auswärtigen Adolf Marschall von Biberstein (1842-1912) den Reichstag, daß Deutschland aufgrund des protektionistischen Handelskurses der Vereinigten Staaten von Amerika, den Schriftwechsel vom August 1891 mit seiner Regierung zur Handelspolitik als hinfällig betrachtet. Jetzt steht die deutsche Regierung vor der Frage, ob die bisherigen Vergünstigungen für sie durch Anwendung niedriger Zollsätze aus dem Handel mit Österreich-Ungarn und anderen Staaten, weiter gewährt werden können. Außerdem erwägt die Reichsleitung 1897 die Kündigung der Meistbegünstigungsregel. Deutschland rechnet sich für seinen riesigen Export, 1896 3 ½ Milliarden Mark (RT 6.12.1897), die größten Chancen aus, wenn es ihn - zumindest in bestimmten Regionen - freihändlerisch realisieren kann. Die USA durchkreuzen diesen Plan. Mit den USA-Präsidenten-Wahlen am 3. November 1896 gelangt William McKinley (1843-1901) an die Macht und ordnet für die deutschen Schiffe umgehend die Tonnengebühr an.

 

 

Die amerikanische Invasion (Originaltitel)

Die amerikanische Invasion. Der Wahre Jacob.
Nummer 392. Stuttgart, den 30. Juli 1901,
Titelblatt, Ausschnitt (Original)

 

 

Eine damals oft geäußete Meinung lautete: "Und ich fürchte, wie uns die Amerikaner jetzt schon mit ihren Rohprodukten schlagen, werden sie uns bald auch mit ihren Industrieprodukten das Geld im unserem eigenen Land streitig machen. Amerika ist nun einmal, das von der Vorsehung bestimmte Land der Zukunft."

 

 

Seit dem 27. Juli 1897 ist der Dingley-Tarif, genannt nach dem republikanischen Mitglied des Repräsentantenhauses und ehemaligen Gouverneur von Maine Nelson Jr. Dingley (1832-1899), in Kraft, was zu einer spürbaren Erhöhung der Zölle führte. Er stellt "was die Höhe der Zollsätze betrifft, seine Vorgänger noch weit in den Schatten". Im Wettbewerb um eine gute Handelsbilanz geht Deutschland 1899 mit einem Minus von 85,4 Millionen Dollar, was 363 Millionen Mark entspricht, klar als Verlierer vom Platz. Außerdem befürchtet das Handelskapital, dass sich die überseeischen Märkte von den handelspolitischen Beziehungen mit Deutschland loslösen.

Über die Unterbilanz ärgert sich besonders das konservative Lager. Reichstagsabgeordneter G r a f  H a n s  v o n K a n i t z (1841-1913) - Wahlkreis Ragnit, Pillkallen - von der Deutschkonservativen Partei. Zusammen mit einigen Parlamentskollegen fragt in der Interpellation Nummer 117 vom 6. Februar 1899 (1007 f.):

"Ist der Herr Reichskanzler bereit, über den Stand der Verhandlungen zur Regelung handelspolitischen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und den Vereinigten Staaten von Nordamerika Auskunft zu geben?"

"Nicht bloß in Deutschland,

sondern in den europäischen Ländern

verfolgt man mit wachsender Aufmerksamkeit die rasch fortschreitenden Verschiebungen im Warenverkehr mit Amerika," wirft Kanitz ein, "die Zunahme der amerikanischen Warenimporte bei rückgängigen oder stillstehenden Exporten von Europa nach Amerika." (RT 11.2.1899, 783f) Wenn diese Entwicklung nicht unterbrochen wird, werden die Vereingten Staaten in kurzer Zeit ein bedenkliches Übergewicht über die "alten Kulturländer Europas" erlangen.

Das ist alles nicht so schlimm, redet G r a f  v o n  P o s a d o w s k y an diesem Tag erstmal die Schwierigkeiten herunter. Ein riskantes Manöver, denn einige Reichstagsabgeordnete, eben Graf von Kanitz, oder Dr. Roesicke, äußern bereits Zweifel, ob er dem Ausland auf handelspolitischem Gebiet mit dem erforderlichen Nachdruck entgegentritt.

Posadowsky seziert am 11. Februar 1899 die Lage und versucht die Einwände und Zweifel zu zerstreuen. Die Bevölkerung der USA nimmt stark zu. Auf industriellem Gebiet expandiert das Land. Man darf also die Problemem nicht allein auf die Zollgesetzgebung zurückführen. Allerdings stieg der Außenhandelsüberschuß der Vereinigten Staaten von Amerika von 1895 bis 1898 um 2600 Prozent. Dennoch ist Deutschland nächst England für die Handelsbeziehungen mit Amerika das wichtigste Land. (Posa RT 11.2.1899, 802) Natürlich ist die Lage ernster als sie in diesem Auftritt zum Ausdruck kommt. Denn im Gegensatz zu den Industrieländern Europas erwirtschaftet die USA eine aktive Handelsbilanz (1899/1900 Einfuhr / Ausfuhr: 849,7 / 1394 Millionen Dollar. Vgl. Cunow 1900). Aber eine lange Reihe von Zollsätzen nach dem Maßstab ihres Tarifs würden die Amerikaner als Herausforderung aufnehmen.

Worauf die leidenschaftlich geführte amerikanisch-protektionistische Außenhandelspolitik abzielt, ist eindeutig: die Verdrängung der deutschen Waren vom amerikanischen Markt. Was sie w i r k l i c h  an Reaktionen hervorruft und an strategischen Überlegung in der Wirtschaft- und Handelselite provoziert, ist schwieriger zu überschauen. In der Reichstagsdebatte am 3. Mai 1897 äußern Abgeordnete Kritik an der amerikanischen Invasion. C o r n e l i u s  v o n H e y l  z u  H e r r n s h e i m  (1843-1923) von der Nationalliberalen Partei moniert am Verhalten der Amerikaner ihre moralische Unausgewogenheit. Die "amerikanischen Techniker" füllen "unser Universitäten und bringen deutsche Wissenschaft und deutsche Technik nach Amerika." Dafür "benehmen" sie sich "in rücksichtsloser Weise. Wir haben bedauerlicher Weise aus unserem Maximaltarif einen Minimaltarif gemacht und damit eine wichtige Waffe aus der Hand gegeben. Wir lassen uns vom Ausland viel zu häufig schikanieren."

 

"Zwischen Scylla und Charybdis"

(Originalbildüberschrift)

 

 

Die Europäer sind von der Schlange (Amerika), dem Löwen (Britanica), dem Bären (Russen) und einem gefährlichen Reptil (dem Anarchismus) umzingelt.

Die Originalbildunterschrift lautet: "Ein Häuflein europäisches Unglück."

Zwischen Scylla und Charybdis. "Der Wahre Jacob". Nr. 328, Stuttgart, den 14.Februar 1899, Seite 2930

Reichstagsabgeordneter E u g e n  R i c h t e r  von der Freisinnigen Volkspartei warnt, die Marshall-Erklärung und sie begleitende Debatte im Reichstag könnte den "nationalen Chauvinismus" wecken. Beim Abgeordneten  H e y l  sieht er ein Überwuchern der agrarischen Interessen. Trotz schwerer Folgeprobleme der Hochschutzzollpolitik, empfiehlt er, Deutschland soll an der Meistbegünstigung festhalten.

Der Staatsminister, Staatssekretär des Innern und Bevollmächtigter im Bundesrat G r a f  v o n P o s a d o w s k y  erklärt am

14. Dezember 1899 (3387f.)
im Reichstag,

er empfindet es als schmerzlich, dass das handelspolitische Verhältnis zu Amerika bisher noch nicht geregelt werden konnte. Und weiter: "Wir haben sehen müssen, dass, während Amerika fortwährend unsern ganzen Konventionaltarif eingeräumt erhält, diese Land seinerseits seine Zölle in einer Weise erhöht hat, die zum Theil einen prohibitiven Charakter annimmt, und diese Zollerhöhung durchführt in einer Weise, welche für die deutsche Industrie außerordentlich lästig ist (Sehr wahr. rechts)." Dieses gewaltige Land versucht immer mehr sich gegen die europäischen Staaten abzuschließen.

"Auf der anderen Seite hat uns England den Vertrag kündigt, durch den ausgeschlossen war, dass das englische Mutterland Vorzugszölle in den einzelnen Kolonien gegenüber den deutschen Bundesländern einführen konnte. .... Daß aber in England die Neigung besteht, auf diesem Wege fortzufahren und uns so zu Gunsten englischer Fabrikate mit der Ausfuhr unserer Fabrikate zu differenzieren und so vielleicht von dem ganzen Markte des englischen Weltreichs, das ist ebens so unzweifelshaft.

Stellen sie sich also, bitte, vor: wenn Nordamerika, in seiner ungeheuren Ausdehnung und mit dem Einfluß, den es auch auf andere amerikanische Staaten übt, und wenn ferner das englische Weltreich versucht, uns in diese Weise mit unserer Produktion von dem Weltmarkt auszuschließen:

ein wie verhältnismäßig kleiner Theil der zivilisirten und halbzivilisirten Welt bleibt uns dann noch übrig für die Ausfuhr unserer Fabrikate! (Sehr richtig! rechts)

Daß unter diesen Verhältnissen der Wunsch bei uns rege ist, daß wir wenigstens auf dem noch verbleibenden Theile des Erdballs eventuell mit gleichen Machtmitteln auftreten, wie England, wie Amerika, dass wir auch mit gleicher Autorität auftreten können, wie unsere handelspolitischen Konkurrenten - das ist, glaube ich, gerechtfertigt, und hierin liegt auch die eigentliche innere Ursache, weshalb im deutschen Volke

in so weiten Kreisen sich plötzlich das Verständnis für die weitere Verehrung unserer Flotte Bahn gebrochen hat." (Posa RT 14.12.1899, 3387 / 3388)

P o s a d o w s k y  hält nichts von der Anwendung eines autonomen oder konventionalen Tarifs (RT 22.02.1906, 1512), weil damit nur die Industrieerzeugnisse erfaßt würden. Ebenso wendet er sich gegen ein schärferes Vorgehen, wie es Reichstagsabgeordneter Cornelius von Heyl zu Herrnsheim (1843-1923) vorgeschlagen hat. Der artikulierte "das eine allzugroße Nachgiebigkeit gegenüber Amerika, einseitige Zugeständnisse nicht die Wirkung haben würden, den deutsche Exporte zu fördern ...." (RT 11.2.1899, 796)

Sieben Jahre später, am 22. Februar 1906, gibt F r e i h e r r  H e y l  z u  H e r r n s h e i m  vor dem Reichstag einen Überblick über den Handelsstreit: "Ich habe vorhin schon angeführt, daß die zollpflichtigen amerikanischen Rohwaren, die Massenartikel, die wir weiterhin beziehen, früher mit 27 Prozent ihres Wertes belastet waren, jetzt aber mit 40 Prozent verzollt werden sollen. Diese Erhöhung ist für Amerika ja tatsächlich eine fühlbare Wirkung unseres neuen Zolltarifs, und ich habe vorhin schon erwähnt, daß die dabei beteiligten landwirtschaftliche Interessenten infolgedessen in dieser Frage auch beruhigter sein können als die Industrie, indem die amerikanischen Fabrikate von 27 Prozent der seitherigen Belastung nun auf 28 Prozent in die Höhe gebracht sind. Tatsächlich wird der Zollbetrag, den Amerika für die Fabrikate, die es bei uns einführt, zu zahlen hat gegenüber dem früheren Handelstarif nur um 3 Millionen erhöht. Amerika zahlt in Zukunft für seine Fabrikate 78 Millionen Mark Zoll, während es bisher 75 Millionen gezahlt hat."

Auf der Tagesordnung des Reichstages steht am 22. Februar 1906 (1495) die Erste und zweite Beratung zum Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Handelsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Reichskanzler B e r n h a r d  v o n B ü l o w legt sich fest:

"Ich kann die Annahme des Antrags nur empfehlen." Die deutsche Volkswirtschaft und die Landwirtschaft, hat ihren entsprechenden Schutz erhalten.

Durch die Bewilligung, versuchen wir uns im guten zu verständigen. (Er will also keinen Handelskrieg.) Bei Abschluß bis zum 1. März 1906 ergäbe sich die Möglichkeit dem Partner, die Sätze unserer Handelsverträge bis zum 30. Juni 1907 zu gewähren. Betont aber, dass sich der Abschluß eines deutsch-amerikanischen Handelsvertrages bis zu diesem Tag als unmöglich herausgestellt hat. "Es handelt sich also um einen Akt der autonomen Gesetzgebung", womit der Unterschied zur Position von Posadowsky vom 22. Februar 1906 sichtbar, "und dadurch wird zugleich zum Ausdruck gebracht, daß die Vereinigten Staaten bei uns ein Recht auf Meistbegünstigung haben." (Ebenda 1494)

Der US-Senat lehnt 1906 die Zollerleichterung für Deutschland ab. (vgl. Heyl 1906 1509 ff.) - Wir räumen, sagt der Reichskanzler, Zollermäßigungen ein, zu denen wir nicht verpflichtet sind. In einem Atemzug damit beteuert er, "keine politische Freundschaft mit einer Benachteiligung unserer Wirtschaft" erkaufen zu wollen. Als Endtermin bis zu welchen Tag die Vereinigten Staaten die Zollsätze unseres Konventionaltarifs statt der Sätze unseres Generaltarifs gewährt werden dürfen, schlägt er den 30. Juni 1907 vor (vgl. RT 1494).

Noch immer handelt es sich,

klagt P o s a d o w s k y  am 21. Mai 1906 (RT 3374),

bei den Handelsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika

um eine ganz einseitige Konzession Deutschlands.

Von der gesetzgebenden Körperschaft des Reiches erhielten sie lediglich die Vollmacht, diesen für die Dauer von 17 Monaten ein Konventionaltarif einzuräumen. "Es handelt sich also nicht um eine definitive Maßregel, sondern nur um eine rein provisorische, die in der Hoffnung getroffen ist, daß es in dem gegebenen Zeitraum möglich sein würde, zu einem Abkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika zu gelangen, welches den berechtigten Wünschen Deutschlands einigermaßen Rechnung trägt."

[Zusammenschluss europäischer Staaten  zurück] Die amerikanische Invasion rollt mit der Hochschutzzollpolitik und dem Dingley-Tarif an. Im Resultat entsteht ein Überschuß mit Deutschland. Weil er schwere volkswirtschaftliche Widrigkeiten und Gefahren für Deutschlands Sozialsystem fürchtet, geißelt, wie nicht anders zu erwarten, P o s a d o w s k y (RT 6.12.1897, 58) diese ambitionierte protektionistische Außenhandelspolitik. Bloß die letzten Konsequenzen spricht er in diesen Tagen nicht aus: Deutschlands Aufstieg zur Industrienation und die Verteidigung der Arbeiterschutz - und Sozialgesetzgebung verlangt die Sicherung der staatlichen Souveränität (Staatshoheit). Zunächst könnte das durch a) Gründung einer Europäischen Zollunion oder b) einen direkten Zusammenschluss der europäischen Staaten erreicht werden. Die politischen Folgen für Europa zu durchdenken, überlässt der Staatssekretär des Inneren zum Beispiel F r i e d r i c h  H a m m a c h e r  (1804-1904) von der Nationalliberalen Partei (NLP). Der Reichstagsabgeordnete für den Wahlkreis Duisburg, Mühlheim an der Ruhr und Oberhausen gibt am 9. Dezember 1897 (RT 96) zu Protokoll:

"… ich bin überzeugt, daß ein
Zusammenschluss sämtliche
europäischer Kontinentalstaaten

nothwendig ist, um in dem Kampfe ums wirtschaftliche Dasein, den die Völker im nächsten Jahrhundert führen werden, erfolgreich in dem Wettbewerbe

gegen Amerika und Great Britain
auch unsere Interessen wahrnehmen zu können.

Aber Deutschland fällt dabei eine wesentliche Aufgabe zu als demjenigen kontinentalen Staate, der schon heute die stärksten Exportinteressen hat. Deutschlands Pflicht ist es deshalb, sich rechtzeitig mit den nöthigen Machtmitteln auszustatten, um bei der Lösung dieser Aufgabe mitwirken zu können."

 

 

Die Handelsverträge von 1905   zurück

Den sieben Handelsverträge - Rußland, Italien, Belgien, Ungarn, Rumänien, Schweiz, Serbien - wurde unter lauten Hallo der junkerlichen Treiber am 22. Februar 1905 durch den Deutschen Reichstag mit 226 / 79 beziehungsweise 228 / 81 Stimmen die Absolution erteilt (Heinrich Cunow). "Der heutige Tag", merkte Franz Mehring (SPD) an, "wird in der deutschen Geschichte einen historischen Markstein bilden."

Die Aushandlung der Verträge dauerte drei Jahre. Immerhin umfassen sie sieben Zusatz-Verträge, was einen komplizierten Regelungsbedarf für die Kündigung der Altverträge, aber auch für den Ratifizierungsprozess in den Ländern der Handelspartner nachsichzieht.

Die Vossische (Berlin) lobt am Tag nach der Abstimmung Posadowsky als

"die Hauptfigur in dem handelspolitischen Spiel" aus,

der "die gesamte Materie weit besser beherrschte als irgendein anderes Mitglied der Regierung". Das Ergebnis war das Produkt des Reichsschatzamtes und seiner Mitarbeiter. Und alles schloß mit einer temperamentvollen Rede vor dem Plenum ab. Er gestand offen ein, dass die Wirkung der Handelsverträge "in der Stärkung der junkerlichen Position" bestehen (Cunow 1905). Vom Reichskanzler gab es Glückwünsche, von den Agrariern stürmischen Beifall und aus den Händen des Kaisers den Schwarzen Adlerorden.

Heinrich Cunow (SPD) (1905, 705, 707) charakterisiert die neuen Handelsverträge als eine Abkehr von den Caprivischen Handelsverträgen der neunziger Jahre und Rückkehr zur bewährten Traditionen des Bismarcksschen Wirtschaftens. Sie sichern den einheimischen Markt der Agrarproduzenten auf Kosten der deutschen Industrie und dort beschäftigten Arbeiter. Die neuen Vertragssätze sind ein Mehrfaches höher als die bisherigen, für Kühe und Jungvieh sogar mehr als die von der Regierungen in ihren Tarifentwürfen vorgeschlagenen Höhe.


"Ans Vaterland, ans teure, schließ dich`an!"

Der Wahre Jacob. Jahrgang, Nummer 485. Stuttgart, den 21. Februar 1905, Titelseite, Ausschnitt


Zur Verteuerung der Lebensmittel durch Agrarzölle und Verminderung der Arbeitsgelegenheit, tritt die Verteuerung der Industrieprodukte durch die Preispolitik der Syndikate. (Vgl. Cunow 1905, 710)

Nun werden sie, "fürchtet Franz Mehring (SPD), "die "Hungerpeitsche über die Volksmassen" schwingen." Dagegen wird eine Handvoll von Gutsbesitzern, die "nur ein rudimentäres Organ am nationalen Körper bilden", sich die Taschen "zum Zerplatzen füllen." Was der Aufsatz Siegestaumel und Siegesangst (1905) sonst noch mitzuteilen hat, fällt für die H a u p t f i g u r (Vossische Zeitung) ebenfalls nicht günstig aus:

"Man kann dem Grafen Posadowsky als dem Macher dieser Handelsverträge heute ein Gefühl des Triumphes nachempfinden. Es ist nicht jedermanns Sache, die historische Unvernunft in einer parlamentarischen Körperschaft des allgemeinen Wahlrechtes zu einem durchschlagenden Erfolg zu führen. Man braucht den Grafen nicht zu beneiden, aber man darf ihm danken, dass er als Sieger wenigstens die Maske fallen lässt und offen ausspricht das, was ist. Drei Jahre hat der Kampf um diese Handelsverträge gewährt, und bergehoch hat sich die gesprochene und geschriebene Makulatur getürmt, worin die Brotwucherer in ihrer Art und mit Gründen, die danach waren, nachzuweisen versucht haben, dass sie nur um des Gemeinwohls willen die Hungerpeitsche über den Volksmassen schwingen. Alles das schiebt nun Graf Posadowsky mit lässiger Handbewegung fort, als ein trödelhaftes Geschwätz, und erklärt frank und frei, der ökonomisch und politisch gleich rückständige Großgrundbesitz solle durch die Handelsverträge erhalten werden, als Gegengewicht gegen die aufsteigende Klassenbewegung der Arbeiter, gegen das "radikalste Wahlrecht der Welt", gegen die "nervöse Hast", womit das "Volk" danach strebe, "in höhere soziale Schichten emporzusteigen".

"Der Industrie werden", dies beunruhigt Franz Mehring, werden die Handelsverträge "schwere Wunden schlagen und der arbeitenden Bevölkerung den notwendigen Lebensunterhalt unerträglich Weise verteuern."

Aachner Stadtverordnete gönnten den städtischen Arbeitern und minderbesoldeten Beamten zum Ausgleich der Preissteigerungen eine Teuerungszulage. Der Redner des Zentrums, Kommerzienrat Bossen, äußerte: "Es sei ein Skandal, dass man solche Beschlüsse fassen müsse; nur durch die Schuld der Agrarier sei man dazu gezwungen." Ihre Schuld ist es, dass die Lebensmittel in Aachen so teuer sind, dass mit der Summe eine halbe Stunde entfernt in Holland schon ganz gut Leben kann. Diese Misere ist am 20. Januar 1906 den Arbeiterwillen aus Graz noch einmal Anlass, um festzustellen: Die Politik des Lebensmittewuchers und Volkshungers ist das Werk der klerikalen Parteien. Ausschlagend hierfür ist die Zustimmung des Zentrums. Ohne sie, wäre es nicht möglich, diese Gesetze zu verabschieden.

In einer frühen Phase seiner Geschichte stand das Zentrum dem Militarismus ablehnend gegenüber und wirkte 1887 und 1893 an der Auflösung des Reichstages mit. Aber an diesem Standpunkt durfte, erklärt 1913 Julius Bachem (1845-1918) (14) nicht festgehalten werden. Nun kam es dahin, dass ihnen August Bebel am 11. Dezember 1900 (421) entgegenschleudert:

"Sie, meine Herren, im Zentrum, sind heute nichts weiter als die Schleppenträger der Regierungspolitik."

Das Zentrum unterbreitete den Vorschlag, die Mehreinnahmen der Reichskasse aus den agrarischen Zöllen, zur Einrichtung einer Arbeiterwitwenpensionskasse zu verwenden. Wie Sentimental, applaudiert am 9. April 1902 Franz Mehring in "Posadowskys Osterfahrt", dass die Regierung einen letzten Tropfen für das Krüglein der Witwe retten soll, während doch ihre abenteuerliche Weltpolitik die Kassen immer leerer fegt.

 

 

Bekämpfung der Sozialdemokratie (Posadowsky-Wehner)   zurück

Feinden vertraut und glaubt man nicht. Wir haben Feinde, die wir hassen müssen, und Feinde, denen wir einst nahegestanden. Einigen von ihnen, möchte man besser nie in die Hände fallen. Es gab auch Feinde, von denen erhielt man überraschenderweise Hilfe. Uns begegnen Feinde von gestern, heute und morgen. Wir kennen Feinde der Menschheit und des friedlichen Zusammenlebens. - Sind die Sozialdemokraten Posa´s Feinde? Natürlich nicht. Das können sie nicht sein, wenn auch mancher so tut, es ideologisch so vorträgt und provoziert. Es sind seine sozialdemokratischen Gegner, die ihm, wenn es darauf ankam, politisch, alles in allem große Achtung entgegenbrachten.

[Annäherung an die Sozialdemokratie  zurück] Wenn Posa die soziale Frage als Ausdruck der ökonomischen Lebensform der Produzenten, einschließlich ihrer Familien und Unterhaltsbedürftigen begreift, die wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse der arbeitenden Klassen anerkennt und in die Gesellschaft einpflegt, heißt dies nichts anderes als: Er nähert sich der ökonomisch-deterministischen Denkweise der Sozialdemokratie an. Ihren Forderungen muß er sich deshalb nicht zwangsläufig anschließen, da noch andere Präferenzen der sozialen Frage zu berücksichtigen sind. Über Gemeinsamkeiten in den sozialen-, arbeitsschutz- und wohnungspolitischen Zielen hinaus, entfalten sich Unterschiede und Gegensätze.

[Wer Recht erringen will ....  zurück] Auf der großen Volksversammlung am 28. November 1911 in Vorbereitung der Reichstagswahlen am 12. Januar 1912, legt er in der 78 333 Einwohner zählenden Stadt (1910) Bielefeld seinen rechtspolitischen Imperativ im Umgang mit der Sozialdemokratie dar:

"Die Sozialdemokratie ist nur geistig und sittlich zu überwinden. Dazu gehört aber viel Ruhe, Gerechtigkeitsliebe und Uneigennützigkeit der besitzenden Klassen. Wer Recht erringen will, muß selbst Recht haben und vor allem Freiheit des Individuums."

Seine Hoffnung, die Sozialdemokratie, geistig und sittlich zu überwinden, tut der "Vorwärts" mit einem Return-Schlag als hochmütig ab. Aus einer klassenmäßigen Selbstverteidigungsposition beurteilt, ist dies verständlich. Aus Sicht der moralischen Normierung der parlamentarische Gefechtslage, vielleicht sogar des Klassenkampfes, enthält der Imperativ bemerkenswerte Implikationen. Aber hierauf lassen sich die Sozialdemokraten nicht ein. Sie gestehen ihm ein "gewisses Wohlwollen" zu, doch in der Politik entscheidet "nicht das gute Herz einzelner." (Halbheiten 1911)

Vielleicht deuten sich eben hier Haltungen der Linken zu seinen politischen Ambitionen an, die sich dann in den 20er Jahren im regionalpolitischen Feld von Naumburg (Saale) in der Politikkultur negativ auswachsen.

Er wird oft nicht verstanden. Trotz vieler Jahre Streit, Kampf und Kooperation, verstehen ihn viele Sozialdemokraten nicht. Typisch Georg Ledebour (1850-1947), der ihn am 17. Februar 1912 (101) im Reichstag vorwirft:

"Der Herr Graf v. Posadowsky meint, man solle sich bemühen die Sozialdemokratien, die Arbeiter zu belehren und zu bessern. Und zu belehren, zu vernünftigeren, bürgerlichen Anschauungen."

"Diese Absicht verfolgte er schon als Staatssekretär, hat aber eben damit keinen Erfolg erzielt. Zu der Zeit als er amtierte, hat die Sozialdemokratie einen enormen Aufschwung erzielt."

Posadowsky kontert:

"Ich habe gesagt, man kann die Sozialdemokratie nicht mit Gewalt unterdrücken."

Ihn, den immer die ökonomischen Grundlagen der sozialdemokratischen Bewegung bewußt, der ihre Konflikte verstanden, sie mit der Arbeiterschutz- und Sozialgesetzgebung gewissermaßen betreute, um die Verhältnisse zum Besseren zu wandeln, politischen Erziehungswahn vorzuwerfen, verkennt seine Leistung und Methoden.

[Wie noch kein anderer Staat der Welt?  zurück] Ihn grämt, was er uns mehrfach in seinen Reden anvertraut, dass die Sozialdemokraten mit der Revolution spielen und nicht anerkennen, "was der Staat und die bürgerliche Gesellschaft für die arbeitenden Klassen bisher schon getan haben". Am 13. Februar 1897 (173) wirft er ihnen im Reichstag vor:

"Die Rede des Herrn Bebel hat sich weiter auf Grund des Leitmotivs entwickelt: die Arbeiter finden keine genügende Berücksichtigung im Reich und in den Einzelstaaten. Da sagt Herr Bebel in der Volksvertretung eines Reichs, welches für die Besserung der Lage der arbeitenden Klassen durch die soziale Gesetzgebung in einer Weise gesorgt hat, wie noch kein Staat der Welt. (Sehr gut! rechts und links. Zurufe bei den Sozialdemokraten)."

"Für die Arbeiter ist auch insofern gesorgt, als die Einzelstaaten die arbeitenden Klassen von den direkten Steuern befreit haben." (Vorwärts, 1. Beilage ....14.12.1897)

Auf die These von der Singularität der deutschen Sozialpolitik, wird man an geeigneter Stelle zurückkommen müssen. Jedenfalls darf sie nicht einfach ungeprüft kolportiert werden.

[Christliche Arbeiterbewegung  zurück] Endlich sagt es mal einer, könnte sein Parlamentskollege Adolf Stoecker (1835-1909) - als er dies hörte - gedacht haben. Schon längere Zeit stört ihn, "Das in manchen Kreisen eine üble Stimmung gegen uns herrscht .... " Ärgerlich für den studierten Theologen aus Halberstadt, den Begründer der antiliberalen, antisozialistischen Christlich-Sozialen Bewegung und macht ihn etwas fassungslos. "Wodurch ist diese hervorgerufen?", fragt er sich. Er hat da so eine Vermutung, die durchaus mit Aussagen von Posadowsky korrespondieren und macht folgende Beobachtung: "Für die Arbeitgeber fehlt in der Sozialdemokratie jede Anerkennung." Ergo könnte es sein, droht er am 12. Februar 1906 (1212) im Reichstag an, dass in Kreisen der Staatsmänner, die Lust zu Reformen vergeht.

Darauf lässt sich der Staatssekretär nicht ein, der offenbar die Fähigkeiten der Arbeiterbewegung zu reagieren, anders beurteilt und fragt (1906):

"Wie kommen wir trotzdem bei der Schaffung einer Arbeiterpartei voran, "die innerhalb des gegebenen Staates", des "bürgerlichen, des monarchischen Staates" steht? Wir haben, den "allerdringendsten Grund die christliche Arbeiterbewegung zu unterstützen".

Wenn er sich dieser Aufgabe zuwendet, assistiert ihn sofort wieder Stoecker: "Und wenn die Herren von der äußersten Linken mit einer diabolischen Klugheit immer so tun, als ob sie allein die Interessen der Arbeiterwelt verträten, und die anderen Arbeiter glauben machen, daß das wirklich so sei, - wir im Reichstage sollten das nicht nachmachen, sondern immer unterscheiden zwischen der Arbeiterwelt und der Sozialdemokratie, die in ihren Interessen gar nichts miteinander zu tun haben. (Sehr richtig! Rechts)." (12. Februar 1906)

"Den Kampf mit Herrn Stoecker und Konsorten", antwortet am 14. Februar (1906) August Bebel im Reichstag, "nehmen wir gerne auf. Er soll sich uns nur stellen ...."

[Ist die Überwindung der Sozialdemokratie überhaupt möglich?   zurück] Im Kampf mit der Sozialdemokratie ragt besonders Posadowsky Rede vom 12. Dezember 1905 (241) vor dem Reichstag heraus. Sie imponiert durch konstruktive, tiefreichende moral- und geschichtsphilosophisch Überlegungen. Über allem steht die Frage:

Kann man die Sozialdemokratie überhaupt besiegen?,


Rede
vor dem Reichstag 1905


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(1: 46 Minuten, mp3)

Überwindung der Sozialdemokratie und des Materialismus

Geistige und sittliche Wiedergeburt des deutschen Volkes durch Opferfreudigkeit und Selbstlosigkeit

Trotz Wahlrecht kann die Herrschaft der besitzenden Klassen aufrechterhalten werden

 

worauf er antwortet:

"Die sozialdemokratische Bewegung, die Sozialdemokratie, wurzelt unzweifelhaft in einer durchaus materialistischen Weltanschauung. Ich kann aber nicht leugnen, auf Grund der Beobachtung, die ich im täglichen Leben gemacht habe, das mit unserem wachsenden Reichtum auch in unseren besitzenden Klassen ein Maß materialistischer Weltanschauung, materialistischer Genußsucht gewachsen ist (vielfaches Sehr richtig! in der Mitte und links), das mich manchmal mit Besorgnis und Bedauern erfüllt. (Zustimmung in der Mitte links.)

Und darin sehe ich auch den eigentlichen Grund, dass die bürgerliche Gesellschaft nicht die Kraft hat, die Sozialdemokratie zu überwinden, weil in der Sozialdemokratie und in unserer bürgerlichen Gesellschaft mit ihrem wachsenden Reichtum, weil in beiden ein Materialismus herrscht, der kongeniale Erscheinungen auf Grund der derselben Ursache erzeugt. (Sehr gut!).

Die bürgerliche Gesellschaft wird die Sozialdemokratie auch nicht mit großen Worten überwinden, sondern sie wird sie nur überwinden, wenn sie in sich selbst geht, wenn sie selbst diesen materialistischen Standpunkt verläßt, und wenn in das ganze Leben der bürgerlichen Gesellschaft wieder ein größeres Maß sittlichen Ernstes einzieht."

Aufschlussreich ist die Haltung des gehobenen Bürgertums zum zweiten Teil der Rede vom 12. Dezember 1905, die sich mit der Sozialdemokratie befasst. Die "National-Zeitung" aus Berlin greift diesen heftig an, weil er die Schwerpunkte nicht richtig setzt. "Nicht der Bureaukratismus etwa kommt nun auf die Anklagebank," lässt sie ihren Ärger in Diäten und Sozialreform raus, "auch nicht Terrorismus, den die organisierten Arbeiter üben, und mit dem sie dem Reformeifer es Staates die werbende Kraft entziehen. Nein, die Besitzenden am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, sind es, die hindernd im Wege stehen. Weil sie in ihrer Lebensweise ebenso den Materialismus aufgehen, wie die Sozialdemokratie in ihrem Programm dem Materialismus huldigen."

Es wäre genauer gewesen, wenn Posadowsky die Formulierung von der Strategie der Sozialdemokratie zur Verbesserung der ökonomischen Lebensbedingungen für die unteren sozialen Klassen aufgegriffen hätte, ähnlich wie er es im Ersten Hauptsatz der Sozialpolitik formulierte. Wenn er diesmal begrifflich laxer agiert, so ist das unvorsichtig, vielleicht seiner Kampfstimmung geschuldet. Andererseits stellt die materialistische Lebensweise ein latentes und schwieriges Werteproblem in der bürgerlichen Gesellschaft dar. Es in diesem politischen Rahmen und vor diesem Publikum als Problem aufzuwerfen, war verdienstvoll, zudem Teile der Oberklasse Tendenzen der Luxurierung und german gier aufwiesen. Hingegen ist der Hinweis der "National-Zeitung" von der "hindernd im Wege stehenden" Klasse der Besitzenden eine Fata Morgana der Propaganda. Posadowsky betonte oft genug die herausragende Rolle des veranwortungsvollen, privatwirtschaftlichen Handelns, die Notwendigkeit von Privatinvestitionen in Produktion, Handel und Wohnungsbau. Er appellierte, an der gesellschaftlichen Sozialpolitik als Kulturaufgabe und Ausbau des Arbeitsschutzes teilzuhaben, weil sie dauerhaft die Schöpferkraft der Arbeit stärkt und langfristig ihre Produktivität steigert.

Eingedenk dessen, gibt die Reaktion des gehobenen Bürgertums auf seine Rede zu erkennen, dass deutlich andere politische Erwartungen als Staatssekretär des Innern an ihn bestehen. Bis zu seinem Entlassungsgesuch sind es noch anderthalb Jahre.

Die zweite wichtige politische Grundsatzfrage von Posadowsky, nicht in der Rede vom 12. Dezember, aber an in vielen anderen Zusamenhängen immer wieder gestellt, lautet:

Welche Gefahren gehen im Land
von der Sozialdemokratie aus?

"Die Furcht vor einer sozialdemokratischen Reichstagsmehrheit teile ich nicht: wohl aber fürchte ich," sagt er 1906 im Reichstag, "daß die bürgerlichen Parteien durch das allgemeine Wahlrecht zu sehr genötigt werden, den Wünschen der Masse Rechnung zu tragen." (RT 7.2.1906)

Ein Gespräch zwischen ihm und Johannes von Miquel gibt noch tiefer zu erkennen, welche Haltung er zur Zukunft der Sozialdemokratie einnimmt. Der Reichsfinanzkünstler war bereits vier Jahre Tod, am 8. September 1901 in Frankfurt a. M. einem Schlaganfall erlegen, als Posadowsky am 12. Dezember 1905 (239) im Reichstag erzählt:

"Wie sie wissen, war Herr v. Miquel ein Mann von großer praktischer Erfahrung, und einer gewissen geschichtsphilosophischen Auffassung. Er sagte mir bei dieser Gelegenheit: wir brauchen in Deutschland den Sieg des Radikalismus, wie er von der äußersten Linken vertreten wird, zunächst nicht zu fürchten; denn Deutschland hat so viele verschiedene geistige, soziale und wirtschaftliche Zentren dank seiner Geschichte, dass diese einen festen Rückhalt gegen den Ansturm des Radikalismus bilden; die Lage der Regierung kann erst dann eine gefährliche werden, wenn sie in schlechte Finanzen gerät, wenn sie infolgedessen zu abhängig wird vom Parlament, und wenn sie Staatsausgaben, die das Land und ihre Stellung erfordert, nicht mehr leisten kann. Meine Herrn, mir scheint hierin eine tiefe Wahrheit zu liegen."

[Impulse  zurück] Dem Kampf gegen die Sozialdemokratie verleiht Posadowsky

am 6. Februar 1906

einen weiteren Impuls. Nachdem er im Plenarsaal des Reichstages die an ihn gerichteten Fragen systematisch und konkret beantwortet hatte, ist die Sozialdemokratie an der Reihe.

Wie kann man, so lautet seine Frage, gegen die drei Millionen Stimmen der Sozialdemokratie ankommen?

 

"Etwas zum Gruseln!"

"Auch diesmal hoffen wir unter diesem Zeichen zu siegen!" (Originalbildunterschrift)

Etwas zum Gruseln! Der Wahre Jacob. Jahrgang 19. Nummer 425. Stuttgart, den 7. Oktober 1902, Titelblatt

 

Kommentar
Schwungvoll schleppt Staatssekretär Arthur Graf von Posadowsky-Wehner die symbolische Kampfansage der Sozialdemokratie mit blutigem Dolch und einem Brandsatz gegen die bürgerliche Gesellschaft vornan. Im Anliegen den Zusammenhalt führender Persönlichkeiten der Reichspolitik gegen die Sozialdemokratie vorzuführen, berührt die Demonstration durchaus. Ansonsten nimmt die Aufführung "Etwas zum Gruseln!" mit dieser Monstranz zwangsläufig den Charakter einer ideologisch aufgezäumten Pflichtveranstaltung an. Können  s i e, fragt sich der Betrachter, s o die Sozialdemokratie aufhalten? Rührend wie ihr gang leader bemüht, wenigstens den Eindruck zu hinterlassen: Wir können es! Ob er es wirklich will, muss zumindest im Kurzkommentar als fraglich bezeichnet werden, weil er andererseits in der Sozialdemokratie eine geschichtlich notwendige Bewegung erkennt, die eine Determinante seiner Politik darstellt. Und der zuständige Repressionsminister ist er jedenfalls auch nicht. Denn diese Aufgabe fällt den Innen- und Justizministern der Länder zu. In ihrer Hand liegt die polizeiliche Bekämpfung, Beobachtung, Überwachung und Ausführung der Gesetze gegen die Sozialdemokratie. Diesen Auftrag übernahm Georg Freiherr von Rheinbaben (1855-1921), 1899 preußischer Innenminister, ab 1901 Nachfolger von Miquel im Amt des preußischen Finanzministers, der stramm, halblinks von Posadowsky marschiert.

Hinter "Posa", der Mann mit der Mistgabel, das ist Victor von Podbielski (1844-1916), preußischer Generalleutnant, Staats- und Landwirtschaftsminister (1901), Staatssekretär des Reichspostamts (1897).

Ihm folgt Bernhard von Bülow (1849-1929), 1897 Staatssekretär des Äußeren, von Oktober 1900 bis Juli 1909 Reichskanzler.

Vorne links hält der Protokoll-Chef ein Buch mit der Aufschrift "Büchmann" in der Hand. Wahrscheinlich eine Anspielung auf Fürst Bernhard von Bülow, der seine Reden gern mit Zitaten verzierte. August Büchmann (1822-1884) verfaßte die beliebte und umfangreiche Zitatensammlung "Geflügelte Worte".

Aus der linken Seitentasche von Posadowsky lugt ein Dokument, worauf die Zahl "12 000" geschrieben steht. Es ist die lausige Summe, um die er "bei den schmutzigsten Scharfmachern" des Zentralverbandes der Großindustriellen bettelte (Leipziger Volkszeitung, 24. Juni 1907).

 

Die Sozialdemokraten, so lautet der zentrale Vorwurf, erheben Forderungen, "die weder im Gegenwartsstaat noch im Zukunftsstaat" "noch in irgendeinem Staate der Welt jemals zu erfüllen sein werden". Denn ihre Erfüllung würde zum Zusammenbruch des gesamten wirtschaftlichen Lebens und mit ihm des Staates führen.

"Weil die Sozialdemokratie hiervon überzeugt ist, erklärt sie: der ganze bestehende Staat muss beseitigt werden. Wie dieser Zukunftsstaat aussehen würde, davon habe ich wenigstens keinen Begriff. [Sehr gut!] Deshalb muss man es doch begrüßen, wenn eine Arbeiterbewegung besteht und sich weiterentwickelt, die erklärt:

ja wir sind auch dafür, dass die materielle Lage der Arbeiter dem wachsenden Wohlstande des gesamten Volkes entsprechend eine besser wird, dass die Löhne der Arbeiter den gestiegenen Lebensbedürfnissen und gestiegenen Lebensmittelpreisen folgen, dass der Arbeiter in größerem Masse als bisher auch an öffentlichen Angelegenheiten beteiligt ist, aber wir wollen dies Ziel mit gesetzlichen Mitteln verfolgen in dem bestehenden monarchischen Staat, innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft."

[Junker, Centralverband Deutscher Industrieller, Klassenpolitik  zurück] Posadowsky versteht es, im Feld der Handels- und Zollgesetzgebung an Bündnissen und Kompromissen zu schmieden. Seit etwa 1897 artikulieren die Junker ein massives Interesse an der Erhöhung von Einfuhrzöllen auf Agrarprodukte. Auflehnen tut sich hingegen die Bank- und Handelsbourgeoisie, weil es für sie erkennbare finanzielle Belastungen und wirtschaftliche Nachteile bringt. Recht und Freiheit drohen der Interessenpolitik den Platz zu räumen. August Bebel und die ihm ansonsten oft zugeneigte sozialdemokratische Volksstimme aus Magdeburg stellen Posadowsky mir nichts dir nichts unter das Verdikt, ein "Land- und Industriebündler" zu sein. Der SPD-Vorsitzende behauptete gar, Posadowsky sei durch den Verkehr mit den Kapitalisten

so verwirrt, dass er nicht mehr das sozialpolitisch Richtige erkenne.

Die Antwort bleibt nicht aus. Der "Verwirrte" nutzt dazu am 12. Dezember 1900 (488) die Haushaltsberatung für das Rechnungsjahr 1901. Im Plenum des Reichstags erklärt er zu seinem angeblich schwankenden Bewusstseinszustand:

"Wenn der Herr Abgeordnete Bebel schließlich gesagt hat, ich wär seiner Auffassung durch den Verkehr mit den Kapitalisten schon verwirrt, dass ich nicht mehr das sozialpolitisch Richtige erkennen könnte, so weiß ich nicht, ob im Bundesrath und in meinem Amte sehr viel Kapitalisten sind; aber im Übrigen glaube ich, verkehrt niemand mit den Kreisen, die man vorzugsweise als kapitalistisch bezeichnet, weniger als ich. (Zurufe links)."

Nur, warum hebt er das Problem so ironisch an? Soll etwas verharmlost werden? Vielleicht. Betrachtet man die Ergebnisse der Untersuchung, die der SPD-Reichstagsabgeordnete Richard Fischer aus Berlin zur Zwölftausendmark-Affäre vier Wochen nach seiner Rede, genau am 12. Januar 1901, vorlegt, dann wird einiges klar.

[a] Für die forcierte Agitation zum Entwurf eines Gesetzes zum Schutze des gewerblichen Arbeitsverhältnisses, vom Bundesrat am 26. Mai 1899 dem Reichstag vorgelegt, erhält das Reichsamt des Innern als Untertstützung vom Centralverband deutscher Industrieller (CdI) die Summe von zwölftausend Mark. Die Förderung staatlicher Institutionen durch die Privatindustrie lehnt die SPD ab. Richard Fischer (Berlin) übernimmt am 12. Januar 1901 im Reichstag, die Formulierung des politisch und moralischen Standpunkts:

"Wenn die Kosten für solche Unternehmungen von denen getragen werden, die den Profit davon haben", unterläuft dies die Würde der Regierungsarbeit. "Vielleicht kommt die Regierung selber auf den Gedanken," hofft der Reichstagsabgeordnete, "daß sich bei jedem Gesetz die Frage erheben muß, wer zahlt denn bei diesem Entwurf die Kosten. Heute ist der Staatssekretär [Posadowsky] etwas abgerückt vom Centralverband. Er muss sich da eben den Vorwurf der Treulosigkeit machen lassen." 


Flotte und Sozialreform
(Originaltitel)

 

 

Friedrich Alfred Krupp (1854-1902),

seit 1887 alleiniger Eigentümer des Unternehmens Großstahlfabrik Essen,

und

Karl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg (1936-1901),

Großindustrieller an der Saar, Abgeordneter der Reichspartei, kutschieren ihre Millionen aus dem Flottenbau nach Hause.

An der linke Seite des Wagens befindet sich ein Schild mit der Aufschrift:

"Aufträge für den Flottenbau".

Im Eingang des Deutschen Reichstages steht Graf von Posadowsky mit einem Aktenkoffer in der Hand, auf dem
"Sozial Reform"
geschrieben steht.

Der Wahre Jacob. Nummer 365, Stuttgart, den 17.Juli 1900, Titelblatt

 

[b] Von der angeblich "hohen neutralen Bedeutung der Sache für unser Vaterland", die am 9. Februar 1900 Graf von Posadowsky aus Anlass der Novelle des Flottengesetzes postulierte, blieb, wenn man es aus der Nähe betrachtet, nicht viel übrig. Damals wurde es in der Öffentlichkeit so hingestellt, "als sei die Flottenrüstung die Folge einer plötzlichen Erhebung der Volksseele aus einem lange Schlafe". Tatsächlich stellte sich heraus, daß der CdI die großartigen Flottenkundgebungen finanzierte, pensionierte Kapitäne engagierte, die durchs Land zogen, um die Begeisterung für die Flottenrüstung anzufachen. Und da waren auch noch die vielen Flottenprofessoren (Eugen Richter 1899), wie Nationalökonom Gustav Schmoller (1838-1917).

[c] Der SPD-Abgeordnete Richard Fischer stützt sich im Januar 1901 in seinen Aussagen vor dem Reichstag auf Tatsachen, die als Beleg für seine Behauptung genügen könnten, "daß es der Centralverband ist, der die Schuld an dem Mißstand der socialpolitischen Gesetzgebung trägt." Er führt die Beschränkung der freien Hilfskassen und ihre Manöver zur Novelle zum Krankenversicherungs-Gesetz an.

[d] Millionen fließen in die Hände von Friedrich Alfred Krupp (1854-1902), Großstahlfabrik Essen und den Großindustriellen von der Saar und Abgeordneten der Reichspartei Karl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg (1936-1901).

[Gegen Überreglementierung  zurück] Um ein friedliches Verhältnis zwischen ihnen zu gewährleisten, stützen sich Arbeiter und Kapitalist, wen es nach dem Willen von Posadowsky geht, idealerweise auf Recht und Gesetz, das durch den Staat definiert, geformt und geschützt wird. Es darf aber nicht überreglementiert werden. Hierzu legt er am 16. Dezember 1897 vor dem Reichstag dar:

"Ich habe aber ferner allerdings ausgeführt, daß es außerordentlich bedenklich sei, sämtliche Erwerbszweige Deutschlands polizeilich reglementieren zu wollen, daß man auf diesem Gebiet nur mit der äußersten Vorsicht vorgehen sollte; denn es sei bedenklich, Verordnungen zu erlassen, die sich in ihrer Ausführung gar nicht kontrollieren lassen und die sehr leicht dahin führen, daß das Verhältniß zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, der soziale Frieden, der zwischen diesen beiden Kategorien unbedingt bestehen muß, aufs schwerste gefährdet wird. Das Verhältniß zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer kann man nicht nur auf den rechtlichen Vertrag stützen, es muß auch ein gewisses Pietätsverhältniß bestehen."

Was für eine Enttäuschung brandete durch die sozialdemokratische Öffentlichkeit, als das von ihm unterzeichnete Rundschreiben vom 11. Dezember 1897 zur Strafverschärfung des Paragraphen 153 der Gewerbe-Ordnungs-Novelle, veröffentlicht im "Vorwärts" am 15. Januar 1898, bekannt wurde! Sah so das pietätvolle Verhältnis von Arbeiter und Unternehmer aus, das er sich wünschte? (Siehe Kapitel: Graf Posadowsky hat die Schlacht verloren.)

[Vaterland  zurück] Eine zweite gestaltende Idee im politischen Denken von Posadowsky zum Verhältnis von Unternehmer und Arbeiterschaft verkörpert das "Vaterland". August Bebel tut so, wirft er ihn am 13. Dezember 1897 (171) im Reichstag vor, als ob die Mittel der Landesverteidigung nur den Besitzenden, den Reichen und Kapitalisten zugutekommen. Wohl kann er seine Warnung, die indirekten Steuern für die Lohnabhängigen nicht zu stark zu erhöhen, verstehen, und will ihm hier "durchaus beipflichten". Nicht unterstützen will er dessen Darstellung, als ob die Armee und Marine nur zum Schutz des Besitzes da sind. Dem hält er entgegen:

"Führen wir einen unglücklichen Krieg, so wird Handel und Wandel gestört. Wie sollen dann die Arbeiter leben?" "Ist denn die Armee nur zum Schutze der Reichen da?

Hat den der Arbeiter bei uns kein Vaterland?"

Der Arbeiter besitzt nach Posadowsky deshalb ein Vaterland, weil sonst für ihn die allgemeine Wehrpflicht und das allgemeine Wahlrecht aufhörte. Was würde dann aber, fragt der Vorwärts (Berlin) am nächsten Tag nach, aus "dem herrlichen deutschen Kriegsheer, das schon heute zur Hälfte aus industriellen Arbeitern besteht .... Dass aber dieses Heer für die Arbeiterschaft da ist, zu ihren Zwecken und Diensten besteht, wird Herr Posadowsky als treuer Diener seines Herren, des obersten Kriegsherren, nicht einmal zu behaupten wagen."

 

Klassengegensätze

Auf den mitgetragenen Schildern steht von links nach rechts: "Arbeiter werden nicht angenommen", "Arbeit" und "Brot".

Tausende Berliner Handwerker hatten im Sommer 1893 nichts zu tun. 3600 Berliner Kinder müssen in die Schule gehen, ohne nur einmal im Jahr warm zu essen. Selbst Krupp musste vor einigen Wochen einen erheblichen Teil der Beschäftigten außer Arbeit setzen. (Vgl. Bebel 27.1.1893)

Klassengegensätze. Der Wahre Jacob. Nummer 219, Titelblatt. Stuttgart, den 18. Dezember 1894

 

Die Sozialdemokraten lassen sich darauf ein, die Vaterlandsidee zu einer ideologischen Kategorie ihres Selbstverständnisses zu machen. Politiker wie Gustave Hervé (1871-1944) schlagen sie aus, weil sie darin ein Konstrukt des Nationalismus erkennen, woraus für sie folgt, die Pflicht zur Vaterlandsverteidigung abzulehnen. Besonders darauf kam es Posadowsky-Wehner an, wenn er argumentiert, die arbeitende Klasse steht nicht außerhalb unserer Gesellschaft. Deshalb muss sie ebenfalls ein "Interesse an der Sicherheit des Staates" und der "Aufrechterhaltung des Friedens" haben. Andernfalls "wäre aber allerdings die Aufrechterhaltung des allgemeinen direkten Wahlrechts auch nicht mehr berechtigt".

Im Krieg droht die Vaterlandsliebe als moralische Kategorie, die Einheit des Volkes zu zerreißen. August Bebel stellt sich am 10. Februar 1900 (4022) im Reichstag vor: "Wenn es eines Tages das Unglück wollte, daß unsere Brüder, Söhne, Enkel zum männermordenden Kriege unter die Waffen gerufen würden, empfangen sie von ihren Gegnern gegenüberstehend die Todeswunden. ".... dann sind es in so und so viel Fällen deutsche Gewehre, deutsche Kanonen und deutsche Kugeln, mit denen sie erschossen werden. (....) Es sind die internationalen Kapitalisten, die Leute,

die kein Vaterland kennen (....),

die den Werth ihres Vaterlandes nach der Höhe des Profits bemessen, den sie finden. (....) Die Waffen und Munition für alle Mächte der Welt liefern, das ist christlich, brüderlich! Ja! Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!"

[Der aktive Staat   zurück] Untermauert von christlich-moralischen Werten und tiefen geschichtsphilosophischen Überzeugungen von der Notwendigkeit des Fortschritts, nimmt Graf von Posadowsky in der politischen Praxis zur Arbeiter-Frage eine entschieden positive Haltung ein. Ihn kommt nicht der Gedanke die von Adam Smith in der "Wohlstand der Nationen" (1776) aus dem Reproduktionsprozesß von Rente, Gewinn und Lohn abgeleitete Gliederung der Gesellschaft in die drei großen Klassen: Grundbesitzer, Unternehmer und Arbeiterschaft, zu leugnen. Nur ihr Gedeihen, dies überlässt er nicht der "unsichtbaren Hand", sondern es ist die Aufgabe des aktiven Staates. In der kartellierten und in monopolistisch Konkurrenzstrukturen organisierten Wirtschaft übernimmt er koordinierende und kontrollierende Funktionen. Vor allem dürfen sich die sozial-ökonomischen Gegensätze im inneren der Gesellschaft nicht weiter aufbauen. Damit im Einklang erhebt er 1897 die Forderung:

"Deutschland ist seit 25 Jahren ein wesentlich reicheres Land geworden; je mehr unser Reichthum steigt, desto mehr haben meines Erachtens die besitzenden Klassen die Verpflichtung," , "von ihrem Ueberschuß abzugeben an die besitzlosen Klassen, deren Hände Arbeit wir unzweifelhaft unsere industrielle Entwicklung mit verdanken." (Posa RT 13.12.1897, 173)

[Sozialstrukturelles Denken  zurück]Der Staatsminister des Inneren schreitet auf dem deutschen Weg fort, der sich durch die Verbindung von Wirtschaft-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik vom anglo-amerikanischen Kapitalismus unterscheidet. Dabei orientiert er sich an den Bedürfnissen, Interessen und Lebenslagen der sozialen Klassen, Schichten und Gruppen.


Klassengesellschaft (Autor)


 

Kommentar: Von unten nach oben: der deutsche Michel - Klerikalismus - Militarismus - Kapitalismus.

Die Ernte von 1904. Der Wahre Jacob. Nummer 480. Stuttgart, den 13. Dezember 1904, Seite 4548

 

Seine sozialstrukturelle Denk- und Betrachtungsweise verleiht den Problemen Konturen und verstärkt ihre Aussagekraft, was zugleich Konflikte anzieht, denen andere Politiker bereits durch eine neutrale Sprechweise ausweichen. Leider bildet, teilt er am 1911 in Die Wohnungsfrage als Kulturproblem mit, die wohlhabende Klasse "noch immer einen verschwindend geringen Bruchteil". In Preußen konnten 1908 nur vier Prozent der Bevölkerung überhaupt zur Vermögensteuer herangezogen werden. Von 38 Millionen deutschen Staatsbürgern beziehen nur 435.000 ein Einkommen von über 3.000 Mark.

Wohl kritisiert er die SPD wegen ihrer Uneinsichtigkeit und ungenügenden Wertschätzung der sozialen Wohltaten des Staates, doch er verdammte sie nicht und zieht keine Brandmauer zwischen sich und den Sozialdemokraten hoch. Ein Umstand, dies sei hier vorweggenommen, der den Blick auf eine andere - zumindest stadtgeschichtliche - Tragödie freigibt, die in ihrem Ausmaß und Folgen bis heute völlig unbeachtet blieb, dass nämlich die sozialistisch-kommunistischen Trupps, sagen wir die Linken, nach 1919 die Ähnlichkeiten, Bindeglieder, Berührungspunkte und Verwandtschaften zu ihm, nicht zu sehen und politisch nicht neu zu denken vermochten.

[Empathie  zurück] Arthur Graf von Posadowsky-Wehner trägt die Überzeugung durchs Land, dass Empathie und soziale Pflicht des Christen in der Sozialpolitik zusammenwachsen. "Ich halte die Sozialpolitik", dekretiert 1911 seine Bielefelder-Rede, "für ein sittliches Gebot, für ein Gebot der christlichen Religion und jedes Religions-Bekenntnisses jedes gebildeten Volkes." Den asozialen, nach materiellen Werten strebenden Menschen lehnt er ab. Menschen ohne Mitgefühl bedrohen und zersetzen den sozialen Charakter der Gesellschaft. Als 1930 in Deutschland mit den Notverordnungen soziale Leistungen gekürzt werden, warnte er: "Kalte Selbstsucht eines Volkes gegenüber leidenden Schichten seines eigenen Blutes bedeutet eine soziale Gefahr …." (V&R 74) Den Propheten Jesaias, "Ein Jeglicher sieht auf seinen Weg, ein Jeder geizet für sich in seinem Stande", führt er als Inbegriff des lieblosen und unsozialen Menschen vor. Feine Gemüter haben Mitgefühl und suchen, diesen Empfindungen in Wort und Tat Ausdruck zu verleihen. (V&R 74)

 

Staatliche Fürsorge und Arbeitslosigkeit. Originalbildüberschrift

 

 

Kommentar. Karl Heinrich Boetticher (1833-1907), von September 1880 bis Juli 1897 Staatssekretär im Reichsamt des Innern, reicht dem Familienvater die Alters-, Unfall- und Krankenversicherung. Kann aber die soziale Krankheit der Arbeitslosigkeit durch institutionelle Therapien zurückgedrängt oder gar beherrscht werden? Auch Graf von Posadowsky ringt um eine Antwort.

 

Staatliche Fürsorge und Arbeitslosigkeit. Der Wahre Jacob. Nr. 217. Jahrgang 11. Stuttgart, den 20.November 1894, Titelblatt, Ausschnitt

 

Ihn zeichnet ein gesundes soziales Empfinden und Verständnis für die Lebenslage der arbeitenden Klassen aus. "Was würde werden," fragt er am 13. Dezember 1897 den Reichstag, "wenn - was Gott verhüte! - wir einen unglücklichen Krieg führten, Handel und Wandel stockten, die Fabriken still ständen, der heimische Boden nicht mehr so intensiv bearbeitet würde: - wovon sollte dann der Arbeiter leben! Die besitzenden Klasse können viel leichter über halten; die haben etwas zuzusetzen, nicht aber der Arbeiter, der von der Hand in den Mund lebt."

Empathie lenkt seine Kraft auf die Gestaltung der sozialen Verhältnisse. Steht ein Land vor wirtschaftlichen Problemen oder droht es in die Wirtschaftskrise zu sinken, so werden die Folgen dieses Zustandes "zunächst die Bevölkerungsschichten am schwersten treffen, deren Lebenshaltung auf unsicherer schwankender Grundlage beruht, d.h. all diese Kreise´, welche von dem Ertrage ihrer Tagesarbeit leben oder auf ein Einkommen angewiesen sind, welches nur nothdürftig das körperliche Dasein verbürgt." (V&R 74)

[Egoismus zurück] Das tätige Mitgefühl mit seinen Stammesgenossen erhebt Posa zur vaterländischen Pflicht. In Widerspruch dazu steht seine Auffassung: "Das Lebensprinzip alles Fortschritts ist der menschliche Egoismus, sich selber eine bessere Situation zu schaffen, als die anderen Menschen sie haben." Diese Maxime entwirft er am 13. Dezember 1897 im Kontext der Debatte zur Koalitionsfreiheit, womit der Ansatz zur Antwort schon gegeben. Sie dient dazu die Solidarität und Kooperation zwischen den Arbeitern aufzubrechen. Denn das Koalitionsrecht braucht der deutsche Arbeiter nicht, argumentiert er, weil er bereits über das allgemeine Wahlrecht verfügt.

Über freilich immer notwendige individuelle moralische Maßstäbe des Handelns hinaus, sucht er gesellschaftliche, dass Rechtsgefühl, den Anstand und die gegenseitige Achtung betreffende Normen zu etablieren und Wirkung zu verschaffen. In der "Wohnungsfrage, ein Kulturproblem" (146), plädiert er 1920, ohne den Begriff zu verwenden, klar und unmissverständlich für ein Recht auf Wohnung. Alle Klassen und Schichten, müssen ein Interesse daran haben, dass die minderbemittelten Schichten unter Verhältnissen wohnen, die den Anforderungen der Gesundheitspflege und Sittlichkeit entsprechen. Es gilt besonders dann, wenn der Arbeiter sein einziges Besitztum, die Arbeitskraft, verliert.

[Arbeiterfreundlich   zurück] Besorgt hört sich an, was Posadowsky am 12. Januar 1901 im Reichstag äußert:

"Ein Zuhörer auf der Tribüne, der nie eine Zeitung gelesen und nie vorher hier gewesen ist, müsste nach dem was er heute gehört hat, glauben, ich sei der arbeiterfeindlichste Mann der ganzen Erde …."

Er möchte nicht als Jemand gelten, der arbeiterfeindlich sein könnte. Warum eigentlich nicht, was bewegt ihn hier innerlich? Liebdienerei? Nein, weit gefehlt. Im Hintergrund steht eine orientierte Vorstellung vom Fortschritt der Geschichte. "In keinem Land indes wie in Deutschland," rekapituliert er im März 1918 (64) in Schicksalsstunden, "macht sich eine so starke aufsteigende Klassenbewegung geltend." In ihr erkennt er eine Quelle des sozialen, wirtschaftlichen und institutionellen Fortschritts, als deren notwendiges Moment die Sozialdemokratie mit der organisierten Arbeiterklasse auftritt.

   Im Arbeiterzug, 1901

   Der Wahre Jacob. Nr. 391. Stuttgart, den 16. Juli 1901, Seite 3551

Gerechte Verhältnisse, geformt und beurteilt mit dem Maßstab des Rechts, realisiert als fairer Lohn und Anspruch auf Wohnung, auch im Fall der Arbeitslosigkeit, bilden die entwickelte moralische Grundorientierungen von Graf von Posadowsky. Daran ändert auch die folgende Passage aus einer Rede von August Bebel nichts: ".... ich hätte ihm [den Herrn Staatssekretär Posadowsky] gern vorgeworfen, er gehe in Versammlungen und zu Festen der Unternehmer. Wir überlassen ihm und seinen Geheimräthen, auf Versammlungen und Feste der Unternehmer zu gehen, soviel ihn beliebt; wir haben ihn und seinen Räthen aber vorgeworfen, dass sie zwar zu solchen Unternehmerzusammenkünften gehen, aber nicht zu Arbeiterversammlungen." (Bebel RT, 12.12.1900, 484) Bei einer tieferen Betrachtungsweise seiner Tätigkeit als Staatssekretär, die durch spezielle Codizies, Verhaltensanforderungen und Funktionen (Aufgaben) definiert ist, löst sich der von Bebel skizzierte Widerspruch in der Rollendefinition auf.

[Arbeitnehmerfreizügigkeit  zurück] "Schon jetzt sind im Osten die Landwirthe gezwungen, um nicht die einheimische Scholle brach liegen zu lassen," instruiert am 13. Dezember 1897 Posadowsky (RT 13.12.1897, 172 ) den Reichstag, "große Masse von Ausländern heranzuziehen. Natürlich ist keine Rede davon, die Freizügigkeit aufzuheben und die Arbeiter in ihrer Möglichkeit, Erwerb zu finden zu beschränken." Die sozioökonomischen und gesellschafts-moralischen Auswirkungen sind in Posen gut zu erkennen.

Arbeiternehmerfreizügigkeit bedeutet, den den wachsenden Zuzug der Arbeitskräfte von Ost nach West zu gestalten. Bis Juli 1906 sind über 96 000 Bergarbeiter aus den Provinzen Ostpreußen, Westpreußen und Posen, davon allein über 42 000 aus Ostpreußen im Dortmunder Revier angelandet. Grundbesitzer Graf Hans von Kanitz-Pondangen (1841-1913) führt am 5. März 1908 vor dem Reichstag (RT 3641 ff.) Klage über den hohen Aufwand, die "Kosten der Auferziehung" für die Arbeiter, die ansehnliches Kapital repräsentieren: ".... und sind die Leute erwachsen, hat man diese großen Kapitalien aufgewendet, dann sind sie für denjenigen verloren, welcher die Auslagen gemacht hat."

Zwangsläufig erhöhen sich die Arbeitskosten der landwirtschaftlichen Produktion in Ostpreussen. Hinzukommen, wie Posadowsky selbst nur zu gut weiss, Rationalisierungsdefizite, betriebswirtschaftlich rückständige Wirtschaftsweisen und Auswüchse der junkerlichen Lebensweise. (Siehe Der Junker Macht und Einfluss im Kapitel Ist er ein Agrarier). Die politischen Folgen ökonomischen Rückständigkeit und nationalen Wanderungsbewegung reichen bis zum Osthilfeskandal als ein Moment "Machtergreifung" von Adof Hitler im Frühjahr 1933.

 

 

Kernsätze der Sozialpolitik  zurück

Oft wird die deutsche Sozialpolitik vor dem Ersten Weltkrieg als Reaktion auf den wachsenden Einfluss der Sozialdemokratie und im Dienst der Domestizierung der Arbeiterklasse interpretiert. Man spricht von Aufgaben für die Systemstabilisierung. Andere begreifen sie vor allem als Pflegeleistung zur Produktivitätssteigerung der Arbeit. Posadowsky-Wehner überschreitet deutlich den Horizont sowohl einer populistisch wie ökonomistisch fundierten Sozialpolitik. Für ihn ist sie, eine universelle kulturelle Aufgabe, ohne die kein gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Fortschritt möglich (V&R 126ff.). Damit geht er weit über die Grenzen seiner sozialethischen Auffassungen der Posener-Zeit hinaus, die Pflicht zur sozialen Fürsorge vor allem aus dem Gebot der christlichen Sittenlehre abzuleiten.

Einerseits widersprach er ".... auf das heftigste, wenn der Centralverband deutscher Industrieller Forderungen, die der Gesundheit und körperlichen Unversehrtheit am Arbeitsplatz galten, als sozialdemokratisches Anliegen zurückwies." (Bahlcke 96)

Andererseits darf die Sozialpolitik nicht die wirtschaftlichen Gesetze überschreiten und zerstören, weil sonst riesige volkswirtschaftliche Schäden zu gegenwärtigen sind (vgl. V&R 213).

Das Bestreben um einen größeren Anteil der Arbeiter am Gewinn des Unternehmens, betrachtet Posadowsky als "an sich verständlich und auch berechtigt." Gleichwohl darf die Produktion dadurch nicht in einer Weise verteuert werden, dass diese konkurrenzunfähig, lebensunfähig oder reproduktionsunfähig wird. "Wenn der Unternehmer nicht mehr die Aussicht hat, sein Kapital wirklich gewinnbringend anzulegen, wird eben die Unternehmungslust überhaupt zurückgehen …" "Werden also die Forderungen an die Löhne überschraubt, wird die Ware zu teuer, das Geschäft zu riskant, so leidet unter den fortwährenden Streiks zunächst die Unternehmerlust des deutschen Unternehmerstandes, dann trägt aber in zweiter Reihe den Rückschlag der Arbeiter, weil sich die Arbeitsgelegenheit entsprechend vermindert." (Posadowsky 12.12.1905, 240)

Sozialpolitik verstand Posadowsky nicht als Praxis sozialer Geschenke an eine geschundene arbeitende Klasse. Vielmehr lotete er ihre Möglichkeiten und Grenzen im Feld von Humanität, Rationalität und Ökonomie aus. Das war ein konfliktreicher und anstrengender, von vielen Klein- und Detailarbeiten bestimmter Prozeß, den er auf den verschiedensten Organisationsebenen als Staatssekretär engagiert leitete. Dabei wendet er sich den sozial-ökonomischen Bedürfnissen der einzelnen Klassen, Schichten und Gruppen, den Interessen der Landwirtschafts- und Industrieverbände und Organisationen zu. Nichts weist auf eine moralische oder politische Abwertung der arbeitenden Klassen und Unterschichten hin. Unvoreingenommen und mit hoher sozialer Sensibilität, geleitet von christlichen Werten, analysiert er die soziale Frage, ohne sie zu kaschieren oder zu entstellen.

 

Im virtuellen Raum des "Wahren Jacob" amüsieren sich 1901 an der Ramme die Mitglieder eines Gewerkschaftskongresses . Wenn der Hammerkopf, "Schlagbär" genannt, auf das Rammgut, deutlich als "Centralverband deutscher Industrieller" kenntlich gemacht, niederrasst, dann schmeißt die Menge die Kopfbedeckung in die Luft oder reckt beide Hände blitzartig senkrecht nach oben. Was für ein Spaß! "Immer drauf!", heisst das Motto der "Gewerkschaftlichen Thätigkeit".

 

 

"Immer drauf". "Gewerkschaftliche Thätigkeit". Auf dem Rammbock steht "Centralverband deutscher Industrie."

Aus: Der Wahre Jacob. Nr. 391. Stuttgart, den 16.Juli 1901, Seite 3544

 

Die Sozialpolitik konstituiert sich aus dem Widerspruch, die Produktivkraft Arbeit als unerschöpfliche Quelle des Fortschritts zu erhalten und zu fördern, und den dafür immer nur begrenzt zur Verfügung stehenden ökonomischen Ressourcen. Ihre merkantile Ausgestaltung greift tief in die Wertverhältnisse des nationalen Lohn-, Renten- und Krankenkassensystems ein. Damit unterliegt die Sozialgesetzgebung zwangsläufig den Kampf der Interessen der sozialen Klassen, Gruppen und der im Reichstag konkurrierenden Parteien, dem Einfluss der Unternehmer nebst ihren Organisationen und den Gewerkschaften.

Zu Beurteilung der Wirksamkeit der Sozialpolitik und Vorbereitung sozialpolitischer Entscheidungen werden inzwischen umfangreiche Statistiken herangezogen und die Maßnahmen mit Hilfe von soziologischen, naturwissenschaftlichen und mathematischen Modelle geplant. Niemand erwartet davon heute die Lösung aller Probleme, denn die sozialen und moralischen, offenen und versteckten Atavismen sind inzwischen bekannt. Die soziale Frage reproduziert sich im Spannungsfeld von notwendigen Reformen und ökonomischen Möglichkeiten stets von neuen, wirft in den unterschiedlichsten Politikfeldern immer wieder Konflikte auf.

Nehmen wir an, wie am 12. Dezember 1905 (240) Posadowsky im Reichstag resümiert, dass die Wohlhabenheit im Land deutlich steigt. Dann wachsen die Ansprüche an die Schulbildung, die Kultur und materielle Lebenshaltung. Um sie zu befriedigen, verlangen binnen kurzem die Arbeiter und Arbeiterinnen nach einem größeren Anteil am Gewinn der industriellen Produktion. (Posa RT 14.01.1904, 267) Sind die ökonomischen Grenzen der Sozialpolitik damit aufgehoben? Hierauf suchten am 14. Januar 1904 die Abgeordneten des Reichstags Antwort und fragten:

Sollen "alle schwächeren Volkskreise Anspruch auf die Hilfe des Staates" haben?

Falls dem nicht genüge getan, sagten die Bittsteller am Horizont eine nationale Gefahr für Reich und Staat voraus. Der Herr Abgeordnete soll es mir nicht übel nehmen, antwortet Posadowsky (RT 14.01.1904, 267), "ich stehe auf dem Standpunkt, daß, wenn wir den Grundsatz annehmen, den er hier von der Tribüne des Reichstags erklärt hat, ich darin eine nationale Gefahr für Reich und Staat sehen würde." Unbenommmen dessen, ist es durchaus so, dass sozialpolitische Initiativen vom Herzen, meist viel Ehr bringen. Demgegenüber ist die Regierung jedoch verpflichtet, sie mit dem Kopf zu prüfen. "Wenn wir diesen Grundsatz [des Interpellanten] annehmen, dass jeder Anspruch auf die Hilfe des Staates hat, soweit es sich um die Sicherung seiner Zukunft handelt, dann würden wir allerdings dem Idealstaat des Abgeordneten Bebel sehr nahestehen." - Die humanistische Rationalität als kognitive Methode zu eliminieren, bringt keine dauerhaften und guten Ergebnisse hervor. Entscheidend für die Wirksamkeit der Sozialpolitik ist ihr Ziel und die dafür eingesetzten Mittel, die Posadowsky so charakterisiert:

"Die Kultur eines Volkes ist nicht nach dem Lebensstande der oberen Volksklassen, sondern nach den Daseinsbedingungen der zahlenmäßig überwiegenden Masse zu beurteilen. Auf dieser Auffassung ist unsere staatliche Sozialpolitik aufgebaut; Fürsorge für die, welche wegen Alters ihren Lebensunterhalt nicht mehr erwerben können, Hilfe in Krankheit und Unfall, weise Beschränkung der Arbeitszeiten, Unterstützung der unverschuldet Arbeitslosen, Schutz der Jugendlichen sind die Grundlagen der Volkspolitik geworden, die zuerst von Deutschland entwickelt und von hier aus in zahlreichen Staatswesen willige und zwangsläufige Nachahmung gefunden hat." (V&R 127)

 

In der rechtspolitisch schwierigen Debatte um die "Interpellation der Mitglieder des Reichtstages Albrecht und Genossen betreffend der am 10. Juli 1905 auf der Kohlenzeche Borussia bei Dortmund stattgehabten Unglücksfalle", unterbreitet Posadowsky den Vorschlag größere Armenverbände zu gründen. "Es ist ein offenes Geheimnis," instruiert er am 6. Februar 1906 den Reichstag, "daß heutzutage an vielen Orten geradezu das System herrscht, daß einem Mann, der sich annährend schon zwei Jahre in dem Orte aufgehalten hat, also daran ist, den Unterstützungswohnsitz zu erwerben, zur Abwanderung zwingt, indem man dafür sorgt, daß er keine Wohnung bekommt oder keine Arbeit oder dergleichen. (Hört! Hört! und sehr richtig! Links)." Das System der schimpflichen Abschiebungen muss dringend beendet werden, lautet seine Forderung, wozu es notwendig, größere Armenverbände zu bilden.  (Vorwärts 7.2.1906)

Unverhofft erhalten wir Einblick in sein Bild vom Arbeiter; Es war das Gegenstück zum drögen zoon politicon in Schafsnatur, den August Bebel (RT 22.6.1899, 2648) so beklagte: "Je dümmer, je anspruchsloser, je billiger der Arbeiter ist, je mehr er sich den Forderungen des Unternehmers fügt, destomehr ist er das Ideal unserer Staatsmänner." "So wollen Sie den Arbeiter: unterthänig, willig, gefügig, allen Anforderungen seines Unternehmers gehorchend."

Das war, selbst wenn es in der Bildungs- und Kirchenpolitik manche Differenzen mit der Arbeiterbewegung auzustreiten galt, nicht die Sache des Grafen von Posadowsky. Das Ansehen der Arbeiter und Arbeiterinnen - Original, man horche bitte auf! - muss gehoben, ihr Selbstvertrauen gestärkt werden. "Außerdem muß selbstverständlich die gerechte Behandlung des Arbeiters sowohl seitens der Regierungsorgane wie der bürgerlichen Gesellschaft hinzukommen, um sich das Vertrauen des Arbeiters zu erwerben und zu erhalten." (RT Posa 12.12.1905, 240)

 

 

Widerstand gegen die Sozialpolitik   zurück

Am 6. Juni 1899 passiert es:

Die Sozialdemokratie ersticht den preußischen Montanindustriellen Carl Ferdinand von Stumm (1836-1901), einen seiner prominentesten politischen Gegner.

Ein böser Traum, den Der Wahre Jakob im Juni 1899 mit eindrucksvollen Bilder(n) aus der Sozialpolitik illustriert.

 

 

Staatssekretär des Innern Arthur Graf von Posadowsky, im oberen rechten Bilddrittel zu sehen, wirkt teilnahmslos. Dann soll es eben Geschehen: Die Sozialdemokratie ersticht den preußischen Montanindustriellen Carl Ferdinand von Stumm (1836-1901), Geheimer Kommerzienrath, Rittergutsbesitzer, Major der Landwehr-Kavallerie a .D.. Der Reichstagsabgeordnete für den Regierungsbezirk Trier (Wahlkreis 6), Mitbegründer der Deutschen Reichspartei (DRP), Posadowsky´s hartnäckiger Widerpart und eigentliche Scharfmacher der "Zuchthausvorlage", plant Sondergesetze zur Unterdrückung der Sozialdemokratie und will das allgemeine Wahlrecht stutzen.

"Der Baron Stumm war kein ausgesprochener Arbeiterfeind", charakterisiert ihn 1920 Hans Ganz (332) in der Weltbühne. "Er hielt sich sogar für einen Freund Arbeiter. Nur hatte er von Arbeiterfreundschaft einen seltsamen Begriff - etwa wie jener Hohenzollern, der seinen Untertanen mit dem Stock die Liebe zu ihrem erhabenen Monarchen einbläuen wollte. Stumm baute gesunde Arbeitshäuser und für die Kinder seiner Arbeiter Kindergärten und Schulen. Aber in diesen Häusern wurden die Jungen und Mädchen vor allem zur Dankbarkeit erzogen."

Rechts unten im Bild Richard Roesicke (1845-1903), Reichstagsabgeordneter für den Wahlkreis Dessau / Zerbst. Generaldirektor der Schultheiß` Brauereien in Tornow bei Potsdam. Von 1890 bis 1898 Vorsitzender des Verbandes der deutschen Berufsgenossenschaften. Fraktionslos. Suchte im Reichstag Anschluss an die Freisinnige Vereinigung.

Links unten liegt Franz Hitze (1851-1921), Apostolischer Protonator, Professor für christliche Gesellschaftslehre an der Universität Münster, 1882 bis 1893 und 1898 bis 1912 Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses. Reichstagsabgeordneter des Zentrums.

 

Quelle: Bilder aus der Sozialpolitik. "Der Wahre Jakob." Nummer 336, Stuttgart, 6. Juni 1899, Seite 396

 

 

 

Seit Bestehen der Sozialgesetzgebung, erklärt am 13. Dezember 1897 (173) Arthur Graf von Posadowky-Wehner vor dem Reichstag, steuerten die Arbeitgeber eine Milliarde Mark zur Sozialpolitik bei. Täglich werden für diesen Zweck rund eine Millionen Mark ausgegeben. Man kann also sagen: "Deutschland ist seit 25 Jahren ein reiches Land, um so mehr haben die reichen Klassen die Pflicht, von ihrem Überfluss für die arbeitenden Klassen abzugeben."

"Die besitzenden Klassen haben aber noch mehr gethan; sie haben sich nicht beschwert, so oft ich auch mit Arbeitgebern gesprochen habe (ach! bei den Sozialdemokraten), - nein, meine Herren! - über die materiellen Opfer, die sie zu bringen haben aus Grund der sozialpolitischen Gesetze. Viel drückender sind die persönlichen Arbeitsleistungen, die ganzen öffentlich-rechtlichen Pflichten, welche die besitzenden Klassen im Interesse der Durchführung dieser Gesetzgebung zu leisten haben. (Sehr richtig! bei den Nationalliberalen .…" (Posadowsky RT 13.12.1897, 173)

 

Prügelknabe Posadowsky.
(Originaltext)

Kommentar. An der Prügelorgie gegen Graf von Posadowsky sind nach Bericht der auflagenstarken und renommierten Zeitschrift "Jugend" aus München beteiligt: Paul Singer von der SPD, Peter Spahn vom Zentrum, Waldemar von Oriola von der Nationalliberalen Partei, Wilhelm Kardorff, Deutschen Reichspartei, und Dr. Müller-Meiningen, Freisinnige Partei.

Prügelknabe Posadowsky. In: Jugend. Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben. Nummer 9. München, den 18. Februar 1904.

 

Allerdings muss die seine Aussage: "Die besitzenden Klassen beschweren sich auch nicht über die materiellen Opfer", etwas korrigiert werden. Weder im Reichstag noch in der politischen Öffentlichkeit besteht über die Notwendigkeit der Fortführung der Sozialpolitik Einigkeit. Ihre Gegner eröffneten mittlerweile die verschiedensten Kampfplätze, im Deutschen Reichstag, in Vereinen, Institutionen der Kirche und der Presse sowie periodisch erscheinenden Publikationen. Es gibt einen Standpunkt, der auch in Deutschland," analysiert Posadowsky 1907 ( RT 9.3.1907, 344) die Lage, "wenn auch in verschleierter Form, sich in der Öffentlichket bisweilen geltend macht, der, wenn er ganz sein Herz entdeckte ud aufschlösse, vielleicht erklärte: "Die Sozialpolitik war ein verhängnisvoller Schritt; der Kräftige in der Welt wird sich schon selbst behaupten, der Schwache wird untergehen."

Auf dem evangelischen Kongress 1909 in Heilbronn erwehrt er sich dieser Angriffe mit den Worten:

"Die Gegner der modernen Sozialpolitik, setzen sich meines Erachtens mit den Grundlagen nicht nur des Christentums, sondern mit der Sittenlehre aller gebildeten Völker in Widerspruch."

 

Scharfe Kritik am Sozialpolitiker Posadowsky ertönt am 24. Juni 1906 aus der Nummer 25 der Deutschen Arbeitgeber-Zeitung. Nach ihrer Auffassung trägt er "in erster Linie für den gesamten heutigen Zustand dieser Seite unseres öffentlichen Lebens" die Verantwortung. Also für die sozialpolitische Gesetzgebung sowie dafür, daß "das Korrektiv in Gestalt einer gesetzgeberischen Repression der Sozialdemokratie unterlassen wurde". Sie drücken ihre tiefe Unzufriedenheit über seine Amtsführung aus, welche in keineswegs erfreulicher Weise die "sozialpolitische Auffassung der leitenden Kreise während des letzten Jahrzehntes" widerspiegelt. Beim Lesen des Zeitungstextes baut sich allmählich die Sorge auf: Jetzt kommt die Forderung nach Ablösung. Nein, dies wollen die Arbeitgeber nicht. Da bleibt die Deutsche Arbeitgeber-Zeitung ganz klar und eindeutig: "Trotz alledem wünschen wir nicht den Rücktritt des Grafen Posadowsky." "Und zwar", man kommt es aus dem Staunen nicht mehr heraus, "vor allem aus Gründen der Gerechtigkeit." Was heißt das? Und sie bleiben keine Erklärung schuldig:

"Es ist undenkbar, daß ein Staatsmann von solchem Ernste eine verderbliche Entwicklung, wie wir sie soeben angedeutet haben, auf die Dauer für erträglich hielte. Ein neues Sozialistengesetz - darüber täuscht sich niemand - ist auf absehbare Zeit leider nicht zu erwarten. Aber die Abwehr gegen die sozialdemokratische Flut kann in den sozialpolitischen Gesetzen selbst angebracht werden. Die nächste Gelegenheit bietet sich in der Vorlage über die Berufsvereine und in der durchgreifenden Reform der Arbeiterversicherungsgesetzgebung, insbesondere der Krankenversicherung."

"Es wäre grausam ungerecht, wollte man dem Grafen Posadowsky diese Gelegenheit, so günstig wie er noch keine gehabt hat, um seiner Pflicht gegenüber der sozialdemokratischen Gefahr zu genügen, versagen."

 

 

Das gestörte soziale Gleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit wird durch den Druck von Pfaffen und Polizisten zugunsten der Enterbten wieder hergestellt. (Originalbildunterschrift)

 

 

Der Wahre Jacob, Nummer 505, Stuttgart, den 31. Oktober 1905, Titelblatt, Ausschnitt

 

Ein typischer, sehr verbreiteter und immer wiederkehrender Vorwurf gegen die moderne Sozialpolitik lautet, dass sie an den misslichen Verhältnisse des Staatshaushalts schuld ist. Die Ausgaben für das Reichsversicherungsamt und der Zuschuss des Reiches, erörtert Posadowsky 1909 die Kostenproportionen auf dem evangelischen Kongress in Heilbronn, für die Invalidenrente betragen nach dem Voranschlag für das Jahr 1910 rund 53 ¼ Millionen Mark, bei einem Reichsetat, der bei 2.856 Millionen Mark abschließt.

 

"Die Hilfe", Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und geistige Bewegung, wirft Graf Posadowsky vor, dass er eine "peinlich ausgearbeitete Sozialpolitik der Bevormundung" betreibt, worauf der am 11. April 1907 (685) im Reichstag erwidert:

"Ich wäre sehr gespannt gewesen gegenüber diesem Artikel des Abgeordneten [Friedrich] Naumann [(1860-1919)] zu hören, wie er sich denkt, dass eigentlich die Sozialpolitik im Einzelnen, im praktischen Wege der Gesetzgebung getrieben werden solle."

Die Antwort atmet etwas von der Geduld, die ihm derartige Anwürfe abverlangen, denn eine bevormundende oder gar polizeistaatliche Sozialpolitik, die kam ihn nie in den Sinn, weil er sich den daraus erwachsenen Problemen bewußt war. Er will nicht alle Erwerbszweige polizeilich reglementieren, "um schließlich einen sozialistischen Polizeistaat herbeizuführen, in dem sich die Arbeiter nicht wohler befinden dürften als bisher, in dem aber die besitzenden Klassen sich zu bewußten Gegnern des Staats herausbilden würden." (Posa RT 13.12.1897)

 

Georg Wilhelm Schiele aus Naumburg an der Saale schwärmt 1913

"Von einer neuen und anderen Sozialpolitik".

Was er im Grenzboten, der Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst, dazu darbietet, ist wahrscheinlich der ausgefallenste, krasseste und reaktionärste politische Gegenentwurf zur aktuellen Sozialpolitik vom Typus Berlepsch / Posadowsky. Er nennt sie auch

"römische Sozialpolitik",

weil sie volksverderbend ist, die gefährliche Masse verhätschelt, Abhängigkeiten prämiert und die Unternehmerkraft besteuert.

 

Die wirklichen Sachverständigen der deutschen Wirtschaft sind auf der Pariser Konferenz nicht zugegen. (Originaltext)

Der Wahre Jacob. Nr.11, 90. Jahrgang. Stuttgart, den 29. Mai 1929, Titelseite, Ausschnitt

 

 

Die Grafik kommentiert die Tätigkeit eines Gremiums internationaler Finanzexperten in Paris, wo sie als "Young-Kommission" von Februar bis Juni 1929 verhandelte, um die Zahlungsverpflichtungen des Deutschen Reichs auf Grundlage des Versailler Vertrags zu regeln.

 

Indes mit unverhältnismässigen Opfern, lautet das moralische Axiom Schieles, ist wenig zu erreichen, denn die Lage ist so: Einige Volksklassen leben auf Kosten anderer. Einige Mittelstandsexistenzen sind ruiniert. Einige Großhändler sind reich geworden. Den Bedürftigen jedoch hat das alles nicht viel geholfen. Jawohl, der produktive Stand ist geschädigt.

"Schlimmer aber ist, das unsere vielgerühmte Sozialpolitik auf die Dauer eine lähmende, krankmachende Wirkung auf das Volk haben muß." (305) Als Gegenvorschlag präsentiert der völkischnationale Politiker "eine Sozialpolitik deutschen Geistes, die gegründet ist auf den altgermanischen Geist der Freiheit des einzelnen …" (311)

Diese Sozialpolitik ist ein konstitutives Element des Völkischen Staates, den Georg Schiele 1926 im Heft 9 der "Naumburger Briefe" entwirft. Nun ist "Die Zeit des Reicherwerdens" vorbei. Heran zieht "Not und Härte". Das Wolhlleben der Vielzuvielen ist zu Ende.

Historisch gesehen bereiten die Querelen um die lähmende, krankmachende Wirkung der Sozialpolitik oft schikanöse staatliche Maßnahmen gegen die Besitzlosen, Lohn- und Gehaltsabhängigen, Arbeitslosen, Alleinstehenden und Menschen mit ernsten Leistungshandicaps vor. Die Großindustrie dachte nach 1923 überhaupt nicht daran, sich dafür einzusetzen, erhöhte Steuereinnahmen des Staates zur Kompensation von Ungerechtigkeiten der Hyperinflation einzusetzen. Doktor Paul Silverberg (1876-1959) erörtert dies ausführlich am 4. September 1926 in Dresden auf der Tagung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie (RDI). Er sah dafür keine Notwendigkeit, zumal die Sozialpolitik, "die quantitative und qualitative Überspannung sozialer Fürsorge bei uns die Selbstverantwortung tötet".

 

 

Ich bin aber, solange ich in diesem Amte stehe,
ein Staatssekretär  f ü r  Sozialpolitik 
zurück
Ära Posadowsky 12.08.1893 bis 24.6.1907

Im Reichstag stößt die Fortsetzung der Sozialpolitik auf Widerstand, was von ideologischen Kontroversen begleitet ist. Seine Gegner stellen das

Prinzip der Kontinuität.

grundsätzlich in Frage. In der Reichstagsdebatte am 9. März 1907 (344/345) weist er als Staatssekretär des Innern diese Fraktion in die Schranken:

"Aus den bisherigen Kundgebungen der Regierung geht hervor, dass sowohl der Herr Reichskanzler wie selbstverständlich auch die verbündeten Regierungen fest entschlossen sind, die Sozialpolitik fortzusetzen."

Dann argumentiert er. Ein Volk, dass in der Bildung fortgeschritten, stellt auch im Unglück höhere Anforderungen an seine Lebensführung als die Armenpflege gewähren kann.

"Deshalb kann ein Volk von dem Kulturstande des deutschen Volkes die Sozialpolitik nicht aufhalten und nicht aufgeben, trotz aller stillen und offenen Gegner."

Folglich kann die Sozialpolitik kein "verhängnisvoller Schritt" dagegen sein.

Seit der freikonservative Abgeordnete Karl Freiherr von Gamp-Massaunen (1846-1918) ab Juni 1907 seine Angriffe gegen ihn, den Vizekanzler richtete, wofür er gleichsam in den Freiherrenstand erhoben, und die Norddeutsche Allgemeine jede Woche vom bornierten Unternehmerstandpunkt aus verleumderische Anklagen gegen die modernen Gewerkschaften erhob, konnte kein Zweifel mehr bestehen, dass die Tage Posas gezählt waren. (VS 25.5.1907)

 

 

 

"Die Freunde der Sozialreform an der Arbeit."
(Originaltitel)

 

 

"Wo die Maulwürfe so eifrig tätig sind, kann der Sturz nicht lange ausbleiben." (Original-Bildunterschrift)

 

Kommentar

Karl Freiherr von Gamp-Massaunen (1846-1918), Gutsbesitzer, Politiker, Reichstagsabgeordneter für die Freikonservative Partei.

Octavio Athanis Freiherr von Zedlitz aus Neukirch (1840-1919), Politiker, Reichstagsabgeordneter, Freikonservative Partei. Einer der Eifrigsten beim Sturz von Posadowsky.

Georg Ernst Julius Oertel (1856-1916), Chefredakteur der Deutschen Tageszeitung, Reichstagsabgeordneter, Deutschkonservative Partei (DKP).

Der Wahre Jacob. Nummer 543, Stuttgart, den 14. Mai 1907, Seite 5409 (Grafik farblich bearbeitet. Sonst keine Veränderungen vorgenommen.)

 

 

 

Meist äußern sich, skizziert der Staatssekretär des Inneren am 9. März 1907 (344) die Lage im Reichstag, die Widersacher der Sozialpolitik öffentlich nicht in schroffer Weise. "Die Freunde der Sozialreform" leisten Wühlarbeit. Sie bekämpfen jeden einzelnen (Fort-) Schritt und sorgen dafür, dass für den Schwachen nur das Notwendigste geschieht. "Und, meine Herren," streitet Posadowsky am 5. März 1907 (253) für seine Politik vor dem Hohen Hause, "dass gegen mich in der Öffentlichkeit, persönlich gehässige, giftige und verleumderischen Angriffe gerichtet sind, das ist allgemein bekannt ….  Es gibt eben Richtungen, die wollen, dass ein Staatssekretär gegen Sozialpolitik besteht.

Ich bin aber, solange ich in diesem Amte stehe,
ein Staatssekretär für Sozialpolitik.
(Lebhafter Beifall in der Mitte, links und bei den Sozialdemokraten.)"

 

 

Die Einkreisungs-Doktrin  zurück

Am 14. November 1906 entwirft Bernhard von Bülow vor dem Deutschen Reichstag die Einkreisungs-Doktrin. Während Entfesselungskünstler Harry Houdini am 8. Dezember 1915 dem staunenden Publikum vorführt, wie man sich aus der Zwangsjacke frei in der Luft an einem Seil hängend befreien konnte, gelingt es den meisten Deutschen nicht, die Einkreisungs-Doktrin abzulegen.

Gustav Stresemann (1878-1929) sprach am 13. April 1919 (913) auf dem Parteitag der Deutschen Volkspartei (DVP) in Jena "von dem von allen Seiten bedrohten Deutschen Reich.

"Deutschland als Militärstaat war im Jahre 1914 eingekeilt zwischen zwei Länder," schreibt Adolf Hitler in Mein Kampf, "von denen das eine über die gleiche Macht und das andere über eine größere verfügte. Dazu kam die überlegene Seegeltung Englands. Frankreich und Rußland allein boten jeder übermäßigen Entwicklung deutscher Größe Hindernisse und Widerstand."

Paul Rohrbach (1869-1956) erkannte 1920 in der Einkreisung-Doktrin ein notwendiges Moment zur Bildung der "Einheit des nationalen Empfindens" (Monarchie, Republik ....). Tatsächlich übernahmen oder adaptierten viele Bürger und Politiker die Einkreisungs-Doktrin. Selbst Kaiser Wilhelm II., außerstande die komplizierte Risikostrategie des Generalstabes zu durchschauen, wähnte sich als unschuldiges Opfer einer angeblich von langer Hand vorbereiteten Einkreisungspolitik der Entente (W. J. Mommsen 2005, 221).

Die Einkreisungs-Doktrin leistete bei der Ausrichtung der politischen Emotionen zur Verfeindung und Homogenisierung des politischen Blicks zur europäischen Sicherheitslage wertvolle Dienste. Am 30. Juni 1913 verabschiedete der Reichstag in dritter Lesung die Wehrvorlage zur Erhöhung der Friedensstärke des Heeres um 117 267 auf 661 478 Mann. Deutschland ist nicht aggressiv, wirklich nicht!, sondern nur eingekreist - durch Frankreich, Großbritannien und Russland. Deshalb muss es wehrhaft bleiben. Ob Flottenrüstung, Erhöhung der Friedensstärke des Heeres oder Weltpolitik - alles konnte damit begründet werden.

Der Dechant des Naumburger Domkapitels steht am 24. August 1924 im Kreuzgang an der Nordwand im Dom vor der steinernen Gedenktafel zu Ehren der im Krieg gefallenen Domschüler und schweift in Gedanken zurück in das Jahr 1914, der Zeit, "der trüben Flut politischen Hasses und heimlicher Begehrlichkeit unserer Feinde  r i n g s u m." Allerdings trennt er 1919 "ringsum" vom deutschen Anspruch der Weltpolitik ab, wodurch es eine deutlich andere Bedeutung erhält. Das Konzept der Weltpolitik unterzieht er gesondert einer Kritik.

 

 

Kolonialpolitik und Weltstellung (Bernhard von Bülow)  zurück

Ende 1906 löst Bernhard von Bülow den Reichstag auf. Im Ergebnis der Neuwahlen am 25. Januar 1907 konstituiert sich ein neues politisches Kräfteverhältnis. Im Juni 1907 legt Graf Posadowsky sein Amt als Staatssekretär des Inneren nieder.

Eine mögliche Erklärung der Vorgänge bietet 1911 (41) Frank Ludwig in "Die bürgerlichen Parteien des Deutschen Reichstags " an. Reichskanzler Bülow musste versprechen, eine Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts herbeizuführen und einen Teil der Steuerhöhungen den Besitzenden durch Erweiterung der Erbschaftssteuer aufzuerlegen. Beides greift an die Wurzeln des Junkertums. Die Konservativen setzen sich zur Wehr, sprengen den Block und stürzen den Kanzler. Das ging nicht ohne Hilfe des Zentrums. Nicht die Kleinbauern aus dem Süden, nicht die Arbeitersekretäre aus dem Westen, sondern die aristokratischen Höflinge und hohen Beamten bestimmen den Gang des Zentrums.

Soweit die eine Erklärung.

Eine andere steht im Zusammenhang mit der Finanzierung der Kolonialpolitik und verlangt eine detailliertere und ausführlichere Darstellung.

 

 

Pardon wird nicht gegeben.
(Originalbildunterschrift)

 


Missionar: ... und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern.

Pardon wird nicht gegeben.
Der Wahre Jakob. Jahrgang 22. Nummer 485. Stuttgart, den 21. Januar 1905, Seite 4591


Im Morgengrauen des 20. Juli 1905 reißen in Nandete im Matumbiland (Deutsch-Ostafrika) eine Frau und zwei Männer Baumwollpflanzen aus dem Boden. Eine Aktion die zum Signal für den Aufstand der Maji-Maji wurde. Es folgen Massaker und Strafexpeditionen bis Chief Chabruma´s Kämpfer durch die deutsche Schutztruppe am 25. Juni 1906 in Ungoni eingeschlossen und vernichtet.

Der Aufstand der Maji-Maji gegen die repressive Kolonialherrschaft endet am 18. Juli 1908 mit der Erschießung von Rebellenführer Mpangiro.

1904 traten in Deutsch-Südwestafrika die Herero und Nama (von den Deutschen abschätzig als "Hottentotten" bezeichnet) in den Aufstand. Nach der verlorenen Schlacht am Waterberg, wollten sie durch Omaheke ins Betschuanaland (Botswana) ziehen. Deutsche Truppen verhinderten ihre Wasseraufnahme und ließen sie verdursten. Wer dem Massensterben entkam, vegetierte dahin oder starb oft im Konzentrationslager.

 

Allein für Ostafrika (Gesamteinnahmen 4.657.881 / Ausgaben 11.717.208 Mark) muss das Reich laut Budgetkommision des Reichstages 7.059.827 Mark an Zuschuß leisten. Kanzler Bernhard von Bülow legt im August 1906 dem Reichstag einen Nachtragshaushalt vor, der zusätzlich 29 Millionen Mark für die Kolonialtruppen und den Bau einer angeblich kriegswichtigen Eisenbahn vorsieht. "Man will

Weltpolitik großen Stils treiben,

man will endlich die langersehnte Kolonialarmee schaffen", konkretisiert am 14. Dezember 1906 der Vorwärts aus Berlin das Vorhaben der Regierung. Mindestens 5000 Mann, gegebenenfalls auch mehr, sollen in Südwestafrika bleiben.


"Woher? Wohin?" (Originaltext)


"Wir fahren herrlichen Zeiten entgegen." (Originaltext)

Der Wahre Jacob. Nummer  538, Stuttgart, den 19.März 1907, Seite 5356


 

Kommentar

Ein "Feuerwerker der Kolonialpolitik" (Vorwärts) am Lenkrad.
Bernhard Dernburg geboren 17. Juli 1865 in Darmstadt, getorben 1937. Dr. jur. und Dr. der Staatswissenschaften. Bankier und Politiker. Als Reaktion auf den Kolonialskandal
wurde er am 5. September 1906 zum Leiter der Kolonialpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes und im Mai 1907 zum Staatssekretär des Reichskolonialamtes ernannt. 1910 in China und Japan. Nach 1918 an der Gründung der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) beteiligt. 1919 im Kabinett Scheidemann Finanzminister und Vizekanzler.


Bülow im Auto liegend:
Bernhard von Bülow (1849-1929), 1897 Staatssekretär des Äußeren, von Oktober 1900 bis Juli 1909 Reichskanzler.

Posadowsky beim Absprung?
Arthur Graf von Posadowsky-Wehner (1845-1932), Staatssekretär des Reichsschatzamtes (1893), Staatssekretär des Inneren (1897), Reichstagsabgeordneter.

Stenzel auf dem Trittbrett.

 

Matthias Erzberger (1875-1921), vom Zentrum, 1907 Kandidat für die Reichstagswahl im Wahlkreis Biberach, Leutkirch, Waldsee, Wangen, wendet sich gegen die Kolonialkriege mit ihren Grausamkeiten, den Morden und dem Terrorismus. Er fordert die Reduzierung der Truppen und der beantragten Regierungsgelder. August Bebel, SPD, lobt am 3. März 1906 seinen Einsatz im Reichstag und prangert die deutsche Ausrottungsstrategie an. Kann sich aber eine "Kolonisation als große Kulturmission" vorstellen. Durch die Veröffentlichung skandalöser Zustände, zum Beispiel zur Tätigkeit der Firma Tippelskirch & Co. GmbH, forcierte Erzberger die politische Krise, die 1907 in die Reichstagsauflösung einmündet.

Als seinen Gegenspieler könnte man Bernhard von Dernburg (1865-1937) bezeichnen, seit 1907 Staatssekretär des Reichskolonialamtes, der in der Öffentlichkeit gerne eine "Kolonialidylle" mit "Sumpf-" und "Schwindelblüten" und "berauschender Zukunftsmusik" in den "rosigsten Farben" zeichnet. Von den Kolonialschwärmern des besitzenden Bürgertums wird dies gern aufgenommen. Der

"Feuerwerker der Kolonialpolitik"

will die Krise in der Kolonialpolitik überwinden, redet dazu vor allem die Ökonomie der Kolonialwirtschaft schön, was bei der SPD auf harte Kritik trifft. (Vorwärts 9.1.1901)

Reichskanzler Bernhard von Bülow interveniert am 13. Dezember 1906 gegen die widerspenstigen Abgeordneten des Reichstages:

"Die Regierung kann sich von den Parteien nicht vorschreiben lassen, wieviel Truppen sie für kriegerische Zwecke braucht." "Nochmals, es handelt sich um unsere Weltstellung."

SPD, das Zentrum, mit ihnen Posadowsky, und die Fraktion der Polen lehnen am 13. Dezember 1906 in zweiter Lesung den Nachtragshaushalt für das Kolonialamt zur Lösung der Finanzierung des Kolonialkrieges in Südafrike in Höhe von 29 Millionen Mark ab. Unmittelbar danach löst Reichskanzler Bülow auf Anordnung von Kaiser Wilhelm II. das Parlament auf. Als Termin für die Neuwahl des Reichstages wird der

25. Januar 1907 festgesetzt.

"Der Streitpunkt, der im Winter 1906 zur Auflösung des Reichstages führte," rekonstruiert Posadowsky am 1. März 1919 im Aufsatz "Innere Reichspolitik" (74) so: Er "kann nicht als solcher betrachtet werden, bei denen es sich ernsthaft um Versagung der Mittel zur nationalen Verteidigung gehandelt hat." Wenn das der Grund nicht war, warum entstand trotzdem diese Regierungskrise? Was war dann die "eigentliche" Ursache?

Es war doch wohl so, mit der Auflösung des Reichstages im  Dezember 1906, hoffte man nach den Neuwahlen mit den Nationalliberalen, Deutschkonservativen und Freisinnigen, einen konservativen Block im Reichstag formieren zu können, um auf diese Weise die Kolonial-Gegner zurückzudrängen.

 

 

1907: Arthur Graf von Posadowsky-Wehner im Wahlkampf

Auf einem Plakat steht der Schriftzug "aller Freisinnigen Wähler". Vielleicht ist es eine Aktion der Freisinnigen Volkspartei gegen die Kolonialpolitik und Militärvorlagen? Schwerlich zu glauben, weil bekannt, dass sie allmählich in das Lager der Flottenrüstung und Weltpolitik wechselten.

Herkunft, Datum und Autor des Fotos sind unbekannt. Am linken Bildrand ist auf dem Plakat der Name "Kaempf" zu lesen. Wahrscheinlich handelt es sich hierbei um den ehemaligen Stadtrat von Berlin, den Juristen und Reichstagspräsidenten (1912-1918) Johannes Kaempf (1842-1918). Seit 1901 Mitglied des Reichstags und Fraktionsvorsitzender der Freisinnigen Volkspartei. Er kandidiert im Wahlkreis Alt-Berlin, Cölln, Friedrichswerder, Dorothenstadt und Friedrichstadt-Nord. Am 25. Januar 1907 finden die Wahlen zum 12. Deutschen Reichstag statt. Auf dem Foto ist Arthur Graf von Posadowsky-Wehner gut zu erkennen. Es könnte eine Szene aus dem Wahlkampf von 1907 darstellen.

 

 

 

Reichstagswahlen 1907  zurück

Um Reichskanzler von Bülow zu stützen, bildeten Deutsch Konservative, Nationalliberale und Linksliberale ein Wahlbündnis, dass sich gegen das katholische Zentrum und die Sozialdemokratie richtete.

Am Wahltag - den 25. Januar 1907 - entscheiden sich 28,9 Prozent der Wähler für die SPD, womit sie 2,8 Prozent der Stimmen einbüßte und 38 Sitze verlor. Das Zentrum erreichte fast unverändert 19,4 Prozent, die Nationalliberale Partei 14,5 Prozent, die Deutschkonservativen 9,4 Prozent. Im Ergebnis war der Reichstag jetzt ohne Stimmen des Zentrums mehrheitsfähig, gestützt auf: Nationalliberale Partei + Deutsche Volkspartei + Deutschkonservative + Freisinnige Volkspartei + Freisinnige Vereinigung.

 

 

Verteilung der 397 Abgeordnetensitze
gemäss den Ergebnissen der Reichstagswahl
am 25. Januar 1907

 

SPD
Zentrum
NLP
DtVP
DRP
FVp
43 / -38
105 / +5
55 / +4
7 / +1
24 / +3
28 / +7
   
FVg
Region.
Bauern
DKP
Antisem.
Unabhä.
14 / + 5
29 / -3
9 / +1
60 / +6
21 / +10
2 / -1
           

Wahlbeteiligung: 84,7 Prozent

SPD - Sozialdemokratische Partei Dtl.

Zentrum - Deutsche Zentrumspartei

NLP - Nationalliberale Partei

DtVP - Deutsche Volkspartei

FVp - Freisinnige Volkspartei

DRP - Deutsche Reichspartei


FVg - Freisinnige Vereinigung

Antisemiten - Antisemitenparteien

DKP - Deutschkonservative Partei

Region. - Regionalparteien, Minderheiten

Bauern - Bauernpartei

 

Vom Ergebnis tief enttäuscht, der Wahlkreis Naumburg-Zeitz mit dem Kandidaten A. Thiele ging ebenfalls verloren, sucht die SPD nach den Ursachen . Es war hart. "Die "Gemäßigten" und "Taktierer" machten, die "Radikalen", also Genossen wie Rosa [Luxemburg] für die Niederlage verantwortlich." (Max Gallo 1988, 226)

Das "Einströmen neuer Wählermassen," meint die Volksstimme aus Magdeburg, "die bisher unterhalb des politischen Bewußtseins lebten, hat den bürgerlichen Parteien für den Augenblick ein starkes Übergewicht verschafft".

"Das Kennzeichen der Wahlen", entflechtet am 28. Januar 1907 die Leipziger Volkszeitung die Schwierigkeiten, "ist das Aufhören der bürgerlichen Opposition. Was übriggeblieben, ist ein trostloser Brei."

Bei Franz Mehring (1907) fällt die Vermessung der Wahlniederlage noch drastischer aus. Für ihn ist sie Ausdruck der Hohlheit und Nichtigkeit des Geredes, als seien die Wahlverluste eine Erfrischung oder Erneuerung des nationalen oder liberalen Gedankens. Jetzt soll die liberale Bourgeoisie die willige Dirne der ostdeutschen Junker spielen. Mit einem "Platzregen notorischer Reden" heißen die konservativen "Verbündeten" sie willkommen.

Sind endlich alle Ursachen entschlüsselt? Posadowsky deutet später - wie oben bereits erwähnt - im März 1919 an, dass überdies noch andere Rückbindungen für die Regierungskrise existierten. Welche könnten das sein? Auf eine stößt uns Rechtsanwalt Doktor Bernheim, dessen Mandant Martin Gruber (1866-1936), gesetzlicher Presseverantwortliche der "Münchner Post", sich ab 5. Juni 1907 wegen Beleidigung vor dem Schöffengericht in München der Privatklage von Doktor Carl Peters (1856-1918) erwehren muss. Beweismittel der Anklage sind die Zeitungsartikel "Hängepeters im Neuen Verein" und "Hängepeters über Nationalpolitik". In der Verhandlung eröffnen sich dem Beobachter unerwartete Zusammenhänge, als Bernheim zur Entlastung des Beschuldigten, was vieles in einem anderen Licht erscheinen lässt, Folgendes vorträgt:

"Das Auftreten des Dr. Peters in München fiel in eine sturmbewegte Zeit. Wegen einer an sich geringen Differenz zwischen Regierung und Reichstagsmehrheit war der Reichstag aufgelöst worden. Unter der nationalen Parole wurde zum Sturm geblasen gegen die Sozialdemokratie, Zentrum, Polen und Welfen. Die Vorgänge der jüngsten Zeit haben deutlich gezeigt, dass die Auflösung nur erfolgt war,
um die durch die Intrigen der Liebenberger Tafelrunde
erschütterte Stellung des Reichskanzlers zu befestigen."

Vom 7. bis 10. November 1906 besuchte Wilheln II. Eulenburg auf seinem Gut. "In Liebenberg war 1894 schon einmal ein Kanzler gestürzt worden." (Fesser 1991, 95)

Bernheim fährt vor Gericht fort:

"Um diese Tatsache zu verhüllen, wurde mit allen Mittel gegen die Mehrheitsparteien, vor allem gegen die Sozialdemokraten, gearbeitet. Neben dem Reichsverband zur Bekämpfung der Sozialdemokratie waren es besonders einige zweifelhafte Afrikaner, die auf die Sozialdemokraten losgelassen wurden, darunter auch Dr. Peters. Er …. entfaltet in München eine Wüste Agitation." (LVZ 26.Juni 1907)

Dass die Tätigkeit von Dr. Peters und seine Privatklage von außerordentlichem Interesse der Öffentlichkeit begleitet waren, steht außer Zweifel. Wochen vorher sind die Zutrittskarten für den Prozess bereits vergeben. Als Gäste erschienen im Gerichtssaal unter anderen August Bebel und der Landesvorsitzende der SPD in Bayern Georg Vollmar. Die große Resonanz des Gerichtsprozesses ist Ausdruck der zunehmenden Stimmung und Einstellung zur deutschen Kolonialpolitik, die gänzlich vom nationalen Standpunkt diktiert. Ihre Dignität bestimmt am 5. Oktober 1905 Staatssekretär Graf von Posadowsky-Wehner vom Reichsamt des Inneren in Berlin. Von Bravorufen und lebendigem Beifall begleitet, lobt er in seiner Ansprache vor dem Deutschen Kolonialkongress, die Haltung der Kolonialtruppe. Sie erwarb damit "die Dankbarkeit des deutschen Volkes für diesen Dienst am Vaterlande". Dr. Peters im gleichen Jahr den Titel "Reichskommissars a.D.". Ab 1914 kam noch eine Pension dazu. Ihm zum Ärger, bezeichnete die "Münchner Post" Peters als "abgeurteilt", was jetzt Verteidiger Doktor Bernheim vor Gericht so vollendet:

"Das ist er in der Tat. Er hat einen Neger und Negermädchen widerrechtlich aufhängen, andre Negermädchen züchtigen lassen." (LVZ 26.6.1907)

 

 

 

Bülow-Schlächterei  zurück

Verschiedentlich liest man, manchmal nur nebulös angedeutet, dann wieder klar ausgesprochen, Nachrichten über angebliche oder wirkliche Differenzen zwischen Bernhard von Bülow und seinem Staatssekretär des Innern.

 

"Reichskanzler darf Graf Posadowsky auf keinen Fall werden. Denn wo soll das hinaus, wenn einer für sein Amt den nötigen Verstand gleich mitbringt! Das ist gegen alle preußische Traditionen."

Posadowsky Hetze. In: Der Wahre Jacob.
Jahrgang 24. Heft 540, Stuttgart, den 2  April 1907, Seite 5367

 

Paul Wittko erzählt 1925, dass Posadowsky unter Reichskanzler Carl Viktor Fürst von Hohenlohe-Schillingsfürst seine "starkgeistige und früchtereiche staatsmännische Tätigkeit ungehindert ausüben" konnte. Als im Herbst 1900 Bernhard von Bülow übernahm, da brachten die "Temperamentunterschiede dieser beiden Männer bald allerhand Misshelligkeiten zu Tage".

Die politische Stimmung verschlechtert sich. Es verdichten sich Bruckstücke und Informationsreste bei der Formatierung des Bülow-Blocks zur einer neuen Koalition. Das Zentrums wird aus dem Machtzentrum abgedrängt. Differenzen in der Kolonialpolitik treten verstärkt an die Öffentlichkeit. Bei der Etatbehandlung im Reichstag zeigen sich verschärfte Gegensätze, an die viele bisher wenigstens in dieser Deutlichkeit nicht gewöhnt waren (DG 1906).

Zum 24. Juni 1907 verlässt Posadowsky das "Staatsschiff". Es traf ihn tief, nahm die Vossische Zeitung (29. Juni 1907) wahrt. Mit Würde sein "hippokratisches Antlitz" tragend, saß er während der "erregendsten Debatten auf seinen Platz, wie der steinerne Gott. Mitunter lächelte er still und ironisch in sich hinein ....", um dann "wieder sein Antlitz in Falten zu legen".

Zwanzig Jahre später erinnert sich der SPD-Reichstagsabgeordneter Gustav Hoch (RT 25.2.1927, 9249), Schriftsteller und ehemaliger Schriftleiter der Frankfurter "Volksstimme", an den Sturz von Posadowsky:
".... Graf von Posadowsky ist als ein Gegner des Arbeiterschutzes in sein Ministerium eingezogen. Ich erinnere an die 12 000 Mark Geschichte …. Allmählich hat aber auch Graf v. Posadowsky aus den Verhältnissen gelernt. Er hat sich schließlich geweigert, ein Minister gegen den Arbeiterschutz zu sein, sondern wollte ein Minister für den Arbeiterschutz sein. Deshalb musste er verschwinden."

"Weshalb musste er gehen," fragt die National-Zeitung am 26. Juni (1907). "Warum musste dieser Mann, dieser einsichtsvolle Politiker, dieser unermüdliche Arbeiter, dieser Minister, der wie kein andere in den unzähligen, vielverzweigten Branchen seines Ressorts Bescheid musste, der noch so voller arbeitsfreudiger Pläne für die nächste Session des Reichstages war, fallen?

Dafür lassen sich, in Stichworten formuliert, sechs Gründe nennen: Spannungen zwischen Bülow und Posadowsky, Opfer der Blockpolitik, zuviel Sozialpolitik, Rivalitäten, Kolonial- und Nationalitätenpolitik. Die letzten Drei tragen spekulativen Charakter, worauf hier, vorweg der Formulierung im weiteren Text, bereits ausdrücklich hingewiesen werden soll.

[Spannungen] Zwischen Bülow und Posadowsky traten erhebliche Unstimmigkeiten gelegentlich einer Beratung am 28. Februar 1907 auf. In der Retrospektive wirft ihn der Reichskanzler vor, über eine bestimmte Sachlage nicht ausreichend informiert zu haben.

 

Der Wahre Jacob aus Stuttgart stellt im Juli 1907 die Bülow-Schlächterei vor. Heute gibt es Metzelsuppe.

 

Bernhard von Bülow (1849-1929), Reichskanzler von 1900 bis 1909, hetzt seine Hunde auf Arthur Graf von Posadowsky-Wehner, der in der Karikatur "Metzel Suppe" symbolisch als Wurst dargestellt ist.

Die originale Bildunterschrift lautet: "Man sieht doch gleich die gute Rasse, - sie läst keinen `ran und schnappt den besten Happen weg."

Metzel Suppe. In: Der Wahre Jacob.
Jahrgang 24. Heft 548. Stuttgart, den 23. Juli 1907, Seite 5473

Paul Wittko schreibt 1925 im Kontext der Krise von 1906/07: "Posadowsky, stets unbedingt wahrheitswillig und von großer, fast zu großer Ehrlichkeit ...."

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Außerdem erwartete er von ihm bei der Vertretung seiner Politik mehr Unterstützung. Der Chef wurde krank und sein Staatssekretär für Inneres übernahm regulär die Leitung der Reichsgeschäfte. Obwohl hierfür zweifellos zuständig, führte die Reichskanzlei sie parallel und selbständig weiter. Sie unterzeichnete Dokumente "Im Auftrage des Reichskanzlers". Das führte natürlich zu weiteren, ernsten Verstimmungen. (Arnim / v. Below 1925) Als dann noch bekannt wurde, dass der Staatssekretär Bestrebungen des Zentrums unterstützt haben soll, geredet wurde gar über die parteipolitische Unterstützung des Zentrums aus dem Reichsamt heraus, war das Maß voll.

Nicht um Unterschiede in der Popularität herauszuheben, sondern darauf bedacht, Graf von Posadowsky aus dem Amt zu entfernen, weist Georg Oertel (1856-1916) im Februar 1906 darauf hin, dass er seine Reden "anders abtönt und zuspitzt" als Reichskanzler Bernhard Bülow und "für zutreffende Bemerkungen von sozialdemokratischer Seite her nicht selten ein "Sehr richtig!" erntet." (VS 13.2.1906)

[Opfer der Blockpolitik] Zur "Vorgeschichte des Ministerwechsels" gehört, berichtet sie weiter, dass die Position des Staatssekretärs des Inneren seit seiner skeptischen Bemerkungen in einer Reichstagsrede zur "Blockpolitik" erschüttert war. "Den Kaiser, der sich vollständig auf den Boden der Blockpolitik gestellt hat, an der auch heute festhält, hatte diese Rede sehr unangenehm berührt." Weil er sich davon nicht mit Entschiedenheit und Deutlichkeit distanziert, "musste er fallen als ein Opfer der Notwendigkeit der unbedingten Einigkeit in der Regierung".

Aber es ist nicht so wie die Vossische Zeitung es am 29. Juni 1907 kommentiert, dass er die Kriegserklärung an das Zentrum mit seinen 105 Abgeordneten nicht verstanden und nicht billigte. Verstanden hatte er wohl, nur ein radikaler Bruch mit ihm, worauf Kaiser und Reichskanzler abzielen, kommt ihn absolut ungelegen, weil ohne sie seine Sozialpolitik nicht mehr durchsetzbar ist. Deshalb ist er gegen die Auflösung des Reichstags. Der Abschied als Staatssekretär des Innern wäre dann, um es zu wiederholen, tatsächlich ein Opfer an die Blockpolitik.

[Zuviel Sozialpolitik] Zuviel Sozialpolitik wurde nach Ansicht der Deutsch-Konservativen und bestimmten Linksliberalen Gruppen geübt, die einen weiteren Ausbau der Sozialgesetzgebung beziehungsweise den Staatsinterventionismus überhaupt ablehnten (Einleitung 1987, 5).

"Wenn soll denn eigentlich der Ministerwechsel zufriedenstellen," bewertet der politische Liberalismus am 26. Juni (1907) in der National-Zeitung die Lage, "wenn nicht die Kreise, die seit langem einen Stillstad der Sozialpolitik ein schärferes Vorgeben gegen die Sozialdemokratie verlangen."

Seine Gegner nutzen die sich ausbreitende Abnutzungsstimmung. "Es soll nicht geleugnet werden," kommentieren "Die Grenzboten" aus Leipzig die Lage, "dass die Auffassung ziemlich verbreitet ist,

es werde etwas zuviel Sozialpolitik getrieben;

weder sei es in den betreffenden Bevölkerungskreisen möglich, sich in die Fülle der neuen Gesetze und Verordnungen einzuleben, noch werde damit irgendwelcher Einfluß auf die Sozialdemokratie selbst und bis zu dieser bisher noch nicht gehörende Arbeiterschaft erreicht." Erstaunlicherweise, weil so nicht unbedingt zu erwarten, fügen sie an: "Staatssekretär Posadowsky hat es bei seiner außerordentlichen Hingebung beim Zolltarif um die Konservativen wahrlich nicht verdient, dass diese im Parlament und in der Presse gegen ihn Front machen, wobei diese Frontstellung bis weit in die nationalliberalen Kreise Verlängerung findet." (DG 1906)"

 

 

Das Kellerfest des Hottentottenblocks.
Aus: Der Wahre Jacob, Nummer 542, Stuttgart, den 30. April 1907, Seite 5367   zurück

Am linken Bildrand schieben Elard von Oldenburg aus Januschau (1855-1937) und Graf Hans Wilhelm Alexander von Kanitz-Pondangen (1841-1913) den Staatssekretär des Innern Arthur Graf von Posadowsky-Wehner (1845-1932) aus dem Fenster. Beide sind renommierte Mitglieder der Deutschkonservativen Partei, die die Schutzzollpolitik unterstützten und in Opposition zum Reichskanzler Caprivi standen. Elard von Oldenburg organisiert am 1. Oktober 1927 die von Skandalen umrahmte Übergabe der Schenkungsurkunde an Reichspräsidenten Paul von Hindenburg für Gut Neudeck. Er ist tief in den Ost-Hilfe-Skandal verwickelt. Die regionale Opposition gegen Hitler und die um den SPD Unterbezirk Zeitz-Weißenfels-Naumburg gruppierte fortschrittliche Arbeiterschaft verfolgte den Osthilfe-Skandal mit großer Aufmerksamkeit. Die Wirkung auf ihr politisches Bewusstsein ist bis heute unterschätzt und die systemische Wirkung mit den machtpolitischen Vorgängen 1932/33 in Berlin sind durch uns bis heute nicht voll verstanden.

Zum Kellerfest des Hottentottenblocks gebe sich weitere Gäste die Ehre: Waldemar von Oriola, Reichstagsabgeordneter für Friedberg, Büdingen, Lauterbach, Alsfeld, Schotten, NLP; Edmund Stengel, Reichstagsabgeordneter für Rügen, Stralsund, Franzburg, FVP; Hermann Paasche, Reichstagsabgeordneter für Kreuznach, Simmern, NLP; Ernst Bassermann, Reichstagsabgeordneter für Rothenburg (Oberlausitz), Hoyerswerda, NLP; Adolf Stöcker, Reichstagsabgeordneter für Wittgenstein, Siegen, Biedenkopf, Antisemiten (CSP); Friedrich Naumann, Reichstagsabgeordneter für Heilbronn, Besigheim, Leonberg, Maulbron (FVg); Bernhard von Bülow; Karl von Einem, preußischer Generaloberst, auch bekannt durch den Antrag vom 17. April 1907 bei der Reichsanwaltschaft gegen Karl Liebknecht wegen Veröffentlichung der Schrift "Militarismus und Antimilitarismus"; Paul von Rheinbaben, Politiker, Regierungsbeamter, Deutsche Reichspartei; Bernhard von Dernburg, Politiker, Bankier, 1907 Staatssekretär. Peter Friedrich Tirpitz, 1896 Chef des ostasiatischen Geschwaders, 1897 Staatssekretär des Reichsmarineamtes; Otto Wiemer, Wahlkreis Nodhausen, Hoehenstein, FVP.

Abkürzungen
CSP - Christlich Soziale Partei
FVP- Fortschrittliche Volkspartei
FVg - Freisinnige Vereinigung
NLP - Nationalliberale Partei

 

 

[Rivalitäten] Gewiss spielen beim seinem Sturz Rivalitäten eine Rolle. Die Freie Presse aus Wien tratsch am 25. Oktober 1900 aus, dass Graf Posadowsky und Miquel nicht nur stille Rivalen für das Reichs-Kanzleramt sind, sondern noch als Bülow´s Rivalen gehandelt werden.

"Man hatte freilich dem Kaiser geflissentlich eingeredet," erzählen am 3. Juni 1930 die Danziger Neueste Nachrichten, "dass der Graf krankhaft ehrgeizig sei und durchaus Kanzler werden wolle. Unter Hohenlohe war er verschiedene Male dicht dran, den Posten zu bekommen, bis Bülow als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes die Gunst des Kaisers erwarb und Dauphin der Wilhelmstraße 77 wurde."

 

Auszug aus der Bielefelder Rede von Graf Posadowkys zur Kolonialpolitik aus dem Jahre 1911:

[a] "Wir haben ein ungeheures Kolonialgebiet zu erschließen, wozu gewaltige finanzielle Mittel im Laufe der Zeit notwendig sein werden. Große, wilde Flächen ohne reiche Mittel zu ihrer Erschließung sind aber rein imaginäre Werte. Ein Land wo die Europäer nicht arbeiten können, und die Eingeborenen nicht arbeiten wollen, bedeutet keine Verstärkung unserer wirtschaftlichen und politischen Macht."

[b] "Alle kolonialen Erwerbungen hat man bisher damit begründet, dass wir bei unserer schnell wachsenden Volkszahl Gebiete für deren Auswanderung erwerben müssen. Es ist aber falsch, zurzeit von einer Überbevölkerung Deutschlands zu sprechen."

Quelle: Graf Posadowskys Kandidatenrede. "Lands-Zeitung". Bregenz, den 1. Dezember 1910

 

[Kolonialpolitik] Was befürchten die Gegner von einem Reichskanzler Graf von Posadowsky? Die Infragestellung der Kolonialpolitik? Sicher überliefert ist, dass er in ihr kein Allheilmittel gegen Arbeitslosigkeit und Bevölkerungswachstums sah. Ob es als Streitthema geeignet war, sozusagen reichte, um die institutionalisierte Politik des Reiches weiter auszudifferenzieren, bleibt eine offene Fage. Zweifel über die Sinnhaftigkeit der deutschen Kolonialpolitik, weil sie nicht zur Stärkung der wirtschaftlichen und politischen Macht Deutschlands beitrug, äußerte Posadowsky bereits unter der Kanzlerschaft von Leo von Caprivi (1890-1894). Angeblich, so lautet ein typisches Statement aus dieser Zeit, wollte man damit der Überbevölkerung begegnen, die seiner Ansicht nach eigentlich nicht existierte.

Die Direktive vom Dienstherren Bernhard von Bülow lautete 1906 (3958): "Die Frage steht nicht so: ob wir kolonialisieren wollen oder nicht, sondern wir müssen kolonialisieren, ob wir wollen oder nicht." In dieser Frage sind zwischen dem Reichskanzler und seinem Stellvertreter gewisse Unterschiede zu erkennen. Erhärten lassen die sich speziell mit Passagen aus der Bielefelder-Rede von 1911. Allerdings, und dies erschwert ihre Interpretation bis zur logischen Unauflösbarkeit, stehen die Bielefelder-Aussagen zur Kolonialpolitik nicht im Gleichklang zu seinen Ausführungen vom 18. Januar 1912 im Volkshaus zu Jena, wo man ihn so zitieren kann:

"Wir müssen verlangen, dass wir an der noch nicht besetzten Erde unseren Anteil haben. Wir können uns nicht ausschließen lassen, wir haben einen Anspruch auf Kolonien, wo der Deutsche arbeiten und Leben kann."

[Nationalitätenpolitik] Unterschiedlich Ziele zwischen Bülow und Posadowsky deuten sich vage zur Revision der Nationalitätenpolitik an. Bülow bringt, wie oben bereits dargelegt, am 26. November 1907 in das preußische Abgeordnetenhaus den Entwurf eines Gesetzes ein, dass es erlaubt, polnischen Grundbesitz zu enteignen. Die Opposition wettert. Mit dem Blick auf die Reichstagswahlen droht am 27. Februar 1907 Ferdinand von Radziwill (1834-1926), Abgeordneter für den Wahlbezirk Adelnau, Schildberg, Ostrowo und Kempen in Posen und Vorsitzende der Polnischen Fraktion im Reichstag:

"Solange die Polen in Deutschland schlimmer behandelt werden, als die Eingeborenen in den Kolonien, können sie von uns keine Zustimmung zu der überseeischen Politik verlangen."

War das alles nach Art und Geschmack eines Posadowsky-Wehner?

Im Zusammenhang mit der Erörterung der Einkreisungs-Doktrin mußten wir zunächst feststellen, dass sie zur Aufhellung des Rücktritts im Juni 1907 vom Amt als Staatssekretär des Inneren nichts beiträgt. Wenn man es etwas komplexer betrachtet, dann vielleicht doch?

Posadowsky wird von Freund und Gegner als ehrgeizig charakterisiert. Er wolle sogar Kanzler werden, kolportierte man in politischen Kreisen nach Art des Schweizer Telefonrundspruchverfahrens. Wollte er das wirklich? - Da war der forcierte Flottenbau, die Entfremdung von England, Hänge-Peters und die deutsche Kolonialpolitik, die Eroberung von Tsingtau (Qingdao) und der chinesische Widerstand gegen die Unterdrückung, Ausbeutung und christliche Missionierung durch den Westen. Und im deutschen Lande infolge des umsichgreifenden, einengenden Nationalismus alldeutscher Art, die jetzt immer öfter anzutreffende Selbstüberschätzung der wirtschaftlichen Kräfte. War das die Politik für einen künftigen Kanzler Arthur Graf von Posdowsky-Wehner?

 

 

Der Sturz  zurück
"Sein Sturz entspricht", schaltet sich am 25. Juni 1907 die Volksstimme aus Magdeburg ein, "mehr noch als den Wünschen des Fürsten Bülow jenen der scharfmacherischen Reichspartei, die den ehemaligen Vertreter der Zuchthausvorlage, den Hauptmitarbeiter des Hochschutzzolltarifs, den Vertrauensmann der Landbündler und Industriebündler, seit er sich in der Auffassung seines Amtes zu etwas modernen Anschauungen gewandelt hatte, als ihren Todfeind zu behandeln pflegte."

 

"Wat rausschmeissen wollen Se mir. Ich habe vierzehntägige Kündigung. Mit mir jeht det nicht so wie mit Posadowsky`n."

Simplicissimus. 12. Jahrgang, No. 16. München, den 15. Juli 1907

 

"Über die Entlassung von Posadowsky", reicht am 26. Juni 1907 das Jenaer Volksblatt nach, "ist noch zu bemerken, dass er schon längst all den Kreisen der Großindustrie und des unsozialen Junkertums verhasst war, denen selbst die unvollkommene, zögernde und reaktionäre Sozialpolitik Posadowsky noch zu "revolutionär" erscheint." Besonders von den Montanindustriellen, bekam der Sozialpolitiker den Unwillen zu spüren.

Mit ihm scheidet ... aus der Reichs- und preußischen Staatsregierung,

bemerkt die Volksstimme (Magdeburg) drei Tage später,

"die einzige bedeutende Persönlichkeit, der letzte, dem auch der Gegner Achtung entgegenbringen konnte."

Die nachgesuchte Dienstentlassung, so heißt die amtliche Formulierung, ist am 26. Juni 1907 erteilt worden. Nachfolger wird der preußische Polizeiminister und spätere Reichskanzler Theodor von Bethmann Hollweg.

Der Staatssekretär des Inneren ist am Tag des Rücktritts 62 Jahre alt. Er verlegt jetzt seinen Wohnsitz nach Naumburg an der Saale, wo er bereits seit 1901 dem Domkapitel angehört.

Seine Entlassung vergißt die politische Öffentlichkeit nicht so schnell. Zum Beispiel kommt sie am 7. Februar 1913 im Bericht zur Reichstagssitzung unter der Überschrift "Kampf um die Macht" in folgender Weise wieder zur Sprache: "Das Auftreten des Staatssekretärs Dr. Delbrück erinnerte an die letzte Rede, die im Reichstage sein Amtsvorgänger Graf Posadowsky als Staatssekretär gehalten hat. Auch Graf v. Posadowsky erklärte damals den ostdeutschen Junkern, dass er ein "grundsätzlicher" Gegner ihrer Politik sei. Er wolle kein Minister gegen, sondern für die Sozialpolitik sein. Herr von Delbrück hat am Freitag [den 7. Februar 1913] dasselbe, wenn auch mit anderen Worten gesagt. Graf v. Posadowsky war kurze Zeit nach jener Rede aus seinem Amt ausgeschieden worden."

 

 

 

 

"Die Wohnungsfrage
ist nicht mehr eine soziale Frage,
sie ist jetzt die soziale Frage."  Posadowsky-Wehner, 6. Februar 1913, Reichstag  zurück

Besonders in den industriellen Zentren Deutschlands herrscht große Wohnungsnot. Kinderreiche Familien, Geringverdiener, Erwerbslose, Invalide, und Greise hausen in Löchern mit stickiger Luft und unzureichendem Sanitär. Alkoholismus und andere die Gesundheit zerstörende Laster haben in nicht unerheblichem Maße hier ihre Ursache. Der Mangel an gesunden, hellen Kleinwohnungen, läßt die Mieten weiter in Höhe steigen. Seit 1863 spricht man von "Trockenwohnern". Ein Begriff, der von Satirezeitschrift Kladderadatsch eingeführt und sich zur kulturkritischen Metapher mauserte.

Allmählich scheint sich in der Öffentlichkeit eine neue Sichtweise durchzusetzen. "Es ist in immer tiefere Kreise unserer Bevölkerung das Bewusstsein eingedrungen," beobachtet Posadowsky, "dass ein großer Teil der körperlichen und sittlichen Leiden der minderbemittelten Schichten aus den ungenügenden Wohnverhältnissen hervorgeht, die namentlich in den großen Städten bestehen. (Lebhafte Zustimmung rechts und links im Zentrum)." (RT 6.2.1913, 3549) Daß die Lösung der Wohnungsfrage für die Schloß-Besitzer anders aussieht als für die Arbeiter in Berlin und Leipzig, war ihm immer gegenwärtig, ohne das er der Versuchung verfiel, sich in den Klassenkampf zu stürzen. Aber er tritt, anerkennt 1907 die "Volksstimme" aus Magdeburg, der Ausbeutung der Mieter durch die Hausbesitzer und Grundbesitzer entgegen.

Die Wohnungsfrage ist von enormen und nicht zu überschätzenden Einfluß auf die Festigkeit und Tiefe politischer Überzeugungen der besitzlosen Klasse zu Staat und Regierung. "Es ist nicht das Denken der Menschen, das ihr Sein bestimmt, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Denken bestimmt", formuliert 1859 von Karl Marx als Faustformel in der Zur Kritik der politischen Ökonomie. Um es mit Posadowsky Worten auszusprechen: "Eine kräftige bäuerliche Siedlungspolitik in allen Teilen Deutschlands und eine

großherzige Wohnungspolitik

könnte einen entscheidenden Einfluss auf die politische Zukunft unseres Vaterlandes ausüben." (Posa, RT 1913, 3549) Rückt er deshalb die Wohnungspolitik in den Mittelpunkt? So könnte man schlußfolgern, unterstellt dabei aber unausgesprochen eine entsprechende pragmatische Konvention. Dabei wäre aber zu beachten, dass sein persönliches Motiv weder ökonomisch noch vorrangig machtpolitisch geprägt ist. Vielmehr verflechten sich in ihm normative Ansprüche an die gesellschaftliche Moral - Anstand, Altruismus, Mitleid - kombiniert mit einem komplementären christlichen Menschenbild und stimulierenden ökonomischen Leitorientierungen.

Die Wohnung bleibt der funktional-soziale Raum für die Gestaltung des familiären und persönlichen Lebens. Hundert freundliche Arbeiterhäuschen lösen das Problem nicht. Geräumige, hygienisch einwandfreie Großblöcke sind für den sozialen Wohnungsbau der Maßstab der Stunde. Posadowsky konzentriert sich auf die Bedürfnisse der Arbeiter und kleinen Angestellten, rückt sie in das politische Zentrum der Wohnungspolitik und unterbreitet folgende Vorschläge:

gesetzliche Festlegungen zum Bau von ausreichend Kleinwohnungen,

Wahrung des Gleichgewichts zwischen vorhandenen Kleinwohnungen und dem Wachstum der Bevölkerung (unter Beachtung der Geburten- und Sterberate sowie der Nachfrage an wachstumsbedingten industriellen Arbeitskräften),

finanzielle Förderung des Wohnungsbaus für die minderbemittelten Schichten,

Zweck und Mittel der gesetzlichen Förderung des Wohnungsbaus müssen in sachlicher Übereinstimmung mit den Notwendigkeiten zur Behebung der Wohnungsnot stehen,

Senkung der Mieten für die Reichs- und Kommunalangestellten, also Bau von staatlichen Wohnungen,

kein zusammendrängen der minderbemittelten Klassen in weit entfernten Vororten,

städtische Wohnungspolitik unter Förderung und Nutzung des Erbbaurechts.

Das Erbbaurecht ist [a] für die Städte, bedrängt er abermals am 28. Februar 1912 den Reichstag, die möglichst große Ländereien erwerben, das geeignete Mittel, um auf dem Wege des Kleinwohnungsbaus für die minderbemittelten Volksklassen gesunde und preiswerte Wohnungen zu schaffen. Allerdings müssen dazu die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches zum Erbbaurecht entsprechend ergänzt werden. [b] Die Städte können die Aufgabe nicht alleine lösen. Das Großkapital muss Mut und Luft haben, die Förderung des Wohnungsbaus mittels dem Erbbaurechts zu unterstützen. Nach seinen Erfahrungen, ist die Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem nur mittels öffentlicher und privat-unternehmerischer Investitionen möglich. Durch entsprechende Ergänzungen der Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches würde sich, dass Großkapital interessiert zeigen. Zurzeit ist das nicht der Fall, weshalb rechtlich an der Liquidität der Anlagen oft Zweifel bestehen.

 

Vom 16. bis 19. Oktober 1904 findet in Frankfurt am Main der

Erste Allgemeine Deutsche Wohnungskongress,

statt, den Posadowsky nachdrücklich unterstützt. Zur Eröffnung füllt sich ein riesen Kongressaal bis auf den letzten Platz. Erschienen sind Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, zum Beispiel der Nationalökonom und Sozialreformer Professor Lujo Brentano, der Journalist und SPD-Mitglied Albert Südekum, der Arzt und Soziologe Franz Oppenheimer, Doktor Baumert, als Syndikus der Hausbesitzervereine aus Berlin-Spandau sowie Fachleute aus der Wohnungswirtschaft. Eine bunte Gesellschaft. Tief bewegt sind die Kongressteilnehmer von Berichten über das Schlafgängerwesen oder die Not einer Familie mit 10 Personen, die nur in einem Zimmer lebt. Die Spaltung der Versammlung tritt in dem Moment ein, als der Organisationsausschuss des Allgemeinen Deutschen Wohnungskongress nur eine von ihm zugelassene Erklärung zur Abstimmung zulassen will.

Dagegen protestiert die sozialdemokratische Gruppe und veröffentlicht am Sonntag, den 18. Oktober ein Dokument, worin sie den preußischen Wohnungsgesetzesentwurf zur Linderung der Not als völlig ungeeignet bezeichnet, weil der Landtag die Klassenprivilegien pflegt und die Gemeinden rücksichtslos das Hausbesitzervorrecht realisieren.

In den Debatten und Ergebnissen des Wohnungskongresses sind unschwer die tiefen Gegensätze und Unterschiede erkennbar, die in der Gesellschaft allgemein und bei den verantwortlichen (Fach-) Politikern zur Lösung des Wohnungsproblems als soziales Problem bestehen.

 

Am

5. Januar 1910

bittet der Bayerische Verband für Wohnungsförderung
in München
Posadowsky-Wehner zum Vortrag unter dem Thema:

Die Wohnungsfrage
als Kulturproblem.

 

Die Posadowsky-Häuser,
Berlin, Wollankstraße 75

 

 

"Der Vaterländische Bauverein, der mit der Versöhnungs-Privatstraße in der Rosenthaler Vorstadt eine wegweisende Wohnanlage des sozialen Wohnungsbaus errichtet hatte, entschloss sich 1905 zum Bau einer zweiten Wohnsiedlung am Rand des St. Elisabeth-Kirchhofs II in Pankow. Die Posadowsky-Häuser (1) an der Wollankstraße 75-83B sind nach Arthur Graf v. Posadowsky-Wehner benannt, der als Staatssekretär im Reichsamt des Inneren die christliche Arbeiterbewegung förderte und für ein modernes Arbeiterschutzrecht sorgte. Die von Carl und Walter Koeppen nach dem Gedanken der Wohnreform angelegten Posadowsky-Häuser wurden in zwei Bauabschnitten ausgeführt. Die beiden vierflügeligen, um einen Innenhof orientierten Gebäude, die zusammen mit einem Mitteltrakt einen repräsentativen Ehrenhof umschließen, entstanden 1905-06, während die Wohnzeile entlang der Wollankstraße, erweitert durch kurze Seitenflügel, 1910-11 angefügt wurde. Die für damalige Verhältnisse großzügig bemessenen Arbeiterwohnungen umfassen ein bis zwei Zimmer mit Küche und Speisekammer, erweitert um Balkon oder Erker. Nahezu alle Wohnungen können quer gelüftet werden. Außergewöhnlich war die Beleuchtung mit elektrischem Licht. Die Bewohner, die sich als christliche und patriotische Gemeinschaft verstanden, konnten Badeanstalt, Spielplatz und andere genossenschaftliche Einrichtungen gemeinsam nutzen. Die Wohnanlage in der Art eines Landschlosses verdeutlicht die von der christlichen Arbeiterbewegung angestrebte Versöhnung zwischen den armen und vermögenden Schichten der Gesellschaft. Mit den Posadowsky-Häusern wandte sich der Vaterländische Bauverein von der historisierenden Bauweise ab, der er anfangs noch gefolgt war. Die Fassaden, gegliedert durch dreiseitige Erker und Balkone, sind betont einfach gehalten, wirken aber mit ihren steilen Dächern dennoch herrschaftlich und vornehm. Ein schmiedeeisernes Gitter begrenzt den gärtnerisch gestalteten Ehrenhof. Der Mitteltrakt des Ehrenhofs ist durch einen mächtigen Giebel hervorgehoben. Über dem Giebeldreieck ragt ein kreisrunder Dachturm mit Galerie und glockenartiger Haube auf. Die wenigen floralen und abstrakten Ornamente wurden nach 1950 beseitigt."

 

 

Zitiert aus: www. deutsche-digitale Bibliothek.
Datengeber Landesdenkmal Berlin. Rechteinformation: Landesdenkmalamt Berlin. Rechte vorbehalten - Freier Zugang

 

Nach Analyse einiger Tendenzen der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland, klingen bald kritische Untertöne zur Kolonialpolitik an: In den besten Kolonien, wie Südwestafrika, die 26 Jahre zu Deutschland gehören, siedelten lediglich 6 210 Deutsche, während sich die Bevölkerung im gleichen Zeitraum um 18 Millionen erhöhte. "Auch die wärmsten Vertreter einer starken Kolonialpolitik werden hiernach die Hoffnung kaum mehr aufrechterhalten können, dass unsere Kolonien imstande wären, einen irgendwie nennenswerten Teil unserer wachsenden Bevölkerung aufzunehmen."

Wenn wir den jetzigen Kulturstand halten wollen, kalkuliert der Graf, dann müssen ausreichend Wohnstätten geschaffen werden, die den gesundheitlichen und sittlichen Anforderungen genügen. Gegenwärtig lebt die Stadtbevölkerung zu vier Fünftel in Kleinwohnungen mit zwei bis drei Räumen. "Aber nur in sehr großen Entfernungen von ihrer Arbeitsstelle können sie sie finden `zum Schaden ihrer Arbeits- und Nachtruhe und ihres Familienlebens`". Etwa 63 Prozent der Bevölkerung leben in Zwei- bis Dreizimmerwohnungen. In einzelnen Orten sind sie bis zu 59 Prozent mit zwei, ja sogar mit drei Schlafgängern belegt, was "die kaum glaubliche Zerrüttung des Familienlebens in den Arbeiterfamilien" bedingt. Staat, Städte und Gemeinden müssen deshalb eine neue Richtung im Wohnungsbau einschlagen. "Während in dem hochindustriell entwickelten Belgien, in Brüssel, auf ein Haus nur 9, in Gent 5, in Antwerpen 7, in Lüttich 8, Bewohner entfallen, treffen in Westfalen in grösseren, selbst mittleren Instriestädten 20-22 Bewohner auf das Haus, und zwar von Häusern im ganz geringen Umfang." (Wohnungsfrage 5.2.1911, 83)

"..... gerade von der Entwicklung des Erbbaurechts, glaube ich," präzisiert er am 6. Februar 1913 (3548) vor dem Reichstag seine Vorstellungen, "ist eine sehr wirksame Förderung des Wohnungswesens zu erwarten; denn das Erbbaurecht hat den großen Vorzug, erstens, dass das bebaute Grundstück nicht aus dem Hypothekenverbande des Stammgrundstücks ausgelöst zu werden braucht; ferner erlaubt es auch minder bemittelten Personen, ein derartiges Grundstück im Wege des Erbbauvertrages zu erwerben, weil kein Kapital zu zahlen ist, sondern nur eine fortlaufende Rente, und endlich hat er für den Besitzer des Grundstücks den wesentlichen Vorteil, dass er Eigentümer seines Grundstücks bleibt, und ihm deshalb auch der Gewinn aus der Steigerung des Preises für den Grund und Boden zufließt, sobald die Erbbaufläche nach Ablauf des Erbbauvertrages wieder in sein Eigentum zurückkehrt."

Um den Wohnungsbau mit angemessenen Preisen realisieren zu können, müssen die Gemeinden endlich reichlich und vorsorgend Grund und Boden ankaufen. Für dringend notwendig hält er den Bau von Wohnungen für Reichsangestellte, damit, wie er es ausspricht, die Mieter der Ausbeutung durch die Hausbesitzer und Grundeigentümer entrinnen können.

Über den Münchner Vortrag 1910 fällt die sozialdemokratische Wochenschrift Die Neue Zeit (1910) ein vielsagendes Urteil:

"Und wenn Posadowsky noch nicht a. D. wäre, die Kreise, deren Interessen er als Minister vertreten hat, würden, ihn nach dieser Rede schonungslos wegjagen. Doch freilich als er noch im Amte war, hat er an den geheiligten Privilegien der Kapitalisten nicht gerüttelt."

 

Auf dem

Zweiten Deutschen Wohnungskongress
vom 12. bis 14. Juni 1911 in Leipzig

hält Doktor Graf von Posadowsky-Wehner als Ehrenpräsident die Eröffnungsrede. Er ist Fachmann auf dem Gebiet der Wohnungs- und Wohnungsbaupolitik, was in der deutschen Presse weithin Beachtung findet. Der ehemalige Staatssekretär und Stellvertreter des Reichskanzlers fordert Wohnungsgesetze und Vorschriften, die sicherstellen, dass gewisse mit dem Bebauungsplan einbezogene Landstücke nur mit Kleinwohnungen bewirtschaftet und die darauf errichteten Häuser ebenfalls nur als Kleinwohnungen benutzt werden dürfen.

Interessant, was am 25. November 1911 die sozialdemokratische Arbeiter-Zeitung aus Wien aus der Eröffnungsrede von Graf von Posadowsky zitiert, worauf sie also besonderen Wert legt:

"Unsere ganze Arbeit in der Wohnungsfrage muss bei fortgesetzten Wachstum unserer Bevölkerung und den nicht vorauszusehenden und zu beherrschenden Gründen des Zusammenströmens immer größere Massen an gewissen Schnittpunkten unseres wirtschaftlichen Lebens eine Danaidenarbeit bleiben, wenn wir nicht unterstützt werden durch Bestimmungen eines Wohnungsgesetzes, welches nicht nur gewisse Mindestforderungen für die Herstellung von Wohnungsgebäuden aufstellt, sondern auch den Verwaltungs- und Polizeibehörden das Recht gewährt, Art und Umfang der Benützung der Wohnräume entsprechend den Anforderungen der von Sittlichkeit und Gesundheit zu regeln."

Zusammenfassung: 1. Notwendig ist ein Wohnungsgesetz. 2. Staat und Kommunen müssen die Wohnungsnot bekämpfen. 3. Bei der Lösung des Wohnungsproblems sind unter allen Umständen sittliche und gesundheitliche Kriterien einzuhalten.

 

 

Reichstagsdebatte 1913

Am Freitag den 7. Februar 1913 führte der Reichstag seine Aussprache zur Wohnungsfrage fort. Der Grund für die unerwartete Ausdehnung bestand darin, dass die Junker das Thema für einen Vorstoß gegen die Reichsverwaltung und den Reichstag nutzten. Die Aufgabe übernahm Graf Kuno Westarp (1864-1945), Mitglied der Deutschkonservativen Partei (DKP) und ab November 1913 ihr Fraktionsvorsitzender im Deutschen Reichstag. Staatssekretär Clemens von Delbrück (1856-1921), Reichsamt des Innern, kündigte zuvor an, dass das Reich die Aufgaben übernehmen muss, wenn die Einzelstaaten, vor allem Preußen, dies nicht tun werden. In der Debatte entstand der Eindruck, als ob sich das Reich den Interessen der preußischen Junker fügen soll, dass nur seine Interessen und Vorteile kennt. Im Hintergrund, so Georg Ledebour von der SPD, ist der Sammelruf gegen die Arbeiterklasse und ihre Organisationen zu hören.

Posadowsky versucht am 6. Februar 1913 (3548) den Streit zu beruhigen, indem er darauf hinweist, dass das preußische Wohnungsgesetz veröffentlicht und auf der nächsten Tagung des preußischen Landtages beraten werden soll. "Ich meine, man wird sich bei dieser Lage beruhigen müssen. (Sehr richtig! rechts) Wir würden indessen meines Erachtens auf die Forderung eines Reichswohnungsgesetzes zurückkommen müssen, wenn entweder jenes preußische Wohnungsgesetz eine Gestalt bekäme, die nicht den wirklichen Bedürfnissen unseres Volkes entspricht." Am 12. Oktober 1918 (138) bescheinigt er dem preußischen Wohnungsgesetz, dass es die nachteiligen "Folgen der jetzigen Wohnungsverhältnisse, unter denen namentlich die unterbemittelten Klassen leiden, durch allgemeine Ausführungsbestimmungen abhelfen" will. "Zu diesem Zweck soll der Kleinwohnungsbau durch Gewährung erheblicher Staatszuschüsse gefördert werden ...." Entscheidend ist für ihn, dass "das Wohnungsbedürfnis der minderbemittelten Klassen" in einer Weise befriedigt wird, dass den "den sittlichen und gesundheitlichen Forderungen entspricht".

In der Reichstagsdebatte am 6. Februar 1913 (alles 3549) erweitert er den Ersten Hauptsatz der Sozialpolitik um die Aufgaben der praktischen Wohnungsbaupolitik. Jetzt kommt es darauf an, dass die Wohnverhältnisse in den Unterschichten und den Arbeiterfamilien schnell und spürbar verbessert werden. Denn:

"Die Wohnungsfrage ist nicht mehr eine soziale Frage
sie ist jetzt die soziale Frage.

"Wir unterstützen die Säuglingspflege, wir schaffen Jugendgerichtshöfe, wir verfolgen Laster und Verbrechen, damit kurieren wir aber nur auf die Symptome," schränkt Posadowsky ein, "wenn wir nicht die Hauptkrankheitsursachen, die sittliche bedenklichen Wohnungszustände, beseitigen."

"Will man die Wohnungsverhältnisse der Bevölkerung positiv fördern, so muß man auch finanzielle Maßregeln treffen - und solche erwarte ich vorzugsweise von den Bundesstaaten und den Gemeinden -, die es denen ermöglichen, die nur ein kleines Sparkapital besitzen und im Übrigen für die Erfüllung ihrer Verpflichtungen nichts als ihre redliche Arbeitskraft bieten können, sich damit in unserem Vaterlande ein gefundenes Heim zu schaffen."

 

Preußische Wohnungs-Gesetz vom 28. März 1918

Noch bevor der Krieg beendet, erlässt Preußen am 28. März 1918 das Wohnungs-Gesetz. Artikel 1 sieht "Enteignung mit Rücksicht auf das Wohnungsbedürfnis" vor. Posadowsky stellt das Wohnungsbedürfnis der wirtschaftlichen Unterklasse in den Mittelpunkt der Bemühungen. Die Entlassung der Kriegspflichtigen und die Abwanderung vom Lande in die Industriegebiete verstärkt den Wohnungsmangel. Von jedem Zuziehenden ist jetzt ein Nachweis über eine Wohnung zu fordern oder der Arbeitgeber stellt ihm eine solche bereit. Nur so lässt sich eine gewisse Ordnung im städtischen Wohnungswesen aufrechterhalten. Gefragt ist die Verantwortung des Arbeitgebers. Das aber gemeinnützige Vereine das Risiko übernehmen, die benötigten Wohnungen auf Vorrat zu bauen, hält er für Unwahrscheinlich. Es ist dringend ein Gleichgewicht zwischen vorhandenen Kleinwohnungen und dem Wachstum der Bevölkerung zu schaffen. Vor allem müssen Kleinwohnungen gebaut werden. (Wohnungsnot und Freizügigkeit, 12.10.1918, 136 bis 139)

 

1920 unterbreitet Graf von Posadowsky in

"Die Berliner Wohnungsfrage"

weitere Vorschläge und wiederholt zunächst:

"Von allen Fragen sind die Wohnungsfrage und die Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs diejenigen, die am tiefsten in das Volksleben eingreifen."

Typisch wieder der Realismus mit dem er vorgeht. Offensichtlich reichen, muss er registrieren, alle bisherigen Bemühungen, besonders wegen des schnellen Bevölkerungswachstums, nicht aus. Sie zeigen keinen durchschlagenden Erfolg. Und der wird weiter ausbleiben, warnt Posadowsky, solange nicht für die Benutzung der Wohnungen allgemein gültige Mindestanforderungen aufgestellt und deren Durchführung überwacht werden. Speziell für den Bau von Kleinwohnungen und deren Nutzung sind dringend Gesetze notwendig. Um zu niedrigen Mietpreisen zu gelangen, favorisiert er erneut das Erbbaurecht. "Entschließt man sich nicht zu durchgreifenden Massnahmen," warnt er, "so wird Laster und Verbrechen der Großstadt sich in einem Masse weiterentwickeln, das für das Volksleben nicht nur in den Großstädten, sondern des ganzen Landes bedrohlich wird."

 

 


Zweiter Teil 1911 bis 1932


Zum Inhaltsverzeichnis Erster Teil

Autor:
Detlef Belau


Urfassung: 2005.
2014 überarbeitet.

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