Grabrede für Christoph Hollaender (2009) Man hat mich gebeten, etwas über das Leben von Chris erzählen. Nicht leicht, das fand er selber auch. Chris
ist ein Blatt an einem bemerkenswerten Stammbaum. Der ursprüngliche Chris'
Ur Ur Großvater war Mendel Hess, einer der führenden Rabbiner, der
als einer der ersten Mischehen zwischen Juden und Christen schloss. Dies
war nur eine kleine Auswahl der interessanten Vorfahren unserer Familie. Er wurde in der Stadt Naumburg an der Saale geboren, in Sachsen, Deutschland. Seine Eltern erwarteten ein Mädchen, weshalb sie nicht sofort einen Jungennamen für ihn bereit hatten. Erst nach einem Monat wurde der am zweiten Weihnachtstag geborene Sohn beim Standesamt eingeschrieben mit den Namen Christoph Andreas. Vater Otto Hollaender war Rechtsanwalt und Notar. Ein Mann, der seine Gedanken über die Nazis am Anfang der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts in offenen Reden keineswegs versteckte. Seine Mutter Hildegard Wollesen war Lehrerin von Beruf. Er hatte eine ältere Schwester, zwei ältere Brüder und einen jüngeren Bruder. Chris bewahrte stets gute Erinnerungen an seine Eltern und er beschreibt, wie sein Vater alles mögliche machte, um die Kinder glücklich zu sehen. Bei schönem Wetter brachte er sie immer zu einem Wirtshaus, Schwimmbad oder anderswohin. Er hat seine Arbeit in der Kanzlei oft liegen lassen, um die Schönheiten des Lebens zu genießen. Bei der Überquerung des Flusses Saale durfte Chris immer den Fährmann bezahlen. Vater Otto rauchte Zigaretten, die er unter der Sonne mit einer Lupe anzündete. Mit dem Auto fuhr die Familie jeden Sommer für ein paar Wochen an die Ostsee. Die
Familie Hollaender lebte in Naumburg in einem großen Haus, mit ebenso Eines Tages stand das Auto vor dem Haus auf der Straße. Damit es nicht den Abhang hinunterrollte, waren vor die Räder Steine gelegt worden. Chris setzte sich hinter das Lenkrad, und sein älterer Bruder Jürgen nahm die Steine weg. Erst langsam, dann schneller, rollte das Auto bergab, bis es an einem kleinen Platz, wo ein Denkmal stand, zum Stillstand kam. Das Auto ist längst verschwunden, aber das Denkmal ist immer noch da. Nicht nur zu Ehren einer unbekannten Person oder eines unbekannten Ereignisses, sondern für mich vor allem zu Ehren von Chris. Sieht man genau hin, ist den Schaden, den das Auto hinterließ, immer noch sichtbar. Neben einem Auto hatte die Familie Hollaender als eine der wenigen in Naumburg Telefon. Die Nummer hat Chris sein Leben lang im Kopf behalten. Das
reiche Leben Chris' nahm eines Tages ein jähes Ende. Februar 1933 wurde der
Zugang zur Kanzlei seines Vaters von SA -Leuten blockiert. Vor der Haustür In
Paris folgten Jahre voller Armut. Trotzdem bewahrte er auch einige gute Die
Pariser Zeit hat ihre Spuren hinterlassen, ich erinnere hier nur an Chris' Vorliebe
für die Baskenmütze, die man ihn vor kurzem noch an kühleren Tagen
tragen sehen konnte, sowie an die französische Sprache, die er in seinen
letzten Jahren noch aus der Schublade zog. Und dann natürlich nicht zu vergessen
ein Glas Wein, das er bis zuletzt genießen 1935 wurde er, alleine und erst zehn Jahre alt, von seinen Eltern von Paris nach Haarlem geschickt. Am Gare du Nord sah er seinen Vater zum letzten Mal. Er kam in Haarlem zu Lilli und Manfred Pollatz, deutschen Quäkern, die deutschen jüdischen und halb-jüdischen (ein Begriff, der mir persönlich nicht gefällt) Babys und Kindern ein Dach über dem Kopf boten. Als Lehrer unterrichteten sie auch die Kinder. Chris hatte sehr viel Heimweh nach seinen Eltern, zumal es in Haarlem, wo es zwar auch einen großen Garten gab, lange nicht so gemütlich war wie im Elternhaus in Naumburg. Es war schwer um regelmäßig an einem Bahnübergang den Zug nach Paris durchfahren zu sehen. Untergetaucht hat er in Haarlem, trotz einiger spannender Momente, da er beinahe entdeckt wurde, den Krieg überleben können. Letzteres im Gegensatz zu zweien seiner Brüder, die1942 im Konzentrationslager ermordet wurden. Sein Vater war 1937 in Paris verstorben, an einer Kombination von Grippe und schwacher Konstitution. Nach
dem Krieg bot sich Chris die Möglichkeit, nach Australien zu emigrieren,
wo sein älterer Bruder Jürgen inzwischen als George Holland durchs Leben
ging. Chris aber wollte, da er gerade einigermaßen in den Niederlanden Wurzeln
geschlagen hatte, nicht schon wieder einen neuen Start machen. Deutschland kam
für ihn als Heimat für immer nicht mehr im Frage. In
meinen Augen war Chris ein grenzüberschreitender Mensch. Sowohl im buchstäblichen
wie im übertragenen Sinne. Mit einer teilweise jüdischen Herkunft hat
er meinen Partner Nabil, einen Palästinenser, in der Familie akzeptiert.
Er war sehr weitdenkend, konnte Fragen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten
und wußte Menschen unterschiedlicher Herkunft und Interessen zu vereinigen.
Er reiste viel und gerne, und ich fand es als Kind immer sehr interessant, daß
in unserem Haus Menschen aus den verschiedensten Ländern, obwohl für
mich unverständlich, ein und aus gingen.. Innerhalb unseres Landes, hat Chris sich perfekt an die Landesbedingungen angepasst. Er tat alles dafür, daß er akzentlos Niederländisch sprach, und sein Name musste als Hollander ausgesprochen werden. Das e in der Mitte, worauf er auf dem Papier so stolz war, durfte man nicht hören. Hollender wurde sofort korrigiert. Es wäre leichter gewesen, hätte er seinen Namen, wie sein Bruder, drastisch eingekürzt in Holland. In Castricum war Chris politisch aktiv und einige Zeit sogar Mitglied im Gemeinderat. Er war Mitbegründer der Musikschule, wo meine Mutter Flötenunterricht gab. Nach seiner Pensionierung war er in verschiedenen Bildungs-Boards vertreten. Für die Armee war er zwar untauglich, aber im Jahr 1986 wurde er zum Offizier des Ordens von Oranje Nassau ernannt, etwas das nur wenige wissen werden. Mein Vater war ein einfacher, liebenswürdiger und sozial engagierter Mensch. Er blickte nie auf andere herab, hatte für alle Respekt. Es wird für ihn auch nicht immer einfach gewesen sein, uns als Kinder gehabt zu haben, so verschieden wie wir sind. Er war auch ein ehrlicher Mensch und wollte es immer sein, auch wenn andere es nicht waren. Er war großzügig, anregend und hilfreich, mit vielen Interessen. Vor allem genoss er, wie sein Vater, alle Schönheiten, die das Leben zu bieten hatte: eine Krokette bei De Klomp in Bakkum, National Geographic, einen Topf Studentenfutter, klassische Musik, Ferien in der Schweiz, Radtouren nach Egmond oder zum FKK-Strand in Castricum. Das war für mich mein Vater. Chris war zwar nicht mit zwei rechten Händen gesegnet, tat jedoch alles, daß er sie dennoch hatte. Ich erwähnte schon die Wahl meiner Mutter. Sie war seine wahre rechte Hand. Ohne daß sie ihm mit Rat und Tat zur Seite stand , den Haushalt leitete, seine Anzüge bügelte, das Essen kochte usw. usw. hätte er nicht das erreichen können, was er erreichte. Erst gar nicht zu reden von ihrer Hingabe in den letzten drei schwierigen Jahren. Trotz
seiner Krankheit wusste Chris im Pflegeheim noch Bemerkenswertes zu äussern.
Ich möchte gerne zwei solcher Äußerungen nennen, weil sie Chris'
Zustand und einigermaßen auch seinen Charakter zeigen: "Ich weiß,
daß ich nicht mehr genau weiß, was ich alles weiß" und
"Kontakt zwischen den Menschen ist gut, bis es Geld kostet. " Anja
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Detlef
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