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Freyburg an der Unstrut (2008) und das Schützenhaus (2006)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Saalschlacht
im Schützenhaus von Freyburg

 

Die SPD-Bezirksleitung Merseburg lädt für den

10. April 1930 abends 8 Uhr

in das Schützenhaus von Freyburg an der Unstrut zu einer öffentlichen Versammlung ein. Als Referent ist Doktor Arthur Schweriner zum Thema

"Das wahre Gesicht der Nationalsozialisten"

angekündigt. Zwei Tage später erklärt das Naumburger Tageblatt: "Dr. Schweriner, seines Zeichens sozialdemokratischer Pressefachmann in Berlin, stellte im Laufe einer einstündigen Rede die Behauptung auf, dass der Antisemitismus der NSDAP. nur Mittel zum Zweck wäre. In Wahrheit gelte der Kampf der heutigen Staatsform."

 

"Das wahre Gesicht des Nationalsozialismus" im PDF-Format hier
(2,6 Megabyte)

 

An und für sich ist das Unternehmen schon etwas gewagt, denn der Versammlungsort gilt als eine Hochburg der Nationalsozialisten. Die Freiburger Nationalsozialisten sind über die Veranstaltung nicht erfreut. Aus rechtlicher Sicht ist nichts gegen die Veranstaltung einzuwenden. Ihre Vorbereitung und Durchführung erfolgt gemäß dem Versammlungsrecht. Wilhelm Schwencke (*18.03.1888), der Führer des Naumburger Reichsbanners, erinnert 1956 daran: "Zum Schutz der Versammlung waren etwa 120 Genossen des `Reichsbanners` mit dem Spielmannszug auf Autos nach Freyburg gefahren." Außerdem unterstützte das Sozialistische Kultur-Kartell Naumburg die Teilnahme an der Versammlung. Auf jeden Fall wollten a l l e Linken die sozialdemokratische Versammlung und ihren Referenten gegen  a l l e  Angriffe verteidigen. Die Sozialdemokraten und Kommunisten sind deutlich in der Überzahl.

 

Artur Schweriner, geboren 31. März 1882 in Czarnikau (Bezirk Posen), wohnhaft Berlin, Neutempelhof, Berlinerstraße 5. Lehrer in Bad Salzuflen, nebenberufliche Mitarbeit in der lippischen Landeszeitung, Mitglied der Lippischen Volkspartei, um 1907 Umsiedlung nach Berlin, Mitarbeit in Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV), 1909 heirat von Else Lewin, 1912 wieder in Lippe und Unterstützung des Wahlkampfes der Liberalen gegen die Christlich-Sozialen, 1912 Chefredakteur und 1913 Eigentümer des Lüdenscheider Tageblatts (Januar 1915 Konkurs), 1915/16 zum Krieg eingezogen, 1918 Mitglied der Deutschen Volkspartei, um 1920 Übertritt in die SPD, ab 1924 Redner für das Reichsbanner, Oktober 1929 Herausgabe der Zeitung Alarm (Kampfblatt gegen die Feinde der Republik), September 1993 Ausreise von Le Havre in Richtung New York, 1940 Umzug nach Florida, gestorben am 31. Oktober 1941 in Miami (USA).


(Vgl. Jürgen Hartmann, Dieter Simon)

 

Gegen 22 Uhr kommt der Vortrag von Doktor Schweriner mit dem damals üblichen Maß an Zwischenrufen, besonders von der rechten Seite, wo die Nationalsozialisten mit etwa einhundert Mann sitzen, zu Ende. Laut Aussage von Arbeiter Rudolf Matthes aus Freyburg betritt dann der hiesige NSDAP-Stadtverordnete und NSDAP-Gauleiter (1927-1930) Paul Georg Otto Hinkler den mit 600 bis 700 Personen gefüllten Saal und ruft:

Es lebe der Nationalsozialismus!

Alle Anhänger der NSDAP springen auf und rapportieren "Heil Hitler!" Und dies in einer sozialdemokratischen Versammlung! - Warum Landjäger Reichardt den Gauleiter am Eingang passieren läßt, wo doch der Saal überfüllt ist, wird nie geklärt. Die Stimmung schlägt um. Sie wird aggressiv. Hinkler macht sich mit ersten Zwischenrufen bemerkbar. Darauf reagiert der Referent mit der Bemerkung, dass er nun Gelegenheit habe den Gauleiter kennenzulernen. Darauf Hinkler:

"Das glaube ich, aber Dich erkennt man 10 metr gegen den Wind, denn das riecht man schon das Du eine Jude bist."

Nach dem Referat sind erstmal zehn Minuten Pause. Nun können beim Versammlungsleiter die Diskussionsbeiträge eingereicht werden.

Der erste Redner nach der Pause ist ein NSDAP-Mann. Er bezeichnet den Referenten als

"vollgefressenen Juden".

Am Tag nach der Saalschlacht sagt Arbeiter Rudolf Matthes vor der Polizei in Freyburg:

"Es muß besonders hervorgehoben werden, dass der erste Nazidiskussionsredner keineswegs sachlich blieb, sondern dauernd den Hauptredner beschimpfte, mit Judenpakt bezeichnete usw."

Danach spricht NSDAP-Führer Friedrich Uebelhoer aus Naumburg. Er steht dem Vorredner in nichts nach. Auf ihn folgt ein Kommunist. Anschließend spricht ein ehemaliges NSDAP-Mitglied aus Freyburg. Danach folgt Eugen Wallbaum (SPD, Naumburg). Während seiner Ausführungen will Hinkler das Wort ergreifen. Als der seinen Rednerzettel auf den Tisch legt, verlässt Fritz Brauer das Präsidium und geht hinter die Bühne. Dort versuchen Nationalsozialisten durch ein kleines Fenster in den Raum einzudringen. Die Leitung der Versammlung übernimmt jetzt SPD-Kreissekretär Hermann Glaubrecht aus Eisleben (Liebknechtstraße 1). Der fragt die Versammlung, ob er den NSDAP-Gauleiter das Wort geben soll, weil der das Referat ja eigentlich nicht gehört hat. Die Versammlung verneinte dies. Das ist die Bruchstelle, was das Naumburger Tageblatt am 12. April 1930 mokiert:

"Die Tatsache, daß Gauleiter Hinkler der NSDAP., der sich ebenfalls zu Worte gemeldet hatte, jedoch von der Versammlungsleitung das Wort nicht erhielt, brachte die Anhänger beider Parteien in Harnisch. Im Handumdrehen war ein tätliche Auseinandersetzung im Gange und ...."

"Jetzt gebärdet sich Hinkler wie ein Verrückter.
Er schrie "Jude", "Lügner", "Ischariot" ..."

"Herr Hinkler",

sagt der Versammlungsleiter,

"das geht zu weit, alles können wir uns doch nicht gefallen lassen. Ich fordere sie nunmehr auf den Saal zu verlassen. Zum 1. zum 2. und zum dritten Male".

Hinkler entgegnet darauf:

"Und wenn Du 10 mal rufst, ich gehe doch nicht raus".

Landjäger Reichardt erhält, berichtet Fritz Brauer, den Auftrag Paul Hinkler aus dem Saal zu entfernen. Der macht derweil immer noch keine Anstalten. Als der Landjäger sich zu ihm vorgearbeitet hat, fasst er ihn an die Oberarme. In dem Moment, als er ihn aus dem Saal begleiten will, fliegt dem Polizeibeamten ein Bierkrug in den Kopf-Nacken-Bereich.

Der Bierseidelwerfer ist nach mehreren Zeugenaussagen der Theologiestudent Wilhelm Giessler. "Den Beamten, der ihn daraufhin verhaftete, fasste er nach der Gurgel und versuchte ihm den Gummiknüppel zu entreißen." Vor Gericht wird der raufende Gottesmann dafür eine einfallsreiche Erklärung finden. Im Prozess gegen den Theologiestudenten Giessler (23.10.1930, 4.3.1931), beschuldigt das NSDAP-Mitglied Claus (Naumburg, Oststraße) Eugen Wallbaum (SPD) einen Nationalsozialisten durch das Saalfenster im ersten Stock auf den Hof gestürzt zu haben. Eine Lüge, denn jener war zu dieser Zeit auf der Bühne bei Dr. Schweriner. (Details)

Paul Hinkler wird am 12. November 1931 vom Schöffengericht in Naumburg zu einem Monat Gefängnis verurteilt. Seine Ausfälle gegen die Sozialisten, Kommunisten und vor allem Juden, spielen vor Gericht keine Rolle.

Nun kommt es im Saal des Schützenhauses zu einer heftigen Keilerei. Der Gauleiter beteiligt sich unter Zuhilfenahme von Stuhlbeinen daran und schlägt auf Beamte ein. Gegen 22.45 Uhr trifft aus Weißenfels ein Überfallkommando mit sechs Schupos (Schutzpolizisten) ein. Allmählich zieht im Saal wieder Ordnung ein. Nun gelingt es, Hinkler nach draußen zu bugsieren. Außerhalb des Saales brüllt er:

"Die Kerle schlagen wir noch tot,
die hängen wir noch auf …" (Schäfer)

 

Das Naumburger Tageblatt berichtet am 12. April 1930: "Im Handumdrehen war eine tätliche Auseinandersetzung im Gange und da von vornherein mit einer solchen gerechnet worden war, waren mehrere Landjäger und ein Überfallkommando anwesend. Mit deren Hilfe wurde zwar der Saal geräumt, jedoch erhielten mehrere Anhänger der SPD. und der NSDAP. zum Teil blutige Verletzungen. Insbesondere wurden Gauleiter Hinkler stark angegriffen. Außerdem erhielten noch zwei Nationalsozialisten Verletzungen, so dass sie verbunden werden mussten. Auch zwei Naumburger Reichsbannerleute trugen derartige Verletzungen davon, dass sie mit dem Auto nach Hause gebracht werden mussten. Ein Nationalsozialist aus Naumburg erhielt einen Stich in den Hals. Heute Vormittag wurde eine Fuhre zerschlagener Stühle zum Tischler gefahren." (SPD gegen NSDAP)

Die Saalschlacht fordert zwei Schwerverletzte und acht Verletzte. Sechszehn Stühle und ungezählte Bierkrüge gehen zu Bruch. Aus einem Brief von Wilhelm Schwenke an den Direktor des Domgymnasiums Professor Bruno Kayser wissen wir, dass einige seiner Schüler auf Seiten der Nationalsozialisten mitkämpften.

Am Tag nach der Saalschlacht führt die SPD im Hotel Zur Post (Naumburg) eine Protestversammlung durch. Darüber berichtet der Volksbote (Zeitz): "Genosse Wallbaum schildert in einer einstündigen Rede eingehend die Vorkommnisse, die sich dort [in Freyburg am 10. April] abspielten. Die Mahnung und die Schlussfolgerung die Gen. Wallbaum aus dem Vorfall zog, wurde mit lebhaften Beifall bekräftigt. Die Ausführungen Wallbaums wurden durch die Genossen Schwenke, Heinrichs, Hoffmann und Räbel bekräftigt beziehungsweise ergänzt." Einstimmig gibt die Protestversammlung folgende Erklärung ab:

"Die am Freitag den 11. April 1930 im großen Saal der Hotels Zur Post [in Naumburg a. S. ] abgehaltene stark besuchte öffentliche Protestversammlung aller im Sozialistischen Kultur-Kartell vereinigten Arbeiterorganisationen erhebt flammenden Protest gegen die in der gestrigen öffentlichen SP-Versammlung in Freyburg a. U. [im Schützenhaus] von den Nationalsozialisten verursachten blutigen Vorkommnisse. Alle Anwesenden protestieren gegen das Verhalten des Landjägers Reichardt und des Ortsschutzmann Hülse, Freyburg. Sie fordern eine strenge Untersuchung und Bestrafung aller Schuldigen".

Verärgert reagieren die Teilnehmer SPD-Protestversammlung im Hotel Zur Post auf die Veröffentlichung des Naumburger Tageblatt vom 12. April 1930 und erklären:

"Helle Empörung rief die verlogene und entstellte Berichterstattung des Naumburger Tageblatts hervor, die Gen. Wallbaum in gebührender Weise geisselte."


Paul Schäfer,
etwa 51 Jahre alt, Bürgermeister von Freyburg, verfasst am 11. April 1930 einen Bericht über den Verlauf der öffentlichen Versammlung am 10. April 1930.

 

Unter anderem verschweigt die Zeitung, dass aus weiter entfernt liegenden Orten, wie Querfurth, SA-Leute truppweise angereist waren. Deshalb muss, wie Paul Schäfer feststellt, "einwandfrei angenommen werden, dass Hinkler den Überfall vorbereitet und damit auch provozíert hat." (Ausführliche Darstellung hier.)

Die Saalschlacht im Schützenhaus von Freyburg zieht sich als Thema durch mehrere Sitzungen des Naumburger Gemeinderats. "Herr Schwenke [Reichsbanner Naumburg] hat es in der Hand, ob Blut fließen soll oder nicht", droht Heinrich Hacker (NSDAP) am 25. April 1930 in der Stadtverordnetenversammlung. Dann fallen die Worte vom

Blutbad in Freyburg.

"Jedenfalls hat die Bluttat [in Freyburg a.U.] dazu beigetragen", so schätzen es die Sozialdemokraten und alle im sozialistischen Kultur-Kartell vereinigten Gruppen am 11. April 1930 in der Protestversammlung ein, "all denen, die dem Treiben der Nazis bisher teilnahmslos und gleichgültig gegenüberstanden, die Augen zu öffnen." Eine Hoffnung, die sich - leider - nicht erfüllte.

 

 

Der NSDAP-Ortsgruppenleiter aus Freyburg telegrafiert am 20. Oktober 1935 an Paul Hinkler, Polizeipräsident von Altona:

"In Anerkennung Ihrer großen Verdienste für Volk und Reich, in Sonderheit für Freyburg, tauften heute erstes Flugzeug auf `Paul Hinkler`.

Fliegerortsgruppe Freyburg."

 

 

 

Brief von Wilhelm Schwenke, Reichsbanner "Schwarz-Rot-Gold" Ortsgruppe Naumburg vom 24. April 1930 an den Direktor des Domgymnasiums Prof. Dr. Kayser, Naumburg a.S., Domplatz. Archiv der Vereinigten Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz

[Brauer, Fritz] Strafanzeige von Fritz Brauer, Schraplau, Zellerstraße 1. Strafanzeige beim Herrn Oberstaatsanwalt Naumburg gegen Gauleiter Paul Hinkler. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Merseburg Rep. C 141, Staatsanwaltschaft beim Landgerichte Naumburg, Nr. 59-1

Das Blutbad in Freyburg a.U.. "Volksbote", Zeitz, den 12. April 1930

Das wahre Gesicht des Nationalsozialismus: Theorie und Praxis der NSDAP. Herausgegeben vom Bundesvorstand des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, Bund Deutscher Kriegsteilnehmer und Republikaner. Magdeburg, o.J. (um 1931). PDF von der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung,
Godesberger Allee 149, D-53175 Bonn

Erklärung [von Eugen Wallbaum, Naumburg]. "Volksbote", Zeitz, 12. März 1931

[Hartmann, Jürgen, Dieter Simon] Artur Schweriner - Eine Projektskizze von Jürgen Hartmann und Dieter Simon, In: Rosenland, Zeitschrift für lippische Geschichte, Februar 2006, Seite 31 bis 34

[Matthes, Rudolf] Aussage des Arbeiters Rudolf Matthes vor der Freyburger Polizei am 11. April 1930. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Merseburg Rep. C 141, Staatsanwaltschaft beim Landgerichte Naumburg, Nr. 59-1

[Schäfer] Der Bürgermeister, Freyburg IV, 11. April 1930 [gezeichnet Schäfer]. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Merseburg, Rep. C 141, Staatsanwaltschaft beim Landgerichte Naumburg, Nr. 59-1

Schwenke, [richtig: Schwencke] Wilhelm, Leo Heinrich, Paul Kynast und dem Kollegen Karl Franke: Aussprache mit den Genossen. Protokoll, Naumburg 13. Dezember 1956, unveröffentlicht

[SPD gegen NSDAP] Freyburg. 11. April. SPD gegen NSDAP. "Naumburger Tageblatt", Naumburg, den 12. April 1930

Strafsache gegen den Studenten Wilhelm Giesser. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Merseburg, Rep. C 141, Staatsanwaltschaft Naumburg, Staatsanwaltschaft beim Landgerichte Naumburg, Nr. 59-3


Autor:
Detlef Belau


Geschrieben: Dezember 2006.
Aktualisiert: 9. Oktober 2009

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