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„Die linken Zwischengruppen haben im Widerstand gegen den Nationalsozialismus eine weit bedeutendere Rolle gespielt, als es ihrem tatsächlichen numerischen Anteil an der Arbeiterbewegung entsprach. Diese lag vor allem an ihrer Anfangs geringen Polizeibekanntheit, ihrer Struktur als hochqualifizierte Kaderorganisationen und ihrem Verzicht auf massenhafte Außenagitation.

Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD bzw. SAP), der Stärke nach die bedeutendste der Linken Zwischengruppen, hatte ihre Schwerpunkte in Berlin und Mitteldeutschland ….

Während Mitte der dreißiger Jahre nach einer zeitgenössischen internen Lageeinschätzung noch 4000 bis 5000 SAP-Illegale im Reich gearbeitet, gelangen der Gestapo ab diesem Zeitpunkt die entscheidenden Einbrüche. 1937 verfügte die SAP noch über drei funktionierende Gebietsorganisationen, Mannheim und im Raum Hamburg ….“

Helmut Mehringer: Sozialistischer Widerstand. In: Lexikon des deutschen Widerstandes, 1994

 

 

Der SAP-Widerstand aus Naumburg (Saale)

Karl Possögel, Jahrgang 1916, bereitet sich im Frühjahr 1947 in Leipzig auf sein Studium der Sozialwissenschaften vor. Gewissenhaft spart er seine Essenvorräte für Pfingsten auf. Dann ist es soweit. Seine Wirtin bringt ihn zur Bahn. Er fährt nach Naumburg. Schnell findet er in die Kleine Wenzelstraße 9.

Krankenhaus von Naumburg,
Hauptgebäude (2006)

 

Nach der gewohnt innigen Begrüßung durch seine Mutter Anna packt er seine Essenvorräte aus und legt sich sofort ins Bett. Er kränkelt. Ihn plagen Schmerzen. Vielleicht eine Grippe. Am dritten Feiertag klagt er seiner Mutter, dass es nicht besser wird. Kurzerhand organisiert sie ein Auto und bringt ihn ins Naumburger Krankenhaus. Der Chefarzt der Inneren diagnostiziert im Röntgenbild eine Lungen- und Rippenfellentzündung. Sofort verlegt man ihn in eine Baracke auf dem Gelände des Krankenhauses. Hier liegen viele Genesende, die sich irgendwie die Zeit vertreiben und den Kranken mit ihrem Lärm stören. Auf Wunsch der Mutter erhält Karl ein Krankenzimmer im Haupthaus. Zwar wärmt sich dieses durch die Sonneneinstrahlung stark auf, doch liegt er hier wenigstens allein und kommt zur ersehnten Ruhe.

 

Viele Tage wacht Anna im Krankenhaus am Bett ihres Sohnes. Wenn er schläft, wandern ihre Gedanken durch die gemeinsamen Lebensjahre ….

 


Schul- und Lehrzeit von Karl Possögel

1926 soll Karl unbedingt die 6. Klasse der Mittelschule besuchen. Aber nach Ansicht des Rektors brauchen Arbeiterkinder keine höhere Schulbildung, um einen Handwerkerberuf zu erlernen. Ein schwerer Kampf beginnt. Wie froh ist sie, als ihr Sohn das erste Jahr der Mittelschule unter 40 Schülern mit dem fünften Platz abschließt. Mit Stolz denkt sie an sein Zeugnis der mittleren Reife. Klassenbester!

1927 trennt sich Anna, geborene Pietscher, von ihrem Mann Franz. Damals sieht das Zivilrecht noch eine „Schuldfeststellung“ vom Gericht vor. Sie betont deshalb immer, dass sie „schuldlos“ geschieden ist. Franz sprach oft und reichlich dem Alkohol zu. Zwei Söhne sind zu versorgen und ihr Weg ins Leben zu begleiten. Der jüngste, Hans, kommt 1935 aus der Schule. In einem Opelbetrieb erhält er eine Lehrstelle als Kaufmann mit einem Entgelt von 5 Reichsmark im ersten, 10 Reichsmark im zweiten und 20 Reichsmark im dritten Lehrjahr.

Von Monat zu Monat tariert Anna ihr Haushaltsbudget aus. Eines Tages bittet Karl, die Schule eher verlassen zu dürfen. Vier Jahre Grundschule, sechs Jahre Mittelschule und dann die Berufsausbildung ohne jede Beihilfe, stellen für die Familie wirtschaftlich eine enorme Belastung dar. Die Mutter wusste nur zu gut, welche sozialen Chancen Bildung eröffnen kann. Sie besteht darauf durchzuhalten. Nebenher trägt Karl mit kleinen Artikeln für die Zeitung zur Aufbesserung der Haushaltskasse bei. Als wäre es gestern, hört sie, wie des Nachts die Schreibmaschine klapperte ….

Anna mit ihrem Sohn Karl **

 

1931 beginnt er bei der Buchdruckerei Lippert & Co. GmbH, Bahnhofstraße 24, ein Volontariat. Karl verfügt über gute Sprachkenntnisse in Französisch und Englisch. Im Betrieb lernt er den „Zünder“ (Franz Neubert, KPD) kennen. Karl kann seine ablehnende Haltung gegenüber den Nationalsozialisten schlecht verbergen. Bald beschuldigt ihn der Direktor der kommunistischen Tätigkeit, und so muss er den Betrieb verlassen. „Wer damals auf der linken Seite stand, hatte alle als Feinde gegen sich.“ (Anna) Und wer seine Stellung verliert, weiss Anna nur zu gut, der bekommt nicht so schnell wieder eine. Gerichtlich zwingen sie die Firma, ihm wenigsten ein Arbeitszeugnis auszustellen.

 

Anmerkung: Karl Possögel tritt 1934 der SS bei. Dazu heißt es im Lagebericht der Staatspolizeistelle Halle vom Juni 1935: "Weiter befand sich unter den Hochverrätern ein SS-Mann, Schriftsetzer von Beruf, der in die SS lediglich zum Zwecke der Zersetzung eingetreten war." (Stapo 1933k 452)

 

Vater Franz vermittelt ihn zur Zeitschrift Wahrheit und Recht, die vom Geldaufwertungsschwindler Gustav Winter in Großjena herausgegeben wird. Für 30 Reichsmark monatlich arbeitet er bei ihm als literarischer Mitarbeiter. Nachts hört Anna von dort die Saufgelage mit [ehemaligen Mitgliedern] der Marine-Brigade Ehrhardt und den Nazis. Winter war ein Faktotum, ohne Frau. „Wenn junge Mädchen zur Hausarbeit angenommen wurden," notierte Anna in ihren Erinnerungen, "bemächtigten sich beide Söhne dieser." Deshalb bleiben bei ihm keine jungen Mädchen. Anna möchte nicht, dass Karl noch länger dort arbeitet. Ein Bekannter hilft, ihn bei Groh & Co. an der Marienmauer als Schriftsetzerlehrling unterzubringen.

 

Karl hustet gequält. Anna wischt seine Lippen mit einem feuchten Waschlappen ab. Erst im März dieses Jahres erhielt er per Telegramm von der Leipziger Universität die Zulassung zum Studium. Ihr Sohn, ein Student! Er muss gesund werden …

 


Anna ist gegen den Nationalsozialismus

 

Die SAP wurde am 4. Oktober 1931 gegründet und war eine Abspaltung von der SPD. Nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur schlossen sich die Mitglieder der SAP (D) in den Westzonen nach einem Gespräch zwischen Kurt Schumacher (SPD) und Otto Brenner (SAPD) der SPD an. Die Mitglieder in der sowjetischen Zone, wie Klaus Zweiling oder Edith Baumann, schlossen sich der KPD beziehungsweise dann der SED an.

 

Als Schneiderin und Vertreterin für Aachener Stoffe konfektioniert Anna einen ansehnlichen und zufriedenen Kundenstamm.

„Meine Arbeitgeber waren ein Berliner Ehepaar, Halbjuden", erzählt Anna Possögel. "Eines Tages wurden sie auf das hiesige Rathaus bestellt. Die Konkurrenz übte Rache. Unsere Kunden waren sehr zufrieden u. das sprach sich in der Stadt herum, so konnte mir die Stadt nichts anhaben.“

Mit den Einnahmen aus den durchaus reichlichen Aufträgen kann der tägliche Lebensunterhalt bestritten werden. Stolz zahlt sie die Beiträge für ihre Partei, die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP), weil sie weiß, viele ihrer Genossinnen und Genossen befinden sich bereits in den Klauen der Nazis. Ihre Familien müssen unterstützt werden. Über Solidarität braucht Anna keine Vorträge, sie verfügt über ein tiefes soziales Empfinden. Von 1928 bis zur nationalen Erhebung ist sie Mitglied des Bundes der Kinderfreunde.

Als die SPD 1928 die Panzerkreuzerkredite bewilligte, erinnert sich Anna, traten wir zur illegalen SAP über.

Längere Zeit vor der ersten Verhaftung fällt ihr auf, dass im weiten Abstand hinter ihr Agenten der Gestapo gehen. Mit den Behörden der Stadt will sie nicht Konflikt geraten, schliesslich braucht sie für ihr Schneiderhandwerk unbedingt den Gewerbeschein. Ihren Sorgen kreisen vor allem um Karl.

SA marschiert, Naumburg, Holzmarkt 1937

 

Sonntags gönnt sich Anna Possögel nach getaner Arbeit einen Spaziergang durch die Stadt. Es muss 1933 oder 1934 gewesen sein, erinnert sie sich, als durch unsere Straßen „sich Kolonnen uniformierter S. A. Männer“ schoben. „Wie die Pilze aus der Erde waren die Nazi Horden gewachsen. Ich sah es mit Schrecken, denn das ganze mußte ja zum Krieg hinführen.“

Sie ist erschrocken darüber, wie viele "aus dem Volk" sich "von Hitler goldene Berge" versprachen und bei jeder Gelegenheit `Heil Hitler` schrien. Später, nach 1945 wird Anna Possögel sagen:

„Wir taten alles gegen die Hitlermacht!“

Vor allem leistete sie politische Aufklärungsarbeit. Die Schneiderin war an der Verteilung und Zustellung illegaler politischer Schriften, zum Beispiel der Emigrantenblättchen, beteiligt, die sie oft in ihre Modezeitungen einlegte, die sie wegen der Schnittmusterbogen bezieht. Eines Tages sagte ein Telegrafist, der schon lange zu diesem Kreis gehörte:

„Ich bin kein Arbeiter mehr, sondern Beamter.“

Er wollte also die Zeitung nicht mehr haben.

Max Römer *, geboren 4. Februar 1902 in Naumburg a.S.

Noch im Sommer 1934 wandern viele Druckschriften von Hand zu Hand. Etliche davon im Ausland gedruckt: „Der Vorwärts“, „Das Tribunal“, „Das Banner“, und die „Information“. Karl empfängt die Schriften von Genossen Römer und gibt sie an Vertraute weiter.

"Der Führer der Ortsgruppe,“ vermerkt im August 1935 der Lagebericht der Staatspolizeistelle Halle, „die seit Aushebung der illegalen SAP in Leipzig Anfang des Jahres keine Bindung zu anderen Ortsgruppen hatte, war ein gewisser Max Römer, ein Angestellter beim Finanzamt, der bereits zur legalen Zeit die Ortsgruppe Naumburg geleitet hatte.“

Als ihre Partei in die Illegalität muss, bringt Anna vorsichtshalber die verbotenen politischen Schriften in ein Stallgebäude, dass im Garten gegenüber dem Naumburger Gefängnis steht. Jetzt ist ihr Haus rein, was ihr ein beruhigendes Gefühl gibt. Sorge macht ihr, dass ab und an Briefe vom SAP-Vorstand kommen, dem sie und ihr Sohn angehören. Das könnte vielleicht jemand beobachten oder entdecken. Sie ahnt nicht, dass sie bereits ins Visier der Staatspolizei geraten ist.

 

Tage vergehen. Karls Zustand bessert sich nicht. An einem Abend bittet er seine Mutter: Gehe zu Genossen Brechling „und sage ihm, er soll schweigen.“ „Genosse Brechling schweigt“, beruhigt die Mutter ihren fiebernden Sohn. Karl beklopft die Wände. In dem Moment, als die Mutter sich umdreht und eine Flasche Selters zum Kühlen in das kalte Wasser stellt, schneidet er sich die Halsader durch. In Windeseile bringen ihn die Schwestern auf den Operationstisch. Karl überlebt. Am nächsten Tag erklärt er seiner Mutter, er wähnte sich wieder in Buchenwald zu sein. Sie tut alles, um ihrem kranken Sohn eine Freude zu machen. Zum ersten Mal nach vielen Tagen schläft er wieder.

 


Verhaftungen

Tiefe Falten ziehen in das Gesicht von Anna, wenn sie an den Tag denkt als sie nichtsahnend über den Markplatz ging und ihrem Sohn in Begleitung der Polizei begegnete ....

Die Staatspolizeistelle Halle berichtet im Juni 1935 an die Geheime Staatspolizeiamt Berlin, Prinz-Albrecht-Straße 8:

„Die seit längerer Zeit angekündigte Aktion gegen die noch immer illegal arbeitende

Ortsgruppe der SAP in Naumburg

wurde nunmehr durchgeführt. Sämtliche 9 Festgenommenen waren geständig, illegales Druckschriftenmaterial erhalten und weiterverbreitet zu haben. Nur 4 von ihnen konnte nachgewiesen werden, daß sie auch Beiträge gezahlt haben.“ (Stapo 1933k, 452)

Der

Schriftsetzerlehrling Karl Possögel,
geboren am 8. Dezember 1916,

wurde nach Aussage seiner Mutter Anna Possögel am 20. August 1935 von der Arbeit weg bei der Firma Groh an der Marienmauer verhaftet und in das Rathaus gebracht. Am Tag darauf wurden die Mitglieder der SAP-Widerstandsgruppe Adolf Pieper (*22.12.1897, Weinbergweg 9), Reinhold Lehmann (*10.1.1892, Flemminger Weg 20) und Werner Krause (*26.6.1911, Siedlungshof 16) verhaftet.

Anna Possögel schreibt in ihren Erinnerungen: „Ich ging über den Marktplatz [von Naumburg] ohne zu wissen das Karl vor der Frühstückspause verhaftet war. Eine entsetzliche Angst überfiel mich als ich meinen geliebten Sohn Karl in solcher Lage sah. Leichenblaß war sein Gesicht als er mich sah. Und er durfte nichts zu mir sprechen. Ich ging nach Hause, um einen Ausweg zu suchen.“ Gab es den noch? In ihrer Wohnung, Kleine Wenzelstraße 9, war schon die Hausdurchsuchung im Gange.

Blick in die Kleine Wenzelstraße (2006)

 

 

Zum Öffnen der Wohnung holte die Polizei ihren geschiedenen Mann Franz aus dem Autohaus zu Hilfe, der sie aufschließen musste. Auch Kriminalsekretär Paul Scholz ist zugegen. Sofort reissen die Stapo-Leute alle Schränke und Schubladen auf. Alles fliegt auf den Fußboden. Als Corpus delicti findet das Kommando unter einem Bücherstapel das „Kommunistische Manifest“ von Karl Marx und Friedrich Engels. Scholz sagt: „Ziehen Sie sich an.“ Er führt Anna zum Rathaus in sein Dienstzimmer. Umgeben von einer Meute Stapo-Leute aus Halle, sitzt da ihr Sohn mit dem Gesicht zur Wand auf einem Stuhl. Sie scheuen keine Schmähung. Nun wendet sich die Stapo mit ihren Brutalo-Manieren Anna zu: „Du Kommunistenhure“, “du Bolschewistendirne!“, „mit wem hast du unter einer Decke gesteckt? Wie heißen die Halunken? Willst du uns wohl Antwort geben!“ Als Anna gar antwortet, dass ihr der Arzt am Vorabend geraten hat, sich einer Operation zu unterziehen, verhöhnen sie die Stapo-Leute: „Du wirst schon noch arbeiten lernen und dich daran gewöhnen, trockenes Brot zu essen.“ Das Verhör verläuft ergebnislos.

Aber „Korduan“, der Verräter, von Beruf Friseur, bekannt mit dem jungen Possögel, verkehrte zu allem Unglück noch in der Wohnung der Mutter, hatte bereits geredet. Anna erwies ihr Gefälligkeiten, schnitt ihr die Haare .....

 

 

In der Untersuchungshaftanstalt

Dann bringt Kriminalsekretär Scholz Anna in das Polizeigefängnis am Bauhof. „Brutal stieß er mich in die Zelle, die ich nicht verlassen durfte,“ erinnert sich Anna. An den folgenden Tagen holen die Wachleute die zierliche Schneiderin immer wieder zum Verhör in das Rathaus. Der Polizist, der sie vom Bauhof zur Stadtverwaltung bringt, „war anständig“, schreibt Anna Possögel. Denn er lässt sie allein über den Markt laufen. Was prasselte bei den Verhören nicht alles an Drohungen, Ermahnungen und Beschimpfungen auf sie hernieder. Nach drei Tagen kam sie mit einer Reihe von Auflagen wieder frei. Beim Verlassen des Bauhofs vernimmt sie einen Pfiff - das war ihr Karl!

 

Am zweiten Tag nach der Krise schläft ihr Karl im Krankenhaus endlich fest. So viele Schwierigkeiten überwanden sie bereits gemeinsam. Karl, d u  m u s s t  wieder gesund werden, kreist es in ihrem Kopf.

 

Acht Wochen sind seit der Verhaftung von Karl vergangen, als Anna einen Kollegen von ihm trifft. Sie erzählt, was geschehen war. Er kann die Tränen nicht zurückhalten. Ebenso leidet Karls Bruder Hans unter der Trennung. Der fand gerade für 5 RM monatlich in einem Opelbetrieb eine Lehrstelle.

 

Kriminalsekretär Paul Scholz,
geboren am 13. September 1891, war seit 1919 als Polizeibeamter im städtischen Dienst. 1926 absolvierte er einen achtwöchigen Notlehrgang der „Schutzpolizei“ beim Polizeipräsidium in Berlin, wo er die Grundlagen der Spurensicherung erlernte. Als Beamter der Ortspolizeibehörde nahm er Stapo Aufgaben wahr.

 

Anna schneidert wieder und geht ihren täglichen Verrichtungen nach, bis erneut der berüchtigte Kriminalinspektor Paul Scholz von der Ortspolizeibehörde Naumburg an ihrer Wohnungstür erscheint. Er heißt sie, das Fenster zu schließen, und befiehlt sie zur Vernehmung ins Amtsgericht. Scholz verschließt die Wohnungstür und behält, was nichts Gutes bedeutet, die Schlüssel. Der Kriminalbeamte belastet sie als einziger Zeuge mit allen möglichen Lügen. Anna empört sich darüber. Das reizt Scholz auf Äußerste. Er beeidigt seine Aussagen und führt sie in sein Dienstzimmer im Rathaus. Anna verspürt Übelkeit und ist der Ohnmacht nah. Sie ist krank, stellte ihr Arzt fest. In Begleitung des Kriminalinspektors darf sie das Klosett aufsuchen. Zurück im Dienstzimmer, fühlt sie sich immer noch schwach. Qualvoll hört sie, wie die Stenotypistin den Haftbefehl mit der Schreibmaschine auf rotes Papier hämmert.

Blick zur Untersuchungshaftanstalt und Strafgerichtsgefängnis Naumburg (2004), früher Roonplatz 5: Hauptgebäude mit 147 und ein Anbau mit 76 Zellen für Gefangene, bebauter Raum 9 108 Quadratmeter, Erbaut 1860, 1879 und 1905.

Laut dem Gerichtsurteil wurde Anna Possögel am 17. Oktober 1935 in Untersuchungshaft genommen. Man sperrte sie in eine Zelle des Gerichtsgefängnisses Roonplatz 5, wo bereits die übrigen Mitglieder der Widerstandsgruppe gefangen. Karl war mit einem Schwerverbrecher in einer Zelle.

Mattes Licht dringt durch die verschmutzten Scheiben. An den Wänden obszöne Kritzeleien. Die Wäsche für die Nacht ist aus gröbstem Sackleinen und mit vielen Flicken versehen. Anna kann nicht schlafen. Jede halbe Stunde vernimmt sie deutlich den Rundgang der Wächter mit den Hunden um das Gebäude. Beim Widerhall der harten Schritte an der Gefängnismauer überkommt sie das Grauen. Zu ebener Erde liegt sie unruhig in der Zelle.

Nach einigen Wochen führt man sie dem Gefängnisdirektor vor. Einen Stuhl bekommt sie nicht angeboten. Noch immer fühlt sie sich schwach und leidet unter leichter Übelkeit. Schließlich bemerkt der Direktor, wie es um sie steht. Sie darf sich setzen. Auf das Brüllen kann er jedoch nicht verzichten: „Warum sind Sie hier? Was haben Sie gemacht?“ „Nichts“, antwortet Anna. Von Zorn erfüllt, schreit er: In Berlin wird man Ihnen sagen, was Sie gemacht haben; morgen gehen Sie auf Transport.

Zehn Minuten Pause. Alle Gefangenen müssen auf den Hof und immer in der Runde laufen, womit Anna körperlich überfordert ist. Geschwächt durch einen erlittenen Blutverlust und die Sorgen um ihren Sohn, bricht sie zusammen. Als “faules Kommunistenschwein“ wird sie durch die Wachhabenden beschimpft und dann wieder zurück in die Zelle gejagt.

Am anderen Morgen stellen die Aufseher eine Marschkolonne zusammen. Neben ihr eine Landstreicherin mit struppigen Haaren. Die schmächtige Frau gehörte früher einer Schaustellertruppe an. Zu uns zwei Frauen kamen noch ungefähr 30 Politische/Männer. Ihren lieben Sohn Karl sieht sie nicht. Hinzukamen noch drei Männer aus Pforta, die wegen wegen des Vebrechens der Homosexualität verhaftet worden waren. - „Es war eine große Schande über die Lehrer und Schüler der nationalpolitischen Erziehungsanstalt gekommen," schreibt Anna Possögel, "so wurden viele Verhaftungen dieser Intellektuellen vorgenommen.“ - Mit großem Polizeiaufgebot geht der Marsch vom Polizeigefängnis am Roonplatz zum Bahnhof. Ein Naziwächter schreit Anna in verächtlicher Stimmlage nach: „Aha, Rosa Luxemburg.“ Im ersten Moment empört über diese Frechheit, wird ihr beim Nachdenken klar: Die Rosa ist mein Vorbild. Mit Haltung schreitet sie mit der Kolonne durch die Stadt zum Bahnhof, wo ein Gefangenenzug, gekennzeichnet mit grauen Fahnen, auf sie wartet. In kleinen, niedrigen und vergitterten Abteilen mit anderen Frauen eingepfercht, erfolgt der Transport nach Halle.

Vom Bahnhof holt sie ein SS-Kommando mit der Grünen Minna ab. Im Polizeipräsidium von Halle erwarten sie besonders abends wieder erbärmliche Schreie. „Die SS-Männer schlugen die politischen Häftlinge, ein paar hätten die Internationale angestimmt. So ging es alle Tage, die schweren Rollkommandos ratterten im Hof, u[nd] immer mehr politische Gefangene wurden eingeliefert.“ (Anna Possögel) Viele Treppen nach oben unterm Dach werden sie eingesperrt. Die Politischen gehören meist der KPD an. Aber auch Zeugen Jehovas und die Schwestern vom Heiligen Herzen aus Konstanz am Bodensee sind unter den Gefangenen. Bei den Frauen und Mädchen sind die Kriminellen in der Überzahl. Wenn sich Anna recht erinnert, blieb sie etwa acht Tage im Polizeipräsidium von Halle.

Am Morgen des 2. Dezember 1935 verbringt man Anna zusammen mit anderen Häftlingen, wieder mit einem Gefangenenzug, in das Frauengefängnis Berlin, Barnimstraße. Ihr Rechtsbeistand verhält sich anständig zu ihr. Noch trägt sie die Hoffnung, dass ihre Strafe nicht so hoch ausfallen wird. Denn eine längere Haft kann sie sich überhaupt nicht vorstellen. Aber sie weiß nicht, dass ihr Anwalt so gut wie nichts ausrichten kann.

 

Der Prozess in Berlin                                      

Im Gerichtsgefängnis zu Naumburg erhält der Maurer Erich Russwurm, wohnhaft Siedlungshof 7, Mitglied der SPD seit 1930, für den 23. Dezember 1935 eine Vorladung in das Kriminalgerichtsgebäude in Berlin-Moabit, Turmstraße 91, vor den 5. Strafsenat des Kammergerichts.

 

Berlin-Moabit, Turmstraße 91 (historisch)

 

An diesem Tag führt man alle Gefangenen durch einen langen unterirdischen Gang zur Verhandlung in das Kriminalgerichtsgebäude. Hintereinander, in einer Reihe betreten der Verwaltungsgehilfe Max Römer, der Maurer Erich Russwurm (Siedlungshof 7), der Tischler Werner Krause (Siedlungshof 26), der Bürogehilfe Adolf Pieper (Weinbergweg 9), der Arbeiter Reinhold Lehmann (Flemminger Str. 20) und der neunzehnjährige Schriftsetzerlehrling Karl Possögel mit seiner Mutter (Kleine Wenzelstraße 9) den Gerichtssaal im Erdgeschoss, Zimmer 172. Anna sitzt hinter ihrem Sohn. Pünktlich erscheinen die „grausamen Hitlerjuristen“, „höhnisch grinsend sahen diese wohlgenährten, gut frisierten Nazirichter“ (Anna Possögel) auf sie herab.

Blick zum Reußenplatz
vom St. Wenzel (2005)

 

Den Angeklagten wird zur Last gelegt, „in Naumburg und anderen Orten in den Jahren 1933/35 das hochverräterische Unternehmen, mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt, die Verfassung des Reiches zu ändern, vorbereitet zu haben, und zwar indem die Tat darauf gerichtet war, zur Vorbereitung des Hochverrats einen organisatorischen Zusammenhalt herzustellen oder aufrecht zu erhalten.“ (Kammergericht 1936)

Max Römer vom Reußplatz 11 ist der Leiter der Gruppe. 1934 trifft er sich, unter anderem am Gustav-Adolf-Denkmal in Lützen, zur Absprache von antifaschistischen Aktionen mit Ferdinand Götze (Leipzig) und Müller (Leipzig). Ebenso bestehen organisatorisch-politische Verbindungen mit Thiel (Leipzig) und Gerhard Seidel (Leipzig) zum Zweck des Vertriebs illegaler Druckschriften. Im Sommer 1934 folgt ein Treffen mit Mitgliedern der Zeitzer KPD in Hohenleeden [Ortsbezeichnung laut Gerichtsschrift]. Wahrscheinlich handelt es sich um den Hohe(n) Leeden, südöstlich von Dornburg gelgen, heute Saale-Holzlandkreis im Land Thüringen.

In Zeitz arbeitet Max Römer mit Doktor Rudolf Agricola und Karl Grunert, geboren am 17. Februar 1906 in Zeitz, KPD, zusammen.

 

 

Rudolf Agricola (1900-1985), Handelslehrer, 1924 bis 1931 Stadtverordneter der SPD in Zeitz, 1931 bis 1933 SAP, 1933 Entlassung aus dem Schuldienst, Sommer 1933 Übertritt zur KPD und erste Verhaftung (September). Am 15., 16. und 17. April 1936 findet im Magdeburger Justizplast der Gerichtsprozess gegen Doktor Agricola und Genossen statt. Voraus ging im März und April 1935 in Zeitz eine gewaltige Verhaftungswelle gegen SAP, SPD und KPD Mitglieder. Im April 1936 verkündet der berüchtigte 5. Strafsenat des Kammergerichts Berlin in Magdeburg das Urteil*: 8 Jahre Haft wegen Hochverrat. Nach 1945 erfolgt der Beitritt zur SED, 1951-1953 Rektor der Universität Halle, Botschafter der DDR in Finnland und Professor an der Universität Greifswald.

* Neuer Massenprozess gegen Illegale. Neuer Vowärts. Karlsbad, den 19.4.1936, Seite 2

 

 

Auf dem Reußenplatz (2005)

 

Schier endlos erschienen Anna Possögel die Verhöre. Im Gerichtsurteil heisst es zu ihr: „In ihren politischen Reden brachte die Angeklagte zum Ausdruck, daß es mit dem Dritten Reich bald aus sei und dann das Vierte Reich käme, und im fünften Reiche kämen sie an die Regierung. Diese Bekundung des Zeugen Korduan ist durchaus glaubwürdig. Sie passt zu dem Charakter der Angeklagten und entspricht dem Eindruck, den die Angeklagte in der Hauptverhandlung machte.“ (Kammergericht 1936)

 

 

Auszüge aus der Anklageschrift

Das Ziel der Aktivität dieser politischen Widerstandsgruppe war der Wiederaufbau der illegalen SAP in Naumburg. Die hochverräterischen Ziele dieser Partei sind gerichtsbekannt.
Zum Tathergang heißt es: „Der Angeschuldigte [Max Römer] verteilte die Druckschriften hauptsächlich an die Mitangeschuldigten Karl Possögel, Werner Krause, Reinhold Lehmann, Erich Russwurm und Adolf Pieper.
„Im Februar 1934 erhielt der Angeschuldigte nach seinen Angaben aus Leipzig einen Brief, in dem er aufgefordert wurde, an einem bestimmten Tag nach Lützen zu kommen. Als Ausweis befand sich in dem Brief die Hälfte eines Bildes, das der Angeschuldigte mitbringen sollte. Der Angeschuldigte, der sofort das Gefühl hatte, dass es sich um eine SAP-Angelegenheit handelte, fuhr nach Lützen. Und traf hier mit einem gewissen Müller und Götz zusammen, die der Leipziger SAP angehörten. Die Leipziger Genossen forderten nun den Angeschuldigten auf, in Naumburg eine illegale SAP-Gruppe zu bilden, und sagten ihm zu, Naumburg mit illegalen Druckschriften zu beliefern.
Nach etwa 4 - 6 Wochen traf der Angeschuldigte nochmals mit Müller und Götz vereinbarungsgemäß zusammen und erhielt von ihnen illegale Druckschriften. Bei diesem Treff wurde vereinbart, daß in Naumburg auch Mitgliedsbeiträge kassiert werden sollten.
Der Angeschuldigte ist dann nach seinen Angaben noch zweimal mit Müller und Götz in Lützen zusammengekommen. Der letzte Treff soll im Herbst 1934 stattgefunden haben. An Druckschriften hat der Angeschuldigte nach seinen Angaben einmal 6 und ein andermal 8 bis 10 Stück erhalten. …
In der Wohnung des Angeschuldigten fanden auch regelmäßige Zusammenkünfte statt, bei denen über die politische Lage gesprochen wurde.“
Zu Krause stellt der Ermittlungsbericht des Staatsanwalts fest:

„Werner Krause wurde im Jahre 1931 Mitglied des Reichsbanners. Während derselben Zeit war er auch Mitglied des Sportvereins „Vorwärts“ … Im Mai 1935 übernahm er den Posten des Kassierers und hatte bis August 1935 RM 8,- eingenommen. Während dieser Zeit zahlte er selbst 2,- RM an Beträgen.“

Aus: Gerichtsprozess Römer

 

 

Karl ist gerade zwanzig Jahre alt, damit der Jüngste unter den Angeklagten. Er versucht durch seine Aussage die Mutter zu entlasten.

Zweimal unterbricht der Richter die Verhandlungen. In der zweiten Pause erhalten die Angeklagten in einer Zelle etwas Suppe zu essen. Am späten Nachmittag wird das Urteil verkündet. Zwei Angeklagte spricht man frei, die anderen erhalten hohe Freiheitsstrafen. Entsetzt nimmt Anna das Urteil zu ihrem geliebten Sohn auf. Vergebens stellt Karl den Antrag, die Strafe in eine Gefängnisstrafe umzuwandeln. Nach dem Ende der Verhandlung können Mutter und Sohn im Gerichtssaal noch kurz miteinander sprechen und voneinander Abschied nehmen.

 

 

Gerichtsprozess am 23. Dezember 1935 vor dem 5. Strafsenat des Kammergerichts im Kriminalgerichtsgebäude in Berlin-Moabit, Turmstraße 91, gegen Max Römer und Genossen

Zusammengestellt aus der Anklageschrift vom 24. September 1935 und dem Urteil vor dem 5. Strafsenat des Kammergerichts im Kriminalgerichtsgebäude in Berlin-Moabit, Turmstraße 91, ausgefertigt am 3. Februar 1936.

Verwaltungsgehilfe Max Römer aus Naumburg an der Saale, Reußenplatz 11, geboren am 4. Februar 1902 in Naumburg, verheiratet, vier Jahre Zuchthaus, Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Dauer von fünf Jahren.

Schriftsetzerlehrling Karl Possögel aus Naumburg an der Saale, Kleine Wenzelsstrße 9, geboren am 8. Dezember 1916 in Naumburg, ledig, drei Jahre Zuchthaus, Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Dauer von fünf Jahren.

Maurer Erich Russwurm (Bild links) aus Naumburg an der Saale, Siedlungshof 7, geboren am 21. Juli 1910 in Eisenach, ledig, zwei Jahre Zuchthaus.

Tischler Werner Krause aus Naumburg an der Saale, Siedlungshof 26, geboren am 26. Juni 1911 in Naumburg, ledig, zwei Jahre Zuchthaus.

Bürogehilfe Adolf Pieper aus Naumburg an der Saale, Weinbergweg 9, geboren am 22. Dezember 1897 in Weißenfels, freigesprochen.

Arbeiter Reinhold Lehmann, aus Naumburg an der Saale, Flemminger Str. 20, geboren am 10. Januar 1892, freigesprochen.

Anna Possögel, geborene Pietscher, aus Naumburg an der Saale, Kleine Wenzelstraße 9, geboren am 10. Juni 1890, ein Jahr und sechs Monate Gefängnis.

Das Urteil ist unterzeichnet von Kammergerichtsrat Dr. Taeniges als Vorsitzender und von den beisitzenden Richtern Kammergerichtsrat Dr. Crodel, Kammergerichtsrat Holtz, Amtsgerichtsrat Dr. Hückinghaus, Amtsgerichtsrat Dr. Randermann. Gerichtsassessor Imme als Beamter der Staatsanwaltschaft, Justizangestellter Beer als Urkundenbeamter der Geschäftsstelle.

Die Richter bemühten zur Urteilsbegründung [wieder] die §§ 80 Abs. II und §§ 83 Abs. I und II.

Die Anklageschrift vom 24. September ist unterzeichnet von Staatsanwalt Dr. Jung.

(Vgl. Kammergericht 1936)

 


 

Entlassung von Anna

Anna wird am 16. April 1937 aus der Strafanstalt Naumburg entlassen. Mit etwas mehr als 8 Reichsmark kommt sie wieder in das Hinterhaus in die Kleine Wenzelstraße 9. Einmal am Tag muss sie sich beim Kriminalsekretär Scholz melden. Willkürlich bestimmt er bis auf die Minute die Meldezeit. Mit einem Meldezettel betritt sie sein Dienstzimmer. „Hinaus“, brüllt Scholz, „grüßen Sie mit Heil Hitler!“ Anna bleibt. Er lässt sie dafür lange warten. Dann macht er auf dem Meldezettel seine Eintragung und nennt den neuen Termin. So geht das ein gutes Jahr. Scholz droht sie wieder einzusperren, falls sie nicht mit „Heil Hitler“ grüße. Als das nicht fruchtet, verspricht er, sie dann von der Meldepflicht zu befreien. Sie macht es nicht. Karl wäre darüber allzu enttäuscht gewesen, denkt sie tief bewegt.

 


Karl in Buchenwald

Karl Possögel (Zeichnung, historisch)

 

Es ist Juli 1937, als sie die Genehmigung erhält, ihren Sohn im Gefangenenlager Elbregulierung Dessau-Roßlau zu besuchen. Ein und ein drei viertel Jahr sind vergangen, als sie das letzte Mal miteinander im Gerichtssaal sprachen. Nun trennt sie ein breiter Tisch aus dickem Holz. Neben ihr ein Wärter, der sie nicht aus den Augen lässt und dem kein Wort entgeht. Abgemagert und bleich sieht ihr Karl aus, denkt sie. Immer wieder unterbrechen starke Hustenanfälle seine Worte.

Dann berichtet er über seine Arbeit als Technischer Zeichner in einer unbeheizten Baracke. Zum Abschied tritt er hinter dem Tisch hervor und küsst seine Mutter heftig.

Noch zweimal darf Anna Possögel ihren Sohn besuchen. Schon glaubt sie, Karl werde im August 1938 entlassen. Doch die Nazis verschleppen ihn in das KZ Buchenwald, wo er bis zum August 1944 inhaftiert bleibt.

 

Karl wälzt sich vom Fieber geschüttelt hin und her. An seinem Bett im Krankenhaus Naumburg wacht seine Mutter. Furchtbare Schmerzen peinigen ihn. „Mütterchen, wir müssen von hier weg“, spricht er im Trance. „Sie werden dich schlagen, und ich kann nicht sehen, dass man meine Mutter schlägt.“ Karl bittet um Papier mit Stift und kritzelt Zusammenhangloses darauf: „Ich bin ja hier ein Gefangener!“ Wenn die Mutter ihn beruhigen will, legt er seinen Finger auf den Mund. Dann schläft er wieder.

 

 

Aus dem Einlieferungsbuch
des Konzentrationslagers Buchenwald:

Nr. 5933, eingeliefert 8. September 1938, 18 Uhr, Karl Possögel, geboren 8. Dezember 1916 in Naumburg, Schriftsetzer, Naumburg, Kleine Wenzelstraße 9, ledig, deutsch, von Halle zugeführt.

 

Fausthiebe, Rippenstöße und Fußtritte gehören in Buchenwald zum täglichen Umgang mit den Gefangenen. Die Arbeit im Steinbruch war eine Tortur. Mit unsagbaren Anstrengungen bringt Karl die schweren Steine mit der Karre den steilen, ausgefahrenen Weg hinauf. Nur der Zusammenhalt mit den Genossen hilft, das Grauen zu überstehen. Beim Appell müssen die Männer mit dem roten Winkel zusehen, wie SS-Wachen über die Siege Hitlers jubeln. Je mehr Länder Deutschland unterjocht, desto mehr Ausländer internieren die Nazis in Buchenwald, darunter Österreicher, Tschechen, Polen, Holländer, Franzosen, Dänen, Norweger und Jugoslawen. Um die Sommerwende 1942 erfahren sie vom Überfall Hitlers auf Russland. Was wird jetzt werden? Wieder verkünden die Lautsprecher im Lager Meldungen von den deutschen Siegen. Als die Ostfront, der Vormarsch der Wehrmacht, zum Stehen kommt, tritt Stille ein. Stalingrad. Aber auch im Konzentrationslager ist der Winter 1941/42 außerordentlich hart.

Im September 44 kommandiert man Karl zum Strafbataillon 999. Am 18. März 1945 gerät er in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Dann kommt er mit dem Kriegsgefangenentransport nach Nordfrankreich und weiter nach England. Endlich erhält seine Mutter Nachricht vom Roten Kreuz: Karl lebt.

 

Schon viele Tag pflegt Anna jetzt ihren Sohn Karl im Krankenhaus Naumburg. Am Vorabend ihres Geburtstages soll sie nach Hause gehen, um die erforderlichen Dinge vorzubereiten. Vor zehn Uhr brauchst du nicht da zu sein, weil ich zum Röntgen muss, deutet er der Mutter beim Abschied.


Heimkehr

Im schrecklich kalten Januar 1947 kehrt Karl nach Naumburg zurück. Auf dem Rücken trägt er einen Seesack. Darin ist sein ganzes Hab und Gut. Anna ist überglücklich. Nach einigen Tagen Erholung fährt er in der Kälte mit dem Fahrrad bis nach Kölleda und Magdeburg, um Essen

Zulassung zum Studium

zu beschaffen. Er engagiert sich politisch, spricht auf Versammlungen. Mit großem Elan bereitet er sich im Frühjahr 1947 auf sein Studium an der Universität Leipzig vor. Im Studentenrat arbeitet er mit. Jeden Montag früh fährt er nach Leipzig und kehrt am Sonnabend nach Naumburg zurück.

 

 

Der Tod von Karl

Als Anna, nachdem sie seit vielen Tagen wieder einmal zu Hause geschlafen hatte, am 10. Juni, dem Tag ihres siebenundfünfzigsten Geburtstages, wieder in das Krankenhaus Naumburg kommt, stehen der Arzt und der Verwalter des Krankenhauses vor dem Zimmer von Karl. Der Verwalter sagt: „Fassen Sie sich. Karl ist zusammengebrochen.“ Das war Viertel nach 10 Uhr. Anna sieht ihren Sohn tot auf dem Bett liegen.

 

 

Mittelschullehrer Richard Brechling, geboren am 31. Juli 1894, Camburger Straße 2 a, später Schönburger Straße 14, um 1939 Konrektor der Städtischen Mittelschule für Knaben und Mädchen, Eupener Straße 1b.

 

Noch am selben Tag kommt der von Karl so verehrte Lehrer Richard Brechling ins Krankenhaus, um ihm ein Buch von Dostojewski zu bringen. Von der Krankenschwester erfährt er, dass Karl verstorben ist. Sogleich sucht er Anna zu Hause auf, trifft sie aber nicht an.

Die genauen Ursachen des Todes von Karl sind nicht geklärt. Ob es eine Embolie, Erschöpfung oder Kreislaufkollaps war, ist unklar.

„Nun hatte ich“, erinnert sich Anna, „die Sorge um Karls Bestattung.“ Familie Schmidt tröstet sie und hilft, wo sie nur kann.

An einem sonnigen Junitag 47 bettet man Karl auf dem Friedhof an der Weißenfelser Straße zu seiner letzten Ruhe. Vertreter des Ministeriums, Leipziger Studenten, Staatsangestellte, der Betriebsdirektor von Leuna, seine Freunde und Genossen sind erschienen. Ministerialdirektor Otto Kipp hält die Grabrede. Arbeiterchöre singen:

Ein Sohn des Volkes
wollte er sein und bleiben.

 

 

Einlieferungsbuch vom Konzentrationslager Buchenwald. Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Archiv, Weimar Buchenwald

[Gerichtsprozess Römer] Der Oberstaatsanwalt beim Kammergericht. 10.0.Js. 226/35. Berlin W 57, den 24. September 1935, Elholzstraße 32, Geheim. An den Herrn Vorsitzenden des 5. Strafsenats des Kammergerichts, Anklageschrift, Dokument, unveröffentlicht. Siehe auch: Kammergericht, Geschäftsnummer: 10. 0.Js. v. 91.35. 3. Februar 1936. Bundesarchiv Berlin, NJ 15.216 (auch zitiert als "Kammergericht 1936")

Neuer Massenprozess gegen Illegale. "Neuer Vowärts". Karlsbad, den 19.4.1936, Seite 2

Possögel, Franz (geboren 23. September 1879): Auszug aus einem Brief vom 1. September 1962, Naumburg, unveröffentlicht
Anmerkung: Franz Possögel, geboren am 23. September 1879, Sohn des Ziegeldeckers Friedrich Possögel Naumburg, ist der Vater von Karl Possögel. Er nennt in seinen Notizen ein anderes Datum für die Verhaftung seines Sohnes. Zitat: „Am 5. Juni 1935 wurde meine ganze Familie verhaftet. Es erschienen drei Gestapobeamte aus Berlin und zwei aus Naumburg. Sie durchwühlten die ganze Wohnung und beschlagnahmten meine sämtlichen Bücher und Zeitschriften, auch meines Sohnes Sachen verschonten sie nicht. Ob sie Waffen bei uns vermutet hatten? Während man meine Frau und meinen Sohn Karl in Haft behielt, wurde ich entlassen, doch am nächsten Tag schon wieder geholt. Es war verraten worden, daß noch eine Kiste mit Flugschriften in einem außerhalb meiner Wohnung befindlichen Raum untergestellt worden war. In der Nacht hatte ich aber alles, was politisch war, beiseite geschafft. Diese Kiste und einen Stapel alter Zeitschriften transportierten sie weg. Man ließ mich wieder frei. Einer von der Gestapo rief mir hinterher: `Dich alten Fuchs werden wir schon noch fangen.` Von dieser Zeit an war ich unter Polizeiaufsicht gestellt.“ - Man kann anhand der zitierten Aussagen von Anna Possögel und Fanz Possögel durchaus Überlegungen anstellen, wie die unterschiedliche Datierung der Verhaftung von Karl Possögel zustandekommen. Leider konnte der Grund für die unterschielcihen Angaben nicht logisch schlüssig aufgeklärt werden.

Possögel, Anna: Vor der Verhaftung [Aufzeichnungen]. Stiftung Gedenkstätten Bu-chenwald und Mittelbau-Dora, Archiv Weimar Buchenwald, 31/653

Possögel, Anna: Krankheit [Aufzeichnungen]. Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Archiv, Weimar Buchenwald, 31/653

Possögel, Anna: Bericht, handschriftlich. Unterzeichnet mit "Pampfer-Possögel", ohne Datum, nach 1947 geschrieben. Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Archiv Weimar Buchenwald, 31/653

[Possögel, zu Karl] Ein Kämpferschicksal. Dem Andenken unseres früh verstorbenen Genossen Karl Possögel gewidmet. Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Archiv Weimar Buchenwald, 31/653

[Stapo 1933k] Lagebericht der Staatspolizeistelle Halle für Juni 1935. In: Die Lageberichte der Geheimen Staatspolizei zur Provinz Sachsen 1933 bis 1936. Herausgegeben von Hermann-J. Rupieper und Alexander Sperk, Band 2: Regierungsbezirk Merseburg, mdv, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2004, Seite 445 ff.

[Stapo 1933l] Lagebericht der Staatspolizeistelle Halle für August 1935. In: Die Lageberichte der Geheimen Staatspolizei zur Provinz Sachsen 1933 bis 1936. Herausgegeben von Hermann-J. Rupieper und Alexander Sperk, Band 2: Regierungsbezirk Merseburg, mdv, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2004, Seite 475 ff.

 

 

* Bild von Max Römer. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Merseburg, K 6 VdN Halle, Nummer  4443, Blatt 34

** Ausschnitt, Anna Possögel mit ihrem Sohn Karl, unveröffentlichte Vorlage (ohne Angabe des Urhebers)

 

Ich bedanke mich für die freundliche Unterstützung durch das Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg bei der Suche und Überlassung des Bildes von Max Römer (Naumburg). - März 2012

Vielen Dank den MitarbeiternInnen des Archivs der Stitung Gedenkstätten Buchenwald und Dora für die Unterstützung dieses Projekts im Jahr 2006 und 2007.


Autor:
Detlef Belau

Geschrieben: August 2007.
Aktualisiert: 17. Juni 2008

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