Fürstenentscheid
Unweit der Biologischen Reichsanstalt [1, 2] entsteht in der Weißenfelser Straße eine provisorische Jugendherberge. Einst waren sie an die Firma Peter & Moritz vermietet. Im oberen Stockwerk befindet sich ein Raum von 12 mal 23 Metern. 1938 heißt dieses Haus Dietrich-Eckardt-Jugendherberge und hat 180 Betten. Damit erledigt sich die Einrichtung einer Jugendherberge im Marientor. Sie war in der Stadtverwaltung heftig mit Pro und Kontra diskutiert worden. Besonders Walter Hege [1] setzt sich vergeblich für diesen Vorschlag ein. Die Stadtverordneten lehnten ab. Außerdem verweigerte der Verband der Jugendherbergen Mittelelbe den Zuschuss. Von den geplanten 76 Wohnungen auf dem Georgenberg sind bis Mitte 1926 nur die Eckhäuser gebaut. Der Schwarze Adler - eine traditionelle Versammlungsstätte der Sozialdemokraten - ist noch nicht abgerissen. Schwierigkeiten bereiten der Stadt die Finanzierung der Neuanlage des Bauernweges und die Straßenzuführung vom Bahnhof kommend. Die Städtische Siedlungsgesellschaft beginnt am Mägdestieg mit dem Bau von achtzehn Familienwohnhäusern. Am nördlichen Promenadenweg stellt die Gemeinnützige Baugenossenschaft einen Häuserblock mit vier Einfamilienhäusern fertig. Der Bau eines Filmparks auf dem Areal des ehemaligen Thüringer Felsenkellers im Spechsart zerschlägt sich 1928 endgültig. An der Blücherstraße hinter der Kadette oder in der Lepsiusstraße entstehen Privatbauten. Der Neidschützer Weg wird instand gesetzt.
Am Kuchenhaus trifft sich im April `26 der Naumburger Motorrad-Klub, der schon zwei Jahre besteht.
Das politische Naumburg blickt 1926 gespannt auf die
Am 23. Januar beantragt die Liga der Menschenrechte nach Absprachen mit der KPD, SPD und dem ADGB im Reichstag eine Volksabstimmung über die entschädigungslose Enteignung der bis 1918 regierenden deutschen Fürstenhäuser. 12 ½ Millionen Wähler tragen sich vom 4. bis 17. März in die Listen zum Volksbegehren ein. Ein Sturm der Aufregung erfasst den Reichstag, als der sich am 30. April 1926 mit dem Fürstengesetz befasst. Schliesslich wird der Volksentscheid auf den
festgesetzt. In der Vorbereitung treten die politischen Unterschiede und Gegensätze in der Stadt deutlich hervor. Einen Tag vor der Volksabstimmung fordert das Naumburger Tageblatt:
Spielmannszug vom
Auf dem Markt demonstriert das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold zusammen mit dem Rotfrontkämpferbund. Darauf folgt ein Demonstrationszug von Stahlhelm und Königin Luise Bund mit 1 500 Teilnehmern. Doppelt soviel wie bei den Linken, berichtet das Naumburger Tageblatt am Montag. Rechtsanwalt Loewe (Martinstraße 4) vom Stahlhelm beleuchtet in seiner Ansprache die nicht abzuleugnenden Verdienste der Hohenzoller. Die Organisatoren des Volksentscheides charakterisiert er mit hinter Moskau stehend. Republikweit trugen sich von den 39,7 Millionen Wahlberechtigen 15,5 Millionen in die Stimmlisten ein. Viele Wahlberechtigten wurden terrorisiert und von der Ausübung des Stimmrechts abgehalten. "Die wirtrschafltiche Macht des Großgrundbesitzes auf dem flachen Lande [Ostpreussen, Pommern, Mecklenburg] ist bis zum äussersten ausgenutzt worden", berichtet die Magdeburger Volksstimme drei Tage nach der Abstimmung. Borsig in Berlin hat für die Arbeiter seiner Firma am Wahltag auf Geschäftskosten einen Ausflug organisiert. Evangelische Pfarrer haben Kirchenausflüge veranstaltet. Katholische Bischöfe schüchterten katholische Wahlberechtige ein. Mit "Räuber und Diebe" attakierten die "reaktionären Parteien und die Agenten der Fürsten" den "Vormarsch des Rechts".
Am 20. Juni 1926 votierten 14 440 779 Millionen Wähler für die Enteignung der Fürsten. Das sind etwa 36 Prozent der Wahlberechtigten, womit der Gesetzesentwurf (Enteignungsantrag) abgelehnt war. Die sozialdemokratische Presse nennt es ein Erfolg der Fürstendiener. Was wird aber aus den 14,4 Millionen? "Dieser Parlamentarismus, der längst seine eigne Karikatur geworden ist", stellt Kurt Tucholsky 1930 bestürzt fest, "erstarrt immer mehr in törichter und leerer Geschäftsroutine. . Der Rest fällt glatt unter den Tisch - so, wie die Meinung der vierzehn Millionen Deutschen, die gegen die skandalöse Fürstenabfindung gestimmt haben, unter den Tisch gefallen und nicht einmal in der Höhe der Abfindung berücksichtigt worden ist." Den Wahlberechtigten war in Naumburg bei der Abstimmung die Frage gestellt worden:
Von den 19 259 Wahlberechtigten der Stadt Naumburg antworten am Wahltag 4 316 Bürger mit Ja. (Im Wahlkreis Naumburg-Land: 9783 / 1178.) Bei der Auswertung taucht eine aufschlussreiche Differenz auf: Die Summe der Ja-Stimmen ist kleiner als die Summe der Stimmen, die bei den letzten Wahlen für KPD und SPD abgegeben wurden. Die Abstimmung stand vor allem unter dem Einfluss der DNVP und des Stahlhelms, die sich der Pflege des feudalen Eigentums besonders verpflichtet fühlten. Hingegen war die Demokratische Partei (DDP) von untergeordneter Bedeutung. Sie hatte ihren Mitgliedern die Entscheidung freigegeben. Die politische Kampagne zum Volksentscheid verfestigt die irrationale Angst vor der Vergesellschaftung des Produktionseigentums in weiten Kreisen der Bevölkerung, indem die Fürstenenteignung als Lehrstück für den zu erwartenden Enteignungsterror der kommunistischen Horden angekündigt wurde. Und des Nachts träumt der Deutschnationale, dass die Roten Garden mit dem Hackebeil durch die Schlafzimmer kommen. Ängste, die die Naumburger Führer des Nationalsozialismus nach einem festen Ritual mit dem intendierten Effekt der populistischen Legitimation der kommunalen Diktatur mobilisieren und steigern. Schließlich befreien die Nationalsozialisten dann die Naumburger im März 1933 von der roten Pest. Nicht wenige Artikel zur Fürstenabfindung aus dem Klassenkampf (Halle) oder der Roten Fahne (Berlin) erweisen sich als ungeeignet, dass Vertrauen der Hausbesitzer, Kleinunternehmer oder Beamten zu gewinnen. Oft wirken diese Veröffentlichungen starrköpfig. Es fehlt der Versuch, die Argumente der Anderen durch einen Perspektivenwechsel aufzugreifen und zu erörtern. Hierzu müssten die sozialen Interessen des politischen Widersachers genauer und differenzierter analysiert werden. Aber die Gegner der Linken tun sich mit der Streitkultur ebenso schwer. Ihr Antworten sind ein einziges Agitprop-Stakkato. So schreitet die verhängnisvolle, mit irrationalen Ängsten durchsetzte moralisch-politische Spaltung der Stadtgesellschaft voran. Für die Nationalsozialisten bietet dies die Indikation, um den Klassenkampf mit Volksgemeinschaft und Kraft durch Freude zu therapieren. Für die politisch Anpassungswilligen geht es nach 1933 aufwärts. Die Nonkonformisten, Uebelhoer nennt sie 1937 in einer Rede die Asozialen, entsorgen die Nationalsozialisten im Konzentrationslager. Im Reich sind dies nach Berechnungen von Eugen Kogon (1903-1987) etwa eine Million Bürger ....
Nun auf Betrogene zur Entscheidungsschlacht. "Volksstimme. Tageszeitung der SozialdemokratiSchen Partei". Magdeburg, Sonntag, den 20. Juni 1925 Wrobel, Ignaz [alias Kurt Tucholsky]: Exodus. Die Weltbühne, XVI. Jahrgang, Nummer 49, Berlin den, 2. Dezember 1930, Seite 839 Kogon, Eugen: Der SS-Staat. Kindler Verlag Reinbek bei Hamburg, 1974 (Erstausgabe 1946) "Räuber und Diebe". "Volksstimme", Magdeburg, den 23. Juni 1926 |
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April 2005. Aktualisiert: 3. Juni 2008 |