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Fürstenentscheid


Nach der schweren ökonomischen Krise (Inflation) belebt sich die Wirtschaft der Stadt wieder. Achteinhalb Jahre erfolgte der Verkauf von Brot und Mehl nur in Zwangsbewirtschaftung. Im Oktober 1926 werden endlich die Brotmarken abgeschafft. Die Stadtverwaltung erlässt eine Neuordnung der Elektrizi-tätsversorgung. Spielplätze werden gebaut. Die vom Vaterländischen Frauenverein 1921 geschaffene Waldliegehalle im Sperlingsholz richtet man für die Versorgung von dreißig Tuberkulosegefährdete Kindern wieder her. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei lädt zum 16. Mai 1926 ins Schützenhaus zum Thema: Warum Arbeitslosigkeit? Warum Massenelend?

 

Adolf Hitler nennt Dietrich Eckardt (geboren 1868 in Neumark/Oberpfalz, gestorben 1923) seinen "väterlichen Freund". In "Mein Kampf" heißt über ihn es: "Als der Besten einer hat er sein Leben dem Erwachen seines, unseres Volkes gewidmet, im Dichten und Denken und am Ende in der Tat." Nach einem abgebrochenen Medizinstudium in Erlangen lebte er von 1899 bis 1911 in Berlin als freier Schriftsteller. Er propagierte das "Deutschtum", wendet sich gegen das "Novemberverbrechen" und unterstützte von Anbeginn die nationalsozialistische Bewegung.

 

Unweit der Biologischen Reichsanstalt [12] entsteht in der Weißenfelser Straße eine provisorische Jugendherberge. Einst waren sie an die Firma Peter & Moritz vermietet. Im oberen Stockwerk befindet sich ein Raum von 12 mal 23 Metern. 1938 heißt dieses Haus Dietrich-Eckardt-Jugendherberge und hat 180 Betten.

Damit erledigt sich die Einrichtung einer Jugendherberge im Marientor. Sie war in der Stadtverwaltung heftig mit Pro und Kontra diskutiert worden. Besonders Walter Hege [1] setzt sich vergeblich für diesen Vorschlag ein. Die Stadtverordneten lehnten ab. Außerdem verweigerte der Verband der Jugendherbergen Mittelelbe den Zuschuss.

Von den geplanten 76 Wohnungen auf dem Georgenberg sind bis Mitte 1926 nur die Eckhäuser gebaut. Der Schwarze Adler - eine traditionelle Versammlungsstätte der Sozialdemokraten - ist noch nicht abgerissen. Schwierigkeiten bereiten der Stadt die Finanzierung der Neuanlage des „Bauernweges“ und die Straßenzuführung vom Bahnhof kommend. Die „Städtische Siedlungsgesellschaft“ beginnt am Mägdestieg mit dem Bau von achtzehn Familienwohnhäusern. Am nördlichen Promenadenweg stellt die Gemeinnützige Baugenossenschaft einen Häuserblock mit vier Einfamilienhäusern fertig.

Der Bau eines Filmparks auf dem Areal des ehemaligen Thüringer Felsenkellers im Spechsart zerschlägt sich 1928 endgültig. An der Blücherstraße hinter der Kadette oder in der Lepsiusstraße entstehen Privatbauten. Der Neidschützer Weg wird instand gesetzt.

 

Kuchenhaus (um 1925)

Am 13. Oktober 1858 [nach andere Angaben: 1857] wird in der heutigen Badstraße das Gartenlokal Kuchenhaus eröffnet. Nach dem Tod seines Eigentümers August Pätzolds im Jahre 1895 wird es durch seinen Nachfolger Herrn Liebau zu einer vollwertigen Gaststätte umgebaut. Am 1. Oktober 1954 nimmt hier eine Großbäckerei der Konsumgesellschaft ihren Betrieb auf.

 

Am Kuchenhaus trifft sich im April `26 der Naumburger Motorrad-Klub, der schon zwei Jahre besteht.

 

Das politische Naumburg blickt 1926 gespannt auf die

Fürstenenteignung.

Am 23. Januar beantragt die Liga der Menschenrechte nach Absprachen mit der KPD, SPD und dem ADGB im Reichstag eine Volksabstimmung über die entschädigungslose Enteignung der bis 1918 regierenden deutschen Fürstenhäuser. 12 ½ Millionen Wähler tragen sich vom 4. bis 17. März in die Listen zum Volksbegehren ein. Ein Sturm der Aufregung erfasst den Reichstag, als der sich am 30. April 1926 mit dem Fürstengesetz befasst. Schliesslich wird der Volksentscheid auf den

20. Juni 1926

festgesetzt. In der Vorbereitung treten die politischen Unterschiede und Gegensätze in der Stadt deutlich hervor. Einen Tag vor der Volksabstimmung fordert das Naumburger Tageblatt:

„Nichtbeteiligung am Enteignungs-Entscheide!“.

„Wer zur Abstimmung geht und mit Ja stimmt, der verschreibt sich und seine Sache dem Bolschewismus.“

 

Spielmannszug vom
Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold

Naumburg (um 1928)

 

Auf dem Markt demonstriert das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold zusammen mit dem Rotfrontkämpferbund. Darauf folgt ein Demonstrationszug von Stahlhelm und Königin Luise Bund mit 1 500 Teilnehmern. Doppelt soviel wie bei den Linken, berichtet das Naumburger Tageblatt am Montag. Rechtsanwalt Loewe (Martinstraße 4) vom Stahlhelm beleuchtet in seiner Ansprache die nicht abzuleugnenden Verdienste der Hohenzoller. Die Organisatoren des Volksentscheides charakterisiert er mit hinter Moskau stehend.

Republikweit trugen sich von den 39,7 Millionen Wahlberechtigen 15,5 Millionen in die Stimmlisten ein.

Viele Wahlberechtigten wurden terrorisiert und von der Ausübung des Stimmrechts abgehalten. "Die wirtrschafltiche Macht des Großgrundbesitzes auf dem flachen Lande [Ostpreussen, Pommern, Mecklenburg] ist bis zum äussersten ausgenutzt worden", berichtet die Magdeburger Volksstimme drei Tage nach der Abstimmung. Borsig in Berlin hat für die Arbeiter seiner Firma am Wahltag auf Geschäftskosten einen Ausflug organisiert. Evangelische Pfarrer haben Kirchenausflüge veranstaltet. Katholische Bischöfe schüchterten katholische Wahlberechtige ein. Mit "Räuber und Diebe" attakierten die "reaktionären Parteien und die Agenten der Fürsten" den "Vormarsch des Rechts".

 

 

Volksstimme. Tageszeitung der Sozialdemokratischen Partei,
Magdeburg, Sonntag, den 20. Juni 1926, Seite 1

 

Am 20. Juni 1926 votierten 14 440 779 Millionen Wähler für die Enteignung der Fürsten. Das sind etwa 36 Prozent der Wahlberechtigten, womit der Gesetzesentwurf (Enteignungsantrag) abgelehnt war. Die sozialdemokratische Presse nennt es ein Erfolg der Fürstendiener.

Was wird aber aus den 14,4 Millionen? "Dieser Parlamentarismus, der längst seine eigne Karikatur geworden ist", stellt Kurt Tucholsky 1930 bestürzt fest, "erstarrt immer mehr in törichter und leerer Geschäftsroutine. …. Der Rest fällt glatt unter den Tisch - so, wie die Meinung der vierzehn Millionen Deutschen, die gegen die skandalöse Fürstenabfindung gestimmt haben, unter den Tisch gefallen und nicht einmal in der Höhe der Abfindung berücksichtigt worden ist."

Den Wahlberechtigten war in Naumburg bei der Abstimmung die Frage gestellt worden:

Soll der im Volksbegehren verlangte Entwurf eines Gesetzes über Enteignung der Fürstenvermögen Gesetz werden?

Von den 19 259 Wahlberechtigten der Stadt Naumburg antworten am Wahltag 4 316 Bürger mit Ja. (Im Wahlkreis Naumburg-Land: 9783 / 1178.)

Bei der Auswertung taucht eine aufschlussreiche Differenz auf: Die Summe der Ja-Stimmen ist kleiner als die Summe der Stimmen, die bei den letzten Wahlen für KPD und SPD abgegeben wurden.

Die Abstimmung stand vor allem unter dem Einfluss der DNVP und des Stahlhelms, die sich der Pflege des feudalen Eigentums besonders verpflichtet fühlten. Hingegen war die Demokratische Partei (DDP) von untergeordneter Bedeutung. Sie hatte ihren Mitgliedern die Entscheidung freigegeben.

Die politische Kampagne zum Volksentscheid verfestigt die irrationale Angst vor der Vergesellschaftung des Produktionseigentums in weiten Kreisen der Bevölkerung, indem die Fürstenenteignung als Lehrstück für den zu erwartenden Enteignungsterror der kommunistischen Horden angekündigt wurde. Und des Nachts träumt der Deutschnationale, dass die Roten Garden mit dem Hackebeil durch die Schlafzimmer kommen. Ängste, die die Naumburger Führer des Nationalsozialismus nach einem festen Ritual mit dem intendierten Effekt der populistischen Legitimation der kommunalen Diktatur mobilisieren und steigern. Schließlich befreien die Nationalsozialisten dann die Naumburger im März 1933 von der roten Pest.

Nicht wenige Artikel zur Fürstenabfindung aus dem Klassenkampf (Halle) oder der Roten Fahne (Berlin) erweisen sich als ungeeignet, dass Vertrauen der Hausbesitzer, Kleinunternehmer oder Beamten zu gewinnen. Oft wirken diese Veröffentlichungen starrköpfig. Es fehlt der Versuch, die Argumente der Anderen durch einen Perspektivenwechsel aufzugreifen und zu erörtern. Hierzu müssten die sozialen Interessen des politischen Widersachers genauer und differenzierter analysiert werden. Aber die Gegner der Linken tun sich mit der Streitkultur ebenso schwer. Ihr Antworten sind ein einziges Agitprop-Stakkato.

So schreitet die verhängnisvolle, mit irrationalen Ängsten durchsetzte moralisch-politische Spaltung der Stadtgesellschaft voran. Für die Nationalsozialisten bietet dies die Indikation, um den Klassenkampf mit Volksgemeinschaft und Kraft durch Freude zu therapieren. Für die politisch Anpassungswilligen geht es nach 1933 aufwärts. Die Nonkonformisten, Uebelhoer nennt sie 1937 in einer Rede „die Asozialen“, entsorgen die Nationalsozialisten im Konzentrationslager. Im Reich sind dies nach Berechnungen von Eugen Kogon (1903-1987) etwa eine Million Bürger ....

 

Nun auf Betrogene zur Entscheidungsschlacht. "Volksstimme. Tageszeitung der SozialdemokratiSchen Partei". Magdeburg, Sonntag, den 20. Juni 1925

Wrobel, Ignaz [alias Kurt Tucholsky]: Exodus. Die Weltbühne, XVI. Jahrgang, Nummer 49, Berlin den, 2. Dezember 1930, Seite 839

Kogon, Eugen: Der SS-Staat. Kindler Verlag Reinbek bei Hamburg, 1974 (Erstausgabe 1946)

"Räuber und Diebe". "Volksstimme", Magdeburg, den 23. Juni 1926

Autor:
Detlef Belau

Geschrieben: April 2005. Aktualisiert: 3. Juni 2008
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